TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/25 W159 2199237-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.02.2021
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Entscheidungsdatum

25.02.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W159 2199237-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.05.2018, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.09.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III bis VI des bekämpften Bescheides werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger von Afghanistan und der Volksgruppe der Hazara zugehörig, zum Zeitpunkt der Einreise minderjährig, nunmehr volljährig, gelangte (spätestens) am 12.06.2016 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am gleichen Tag erfolgte auch noch die Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion XXXX . Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass er Afghanistan aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlassen habe. Die Taliban seien in der Wohngegend sehr aktiv gewesen. Es habe Anschläge und Selbstmordanschläge gegeben.

Die Obsorge für den minderjährigen Beschwerdeführer wurde zur Gänze mit 01.09.2016 dem XXXX übertragen.

Am 20.04.2018 erfolgte die Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich. Zu seinem Leben in Österreich befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass seine Patin und sein Betreuer ihn im Alltag unterstützen würden. Er habe auch Freunde. Seine Patin würde XXXX heißen und sie würden sich etwa zweimal die Woche zum Lernen treffen. Zurzeit würde er einen Basisbildungskurs besuchen.

Befragt gab der Beschwerdeführer an, er stamme aus der Provinz Ghazni, Distrikt XXXX , dem Dorf XXXX . Er könne keine Dokumente vorlegen bzw. nachschicken lassen, er habe niemanden mehr in Afghanistan. Er wisse auch nicht, wo sich seine Familie zurzeit aufhalten würde und hätte auch keinen Kontakt zu ihnen. Er habe die Koranschule besucht und habe diese im Alter von etwa elf Jahren verlassen. Er habe keinen Beruf erlernt. Sein Vater sei Bauer gewesen und er habe seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Er habe sich um die Kühe gekümmert. Am Hof hätte auch der Onkel väterlicherseits gelebt. Sein Onkel XXXX hätte einen Traktor gehabt und mit diesem Treibstoff geholt. Die Arbakis hätten auch beliefert werden wollen. Als die Taliban das Gebiet in Beschlag genommen hätten, hätten sie den Onkel verdächtigt für die Arbakis zu arbeiten und ihn so wie die Arbakis getötet.

Die Taliban hätten auch seinen Vater mitgenommen, um ihn zu zwingen für sie zu arbeiten. Die Dorfältesten hätten sowie der Vater zugestimmt mit den Taliban zusammenzuarbeiten, weswegen der Vater freigekommen sei. Der Vater hätte für die Taliban spionieren und auf dem Weg Bomben legen sollen. Nachdem der Vater freigelassen worden sei, sei die Familie geflüchtet.

Befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe mit seiner Familie etwa bis März 2015 in seinem Heimatdorf gelebt und danach eineinhalb Jahre im Iran. Um eine Ausbildung zu erhalten, habe er den Iran verlassen.

Der bestellte Obsorgeberechtigte nahm am 04.05.2018 zu dem LIB Stellung. Es wurde grundsätzlich auf die Verschlechterung der Lage und die Ausweitung der geographischen Reichweite der Taliban in Afghanistan hingewiesen. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei Ghazni um eine volatile Provinz handeln würde.

Es wurde aufgezeigt, dass der Beschwerdeführer als außenordentlicher Schüler die Neue Mittelschule besuche und auch an zahlreichen Alphabetisierungs-, Deutsch- und Fortbildugskursen teilgenommen habe. Zurzeit würde er einen Basisbildungskurs als Vorbereitung auf den Externisten Pflichtschulabschluß besuchen und eine Beschäftigung als Programmierer anstreben.

Es wurden eine Schulbesuchsbestätigung Neue Mittelschule vom 30.06.2017, ein Zertifikat XXXX vom 21.12.2017, eine Teilnahmebestätigung ÖIF Werte- und Orientierungskurs vom 27.03.2018, eine Kursbesuchsbestätigung XXXX vom 05.04.2018, ein Sozialbericht vom 06.04.2018, eine Teilnahmebestätigung XXXX vom 12.04.2018, ein Empfehlungsschreiben XXXX vom 15.04.2018 und ein Empfehlungsschreiben XXXX vom 16.04.2018 vorgelegt.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 24.05.2018, Zl. XXXX wurde unter Spruchpunkt I der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchpunkt III ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VI eine Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.

In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt, die Beweismittel aufgelistet sowie Feststellungen insbesondere zum Herkunftsstaat getroffen.

In der Beweiswürdigung wurde insbesondere hervorgehoben, dass das Vorbringen gesteigert und durch keinerlei Beweismittel untermauert worden sei. Das Fluchtvorbringen sei für die Behörde nicht glaubhaft, weil der Beschwerdeführer bei der Vernehmung wechselnde und widersprüchliche Angaben gemacht hätte, bzw. das Vorbringen nicht nachvollziehbar vorgetragen hätte. In entschedenden Frage habe der Beschwerdeführer verschleiernde Aussagen getätigt und sei klärende Antworten schuldig geblieben. Der Beschwerdeführer habe mangelndes Interesse am Verfahrensablauf gezeigt.

Im Spruchpunkt I. wurde darauf hingewiesen, dass eine aktuelle Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe nicht vorliegen würde. Es sei auch amtsbekannt, dass die Taliban, so sie sich noch des Werkzeuges der Zwangsrekrutierung bedienten, nicht auf Grund der Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, politischer Gesinnung oder sozialen Gruppe zwangsrekrutieren würden.

Zu Spruchpunkt II wurde zunächst festgehalten, dass keine wie immer geartete Rückkehrgefährdung bestehe und auch das Bestehen einer Gefährdungslage nach § 50 FPG bereits geprüft und verneint worden sei. Überdies würde der Antragsteller nicht an einer Erkrankung leiden, die ein Abschiebungshindernis darstellen würde und wären auch keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass er bei einer Rückkehr in seine Heimat in eine lebensbedrohliche Notlage geraten würde. Es hätten sich auch sonst keine Hinweise darauf ergeben, dass ein Sachverhalt vorliege, welcher zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen würde.

Auch die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 57 FPG lägen nicht vor (Spruchpunkt III).

Weiters wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich verfüge. Da hinsichtlich des Privatlebens weder ein ausreichend langer Aufenthalt noch eine hinreichende Integration vorliege, sei kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen gewesen sei und eine Rückkehrentscheidung als zulässig zu bezeichnen gewesen (Spruchpunkt IV).

Zu Spruchpunkt V wurde schließlich ausgeführt, dass keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG vorliege und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des EGMR entgegenstehen, sodass diese als zulässig zu bezeichnen sei.

Weiters wären auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise hervorgekommen (Spruchpunkt VI).

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Magistrat der XXXX , diese vertreten durch die XXXX , fristgerecht gegen alle Spruchpunkte Beschwerde. Darin wurde zunächst (kursorisch) der bisherige Verfahrensgang wiederholt und weiters die Verletzung von Verfahrensvorschriften und unzureichende Länderfeststellungen kritisiert, sowie eigene Länderfeststellungen weitwändig zitiert.

Mit Beschluss XXXX wurde das Geburtsdatum des Beschwerdeführers auf XXXX berichtigt.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung für den 22.09.2020 an, zu der sich die belangte Behörde entschuldigen ließ und an der, der Beschwerdeführer in Begleitung eines Mitarbeiters der Rechtsberatung Integrationshaus und der Zeugin XXXX teilnahmen.

Die Rechtsvertretung beantragte die Einvernahme der im Gerichtsgebäude anwesenden Zeugin XXXX zum bestehenden Privat und Familienlebens des Beschwerdeführers in Österreich.

Es wurde ein Empfehlungsschreiben von XXXX vom 17.09.2020, ein Empfehlungsschreiben des Projekts XXXX (dabei handelt es sich um ein Wohnprojekt für minderjährige Asylwerber), ein Zeugnis über die Pflichtschulabschlussprüfung, eine Schulbesuchsbestätigung des XXXX (bis Ende 2019), eine aktuelle Schulbesuchsbestätigung der XXXX , eine Teilnahmebestätigung an einem Werte und Orientierungskurs und eine Bestätigung über Psychosoziale Betreuung der XXXX vorgelegt.

Der Beschwerdeführer hielt sein bisheriges Vorbringen sowie seine Beschwerde auch nach Erreichen der Volljährigkeit aufrecht. Er gab an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, zugehörig der Volksgruppe der Hazara, er sei am Papier schiitischer Moslem. Er übe seine Religion in Österreich nicht mehr aus. Er habe sich von seiner Religion abgewendet, sei jedoch noch nicht offiziell ausgetreten. Er habe noch keinen Kontakt zu anderen Religionsgemeinschaften, sei jedoch mit seinen Freunden, vor Corona, in die Kirche gegangen und habe zugehört. Er habe auch an Glaubensunterweisungen in der katholisch-christlichen Gemeinschaft teilgenommen.

Die Rechtsvertretung gab an, der Beschwerdeführer hätte ihm mitgeteilt, dass er nicht mehr praktizierender Moslem sei und sich für das Christentum interessiert hätte, aber auch, dass er noch nicht zum Christentum konvertiert sei.

Das Geburtsdatum sei in Österreich mit XXXX festgelegt worden. Der Beschwerdeführer sei in der Provinz Ghazni im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX geboren worden und aufgewachsen. Er habe sich etwa ein Jahr im Iran aufgehalten, bevor er nach Österreich gekommen sei.

Er habe in Afghanistan keine Schule besucht. Er sei etwa viereinhalb Jahren in die Moschee gegangen, um dort Lesen und Schreiben zu lernen. Sein Vater hätte den Lebensunterhalt für die Familie durch Bewirtschaftung von Grundstücken anderer Leute verdient. Sie hätten auch Schafe, Kühe und Hühner gehabt. Im Alter von etwa sieben Jahre habe der Beschwerdeführer begonnen seinem Vater zu helfen. Er habe die Schafe und Kühe auf die Weiden gebracht. Befragt gab der Beschwerdeführer an, dass seine Familie wirtschaftliche Probleme in Afghanistan gehabt hätte. Er habe den Kontakt zu seinen Eltern in Bulgarien verloren. Sein Handy mit all seinen privaten Nummern sei von der Polizei beschlagnahmt worden.

Er selbst habe in Afghanistan keine Probleme mit der Polizei, jedoch mit den Taliban gehabt. Sein Onkel sei mit dem Traktor um die Mittagszeit auf den Feldern gewesen. Er sei von den Taliban auf den Feldern erschossen worden. Der Beschwerdeführer sei bei diesem Vorfall ungefähr elf Jahre alt gewesen.

Der Beschwerdeführer erzählte über diesen Vorfall: „Bevor mein Onkel getötet wurde, sind die Arbaki, sie sind so wie die Polizei, ins Dorf gekommen und haben eine Woche unser Dorf umzingelt. Sie haben meinen Onkel väterlicherseits ersucht, dass er vom Bazar, welcher eine Stunde von unserem Dorf entfernt war, Treibstoff holt. Es war keine Bitte, er hätte es machen müssen. Nach etwa einer Woche sind die Taliban zurück ins Dorf gekommen, es gab dann Kämpfe und die meisten Arbakis wurden getötet. Genau eine Woche haben die Kämpfe angedauert. Dann sind die Albaki aus dem Dorf verschwunden und die Taliban haben wieder die Macht im Dorf übernommen. Sie haben meinen Onkel verdächtigt, auch ein Arbaki zu sein und sie unterstützt zu haben. Sie haben zwei Mal meinen Onkel mitgenommen. Das erste Mal wurde er mitgenommen, ich weiß nicht, was sie ihm gesagt haben, er wurde gewarnt und sehr schlimm verprügelt. Es war Mitternacht, als mein Onkel väterlicherseits nach Hause gekommen ist. Einen Monat später ist er wieder arbeiten gegangen, er ging wieder auf seine Felder und dort wurde er getötet.“

Der Richter hielt dem Beschwerdeführer vor: „Sie haben vorhin von zwei Mitnahmen Ihres Onkels erwähnt, aber nur eine näher ausgeführt. Was war mit der zweiten Mitnahme?“ Dieser antwortete: „Das zweite Mal sind sechs oder sieben Taliban zu ihm nach Hause gekommen und haben ihn mitgenommen.“

Der Beschwerdeführer erzählte, sie hätten ein großes Haus gemeinsam bewohnt. Sein Onkel habe Arefi ESHAQ geheißen. Nachgefragt erläuterte er, dass die Arbaki wie die Armee oder die Polizei und mit der Regierung verbündet seien. Sie seien mit den Taliban verfeindet und würden die Taliban aus dem Dorf vertreiben.

Nach dem Tod seines Onkels väterlicherseits, etwa eine Woche später, hätten die Taliban den Vater des Beschwerdeführers mitgenommen. Er sei aufgefordert worden, den Taliban alles über die Arbaki zu erzählen. Die Taliban hätten angenommen, dass der Vater, so wie der Onkel, auch Benzin für die Arbaki gebracht hätte. Die Taliban htten den Vater für die Zusammenarbeit gewinnen wollen. Der Vater des Beschwerdeführers sei, obwohl er verängstigt gewesen sei, nicht bereit gewesen mit den Taliban zusammenarbeiten. Als der Vater ein zweites Mal mitgenommen worden sei, hätten die Dorfältesten um seine Freilassung gebeten. Der Vater hätte sich mit den Taliban geeinigt für sie zu spionieren und Bomben auf der Straße zu verstecken. Er habe es jedoch nicht getan. Die Familie habe das Ersparte genommen und sei von dort weggegangen. Die Frau des Onkels sei nach seinem Tod mit den Kindern zu ihren Eltern gezogen.

Auf die Frage des Richters, welche Probleme der Beschwerdeführer persönlich mit den Taliban gehabt hätte, antwortete er: „Ich bin der älteste Sohn der Familie. Sie wollten, dass ich sie gemeinsam mit meinem Vater unterstütze.“ Die Taliban hätten dem Vater gedroht, ihn mit dem Kolben des Gewehrs geschlagen und Pashtu gesprochen, sodass der Beschwerdeführer sie nicht verstanden hätte. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, die Taliban hätten den Vater geschlagen und die Familie gewarnt.

Der unmittelbare Anlass der Ausreise seien die Probleme mit den Taliban gewesen. Sie hätten die Familie einige Male bedroht, sodass sie nicht im Dorf leben hätten können. Wäre die Familie dort geblieben, hätten sie den Vater und den Beschwerdeführer getötet. Auf die Frage des Richters, wie der Beschwerdeführer konkret bedroht worden sei, antwortete er: „Sie sind zu uns nach Hause gekommen und haben die Kalaschnikows gegen uns gerichtet und haben meinen Vater geschlagen.“

Der Beschwerdeführer gab befragt an, er sei im Alter von etwa elf Jahren aus Afghanistan ausgereist. Er könne sich an das genaue Jahr nicht erinnern. Er sei illegal mit seinen Eltern und Geschwistern in den Iran ausgereist. Sie hätten in Teheran, im Stadtteil XXXX gelebt. Da er auf der Reise von seinem Vater getrennt worden sei, hätten die Mutter des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführer für den Lebensunterhalt gesorgt. Die Mutter sei zu anderen Afghanen Putzen gegangen oder habe gekocht. Der Beschwerdeführer habe bei einem Frisör als Helfer gearbeitet. Er habe dort gekocht und gereinigt. Der Beschwerdeführer habe aber auch als Straßenverkäufer gearbeitet.

Nachgefragt erzählte der Beschwerdeführer, er wisse nicht, was mit seinem Vater passiert sei. Seit der Einreise in den Iran habe der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr mit seinem Vater. Vor vier Jahren seien im Iran die Afghanen gesammelt worden und man habe sie nach Syrien in den Krieg geschickt. Wenn sie den Krieg überlebt haben, hätte man den Leuten Dokumente für den Iran versprochen.

Der Beschwerdeführer gab weiters an, er habe versucht im Iran Arbeit zu finden. Er habe jedoch nur kleine Arbeiten gefunden. Er habe nicht gewusst, dass der Iran so feindlich gegen Flüchtlinge sei. Er habe keine Schule besuchen können, nicht in die Apotheke gehen um Medikamente zu kaufen oder ein SIM-Karte auf seinen Namen registrieren lassen. Das Leben im Iran sei schwieriger als in seinem Heimatdorf gewesen. Deshalb habe er den Entschluss gefasst, nach Europa weiter zu ziehen. Er habe Geld von seiner Mutter genommen und von Bekannten geborgt und einen Schlepper kontaktiert, um nach Bulgarien zu gelangen. Um seine Mutter und seine Geschwister auf die Reise mitzunehmen hätten die finanziellen Mittel gefehlt und er habe sie nicht der Gefahr aussetzen wollen.

Auf die Frage des Richters, ob er aktuell gesundheitliche oder psychische Probleme habe, gab der Beschwerdeführer an, er sei nicht krank, könne jedoch in der Nacht nicht einschlafen, weil er in Gedanken bei seiner Familie sei. Er würde in letzter Zeit auch an Vergeßlichkeit leiden. Er sei schon zwei Mal bei einem Psychologen gewesen.

Die Rechtsvertretung wies daraufhin, dass der Beschwerdeführer beim Verein XXXX in psychotherapeutischer Behandlung sei.

Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, er habe nicht regelmäßig Drogen konsumiert, er würde alle ein bis zwei Monate gelegentlich Alkohol trinken, er habe Marihuana geraucht, würde dies jedoch nicht mehr tun. Er könne dies durch einen Harntest belegen.

Auf die Frage des Richters, was er derzeit in Österreich tun würde, antwortete der Beschwerdeführer auf Deutsch: „Ich gehe in die Abendschule, XXXX Fachrichtung Maschinenbau. Ich gehe in die erste Klasse. Ich bin dort ordentlicher Schüler. Am Vormittag gehe ich ins Fitnesstudio. Ich mache meine Hausübungen und lerne. Am Abend gehe ich dann in die Schule. ….. Zuerst war ich sechs Monate in der Mittelschule. Ich habe die Deutschdiplome A1, A2 und B1 gemacht. Dann habe ich den Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss und auch den Pflichtschulabschluss absolviert.“

Der Beschwerdeführer gab an, er habe keine weiteren Qualifikationen in Österreich erworben und auch nicht in Form eines Praktikums gearbeitet. Er sei kein Mitglied eines Vereins oder einer Institution. Er gab an, er gehe ins Fitnesscenter XXXX und am Wochenende treffe er sich mit Freunden aus verschiedenen Ländern, um Fußball zu spielen. Er habe auch österreichische Freunde aus der Schule oder aus dem Park. Er kenne seine Patin XXXX seit 2017. Sie würden sich regelmäßig treffen, um zu lernen oder mit ihrem Hund spazieren zu gehen oder sie würden etwas gemeinsam unternehmen. Frau XXXX habe keine eigenen Kinder und würde alleine leben.

Der Beschwerdeführer gab befragt an, er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren. Er sei mit den Taliban verfeindet, sie könnten ihn überall finden, weshalb er sich auch nicht in Herat oder Mazer-e-Sharif niederlassen könne.

Der Beschwerdeführer führte auch aus, dass er sich in Österreich ohne seine Familie aufhalten würde. Er würde täglich versuchen seine Familie zu finden. Durch diesen Umstand sei er sehr belastet und erschöpft.

Befragung der Zeugin, XXXX , StA. Deutschland

Die Zeugin gab befragt an, sie habe den Beschwerdeführer in einem Projekt der XXXX kennengelernt. Dort habe sie sich als Freiwillige gemeldet. Die XXXX habe unbegleitete Minderjährige an Paten vermittelt. Der Beschwerdeführer habe im Frühjahr 2017 in einer Wohngemeinschaft der XXXX gewohnt.

Ihre Person betreffend gab sie an, sie würde seit 2016 in Österreich leben und als Abteilungsleiterin für Risikomanagement bei einer kleinen Privatbank arbeiten. Sie würde in einer Lebensgemeinschaft mit einem Österreicher leben. Ihr Lebensgefährte habe den Beschwerdeführer noch nicht kennengelernt, sie habe mit der Patenschaft begonnen, bevor sie ihren Lebensgefährten kennengelernt habe.

Vor Corona habe sie den Beschwerdeführer etwa zweimal pro Monat getroffen, während des Lockdowns hätten sie sich kaum sehen können. Jetzt würden sie sich etwas mehr treffen. Der Beschwerdeführer habe nicht in ihrem Haushalt gelebt. Sie hätten ihre gemeinsamen Interessen versucht zu finden und würden etwa auf der XXXX Fahrradfahren oder mit ihren Hund spazierengehen. Sie würden Billard und Squash spielen. Der Beschwerdeführer und die Zeugin würden sich auf Deutsch unterhalten, sie gäbe ihm jedoch keine Nachhilfe, denn auf diesem Gebiet sei er in der Schule gut versorgt.

Der Richter erkundigte sich, ob die Zeugin etwas über psychische Probleme des Beschwerdeführers wisse. Sie antwortete, sie habe in den Gesprächen bemerkt, dass die Ungewissheit über den Aufenthalt der Eltern ihn sehr belasten würde. Er ziehe sich dann sehr zurück. Sie wolle ihn auch nicht bedrängen, darüber zu reden. Man merke deutlich, dass da viel in ihm arbeiten würde. Sie wisse auch, dass er erhebliche Schlafprobleme habe. Nachgefragt gab sie an, sie wisse nicht, dass er Marihuana konsumiert habe.

Die Zeugin gab weiters an, dass sie versuche ihm die europäische Kultur und Lebensweise näher zu bringen. Sie sei z.B. am Ostermarkt in XXXX mit ihm gewesen. Schon die Tatsache, dass er mit ihr alleine unterwegs sei, sei ein Zeichen von westlicher Gesinnung. Er habe auch nie infrage gestellt, dass sie alleine leben würde. Sie hätte den Beschwerdeführer auch zu ihren Eltern nach Deutschland mitgenommen, jedoch dürfe er Österreich nicht verlassen.

Auf die Frage des Richters, ob sie wisse, dass der Beschwerdeführer die islamische Religion nicht mehr ausübe, antwortete die Zeugin, er habe ihr 2017 erzählt, dass er den Ramadan gefeiert habe. Er sei zu dieser Zeit auch in die Moschee gegangen. Das würde er auch mittlerweile alles nicht mehr machen. Es sei ihm auch mehr um die Gemeinschaft als um die Religionsausübung gegangen. Sie wisse nur wenig über seine Freunde. Er habe ihr aber mitgeteilt, dass manche Personen in ungute Sachen verwickelt seien und er habe den Kontakt abgebrochen. Die Zeugin habe den Eindruck, dass er darauf bedacht sei, die Gesetze in Österreich einzuhalten.

Die Zeugin habe den Eindruck, dass er wie andere österreichische Jugendliche leben würde. Er habe ihr erzählt, dass er hin und wieder Alkohol konsumieren und Schweinefleisch essen würde, so wie andere Jugendliche auch. Er sei auch ernsthaft bemüht, in Österreich eine Berufsausbildung zu machen und einen Schulabschluss zu erreichen. Er sei sehr selbstständig, die Schule sei ihm wichtig.

Die Rechtsvertretung beantragte die Einholung eines Gutachtens zum Gebiet der Psychiatrie oder der klinischen Psychologie zu den aktuellen psychischen Problemen des Beschwerdeführers. Hiefür wurde die Sachverständige für klinische Psychologie, Dr. Eva MÜCKSTEIN, in Vorschlag gebracht, der Beschwerdeführervertreter erhob dagegen keinen Einwand. Dies wäre insbesondere für die Beurteilung einer innerstaatlichen Fluchtalternative relevant.

Die Rechtsvertretung brachte hinsichtlich des Rechts auf Privat und Familienlebens vor, dass der Beschwerdeführer in Österreich westlich orientiert leben würde, eine HTL besuche und sich von den islamischen strengen Regeln gelöst habe. Er würde daher aufgrund der Verletzung dieser religiösen Normen mit den rigiden islamischen Normen in Konflikt geraten.

Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint. Der Beschwerdeführer leugnete jedoch nicht, dass es mehrere Anzeigen sowie gerichtanhängige Verfahren, die jedoch zu keiner im Strafregister aufscheinenden Verurteilung geführt hätten, gegeben habe.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.09.2020, Zl. XXXX wurde die gerichtlich beeidete und zertifizierte Sachverständige Dr. Eva MÜCKSTEIN zur nichtamtlichen Sachverständigen auf dem Fachgebiet Psychologie und Psychotherapie im vorliegenden Verfahren bestellt.

Die genannte Sachverständige erstattete mit 30.11.2020 ein klinisch-psychologisches Gutachten, nachdem sie den Beschwerdeführer persönlich untersucht hatte. Es wurde ein Gutachten zu den angeführten Fragen zu erstattet. Das Gutachten stützt sich auf die Aktenanalyse, die Befunderhebung mit dem Beschwerdeführer am 22.10.2020 in der Praxis der SV sowie auf die fremdanamnestische Erhebung mit der Betreuungsperson.

Status psychicus für Erwachsene in Anlehnung an das AMDP-System:

„Der Untersuchte erscheint in gepflegtem Zustand zur Untersuchung. Er verhält sich kooperativ und sozial angemessen. Er wirkt bewusstseinsklar und ausreichend orientiert. Es ergeben sich keine Hinweise auf eine formale oder inhaltliche Denkstörung. Die kognitiven Funktionen erscheinen jedoch eingeschränkt. Der Beschwerdeführer hat leichte Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu halten und sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Die Grundstimmung ist dysphorisch-gedrückt, die Schwingungsfähigkeit ist deutlich eingeschränkt. Die Störung der Affektivität äußert sich in Ängsten sowie in Gefühlen der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit und depressiver Stimmungslage. Die Stimmung ist in den depressiven und ängstlichen Bereich verschoben, die Befindlichkeit negativ getönt. Auch Insuffizienzgefühle und vermindertes Selbstwertgefühl sind festzustellen. Der Antrieb ist deutlich herabgesetzt, Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume und Flashbacks sowie sozialer Rückzug mit weitgehender Isolation werden exploriert. Störungen des Vegetativums zeigen sich in Appetitlosigkeit mit damit einhergehendem Gewichtsverlust sowie in nächtlichen Angstzuständen mit Schweißausbrüchen und Herzrasen. Hinweise auf fremd- und selbstverletzendes Verhalten ergeben sich aktuell keine. Zur kurzfristigen Problembewältigung und Spannungsminderung wurde in der Vergangenheit Cannabiskonsum herangezogen, derzeit sporadisch auch Alkoholmissbauch.

Der Beschwerdeführer steht folgend seinen Angaben derzeit in medizinischer und psychologischer Behandlung im Verein XXXX . Die Zusammenschau der Aktenlage, der vorliegenden Berichte und der eigenen klinisch-psychologischen Befunderhebung ergibt beim BF vor dem Hintergrund der geschilderten bedrohlichen Erlebnisse in seinem Herkunftsland, dem Fluchterlebnis, der Ungewissheit über den Verbleib der Familienangehörigen und der unsicheren Zukunftsperspektiven eine Symptomatik, die nach der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen folgendermaßen zuzuordnen ist: Angst und depressive Störung gemischt (F41.2) – mittelgradig, Posttraumatische Belastungsstörung – mittelgradig, Cannabismissbrauch, in Behandlung derzeit abstinent (F12.21), Alkoholkonsum, sporadisch schädlicher Gebrauch (F10.1).

Die Symptomatik ist als Reaktion auf die Kumulation von belastenden Lebensereignissen zurückzuführen und hat sich im Verlauf der letzten Monate verschlechtert bzw. in dieser Ausformung erst herausgebildet. Die zunehmende emotionale Belastungssituation hat auch traumatisierende Erfahrungen in Form von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung aktiviert.

Die dem Gutachten zugrundeliegenden Fragen werden somit wie folgt beantwortet:

1. Wie wirkt sich beim BF der Verlust des Kontaktes zu seiner Familie aus (siehe auch S 13 der Niederschrift vom 22.9.2020)?

Der Verlust des Kontaktes zu seiner Familie hat beim Beschwerdeführer eine krankheitswertige psychische Störung, nämlich eine psychogene Reaktion auf belastende Lebensereignisse in Form des Störungsbildes „Angst und depressive Störung gemischt“ ausgelöst. Auf der Basis langdauernder und wiederholter traumatischer und emotional belastender Ereignisse wurden zuletzt auch die Symptome einer Traumafolgestörung mit Albträumen, Flashbacks und Angstzuständen aktiviert. Spannungslösend wurde in der Vergangenheit Cannabiskonsum eingesetzt, derzeit sporadisch auch schädigender Konsum von Alkohol. Seit wann dieses Störungsbild vorliegt, lässt sich ex-post nicht exakt feststellen. Der Krankheitsverlauf lässt darauf schließen, dass bis Ende 2018 eher leichte Symptome einer psychischen Erkrankung vorhanden waren, die sich aufgrund vermehrter Belastungsfaktoren im Verlauf des Jahres 2019 verschlechtert und seit September dieses Jahres in der aktuell vorliegenden Form herausgebildet haben.

2. Leidet der BF deswegen oder aus anderen Gründen unter krankheitswerten psychischen Störungen?

Derzeit resultiert die psychische Belastung für den Beschwerdeführer hauptsächlich aus der quälenden Ungewissheit über den Verbleib der Familie bzw. betreffen die Frage, ob seine Familienangehörigen noch am Leben sind. Seine Gedanken kreisen hauptsächlich um dieses Thema. Aufgrund der Komplexität des vorliegenden Krankheitsbildes ist jedoch anzunehmen, dass die aktuelle Symptomatik als Reaktion auf die Kumulation von Belastungsereignissen, insbesondere die geschilderten bedrohlichen Erlebnisse in seinem Herkunftsland, dem Fluchterlebnis, der Ungewissheit über den Verbleib der Familienangehörigen und der unsicheren Zukunftsperspektiven anzusehen ist.

3. Wenn ja, behindern ihn diese irgendwie im Alltag, insbesondere bei Erwerbsarbeit?

Die aktuelle Symptomatik beeinträchtigt den Beschwerdeführer bei der Alltagsbewältigung sowie in seiner sozialen und schulischen bzw. beruflichen Leistungsfähigkeit erheblich. Der Beschwerdeführer leidet unter schweren Schlafstörungen, die zur Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus führen und wegen des Schlafmangels seine Leistungsfähigkeit und seine ansonsten gezeigte Verlässlichkeit beeinträchtigen. In den Lebensfunktionen einschränkend wirken sich zudem Antriebslosigkeit, Ängste, Rückzug aus sozialen Bezügen, Konzentrationsstörungen und Beeinträchtigung der Merkfähigkeit aus. Der Beschwerdeführer verlässt die Wohnung nur noch selten und ist im Sozialkontakt schwer erreichbar. Die Störungen der Konzentration und Merkfähigkeit verunmöglichen den Schulbesuch trotz guter Lernmotivation. In Übereinstimmung mit dem Sozialbericht der Betreuungseinrichtung spricht die eigene Untersuchung für eine Verstärkung der Symptomatik in den letzten Monaten aufgrund der Verdichtung und Zunahme der Belastungsaspekte, möglicherweise auch wegen des Verzichts auf Cannabiskonsum.

4. Was ist der Grund der psychotherapeutischen Betreuung durch den Verein XXXX ?

Der Beschwerdeführer wird im Verein XXXX wegen Cannabismissbrauch und zur psychischen Stabilisierung betreut. Den Angaben der Sozialbetreuerin folgend haben bisher sieben oder acht telefonische Behandlungskontakte stattgefunden, die der BF nach anfänglichen Schwierigkeiten verlässlich wahrnimmt.

5. Ist der BF nunmehr "clean"? Seit wann konsumiert er kein Suchtgift mehr?

Zum Zeitpunkt der Untersuchung ist der Beschwerdeführer nach übereinstimmenden Angaben etwa seit zwei Monaten clean. Auch die durchgeführten Drogentests erbrachten nach Angaben der Sozialbetreuerin ein negatives Ergebnis.

6. Hat der seinerzeitige Suchtgiftkonsum noch Auswirkungen in der Gegenwart?

Das aktuell vorliegende funktionsgestörte Verhalten wie Antriebslosigkeit, Aufmerksamkeitsstörung und Beeinträchtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit könnten auch auf langanhaltenden Cannabismissbrauch zurückzuführen sein. Der Beschwerdeführer gibt aber in Übereinstimmung mit der Sozialbetreuerin an, dass sich die körperliche Befindlichkeit durch die Cannabis-Abstinenz verbessert, das psychische Befinden jedoch verschlechtert hat. Aufgrund dieser Schilderung und der nachvollziehbaren Erklärungen des BF ist anzunehmen, dass der BF den Rauschzustand herbeigeführt hat, um sich kurzfristig von psychischen Spannungszuständen zu befreien. Dafür spricht auch, dass der BF nunmehr sporadisch Rauschzustände mittels Alkoholkonsum herstellt.

7. Wie würde sich eine Abschiebung des BF nach Afghanistan auf seinen psychischen Zustand auswirken?

Der Beschwerdeführer gibt an, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan seine Ermordung befürchten müsse oder er aufgrund des Ausgeliefertseins der (sexuellen) Ausbeutung ausgeliefert wäre. Ob sein Leben tatsächlich nach einer Abschiebung nach Afghanistan real oder konkret gefährdet ist, kann gutachterlicherseits nicht beurteilt werden. Die drohende Abschiebung stellt jedenfalls eine weitere, erhebliche emotionale Belastungssituation für den BF dar, wobei sich die Zunahme von Belastungs- und Traumatisierungsaspekten bereits in der Vergangenheit als labilisierend und überfordernd hinsichtlich der Bewältigungskapazität des Beschwerdeführers herausgestellt haben. Es ist deshalb anzunehmen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan mit einer Verschlechterung des Krankheitsbildes sowie einem erheblichen Leidenszustand und einer Zunahme von Funktionsbeeinträchtigungen einhergehen würde.

Zusätzlich zur Sozialbetreuung im Integrationshaus und der Betreuung im Verein XXXX ist eine symptomorientierte psychopharmakologische fachärztliche Behandlung und eine langfristige, geordnete Psychotherapie zur Be- und Verarbeitung der belastenden Lebensereignisse indiziert. Es ist fraglich, ob der BF dieses Behandlungsangebot in Afghanistan vorfinden würde und ob er aufgrund seiner Funktionseinschränkungen in der Lage wäre, ein solches Angebot auch ohne Hilfestellung durch Betreuungspersonen in Anspruch zu nehmen.“

Das Gutachten wurde im schriftlichen Wege dem Parteiengehör unterzogen. Es sind beim BVwG keine Stellungnahmen eingegangen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX , ist Staatsbürger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem, übt diese Religion in Österreich jedoch nicht mehr aus. Er wurde nach eigenen Angaben im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni geboren und ist dort aufgewachsen und hat sich in Afghanistan immer dort aufgehalten. Die belangte Behörde nahm das Geburtsdatum XXXX an. Er lebte etwa ein Jahr nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Iran. Er besuchte wohl keine Schule, erlernte aber das Lesen und Schreiben in einer Moschee. Eine konkrete, individuelle, asylrechtlich ausreichend intensive Verfolgung bzw. Verfolgungsgefahr in Afghanistan kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer gelangte (spätestens) am 12.06.2016 nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Einreise minderjährig, hat nunmehr die Volljährigkeit erreicht. Er hat in Afghanistan mit niemandem mehr Kontakt. Sein Vater ist seit der Flucht aus Afghanistan verschollen. Seine Mutter und seine vier Geschwister leben im Iran. Aufgrund der Abnahme seines Handys durch die bulgarischen Behörden hat er den Kontakt zu seiner Familie verloren.

Dr. Eva MÜCKSTEIN wurde als nichtamtlichen Sachverständige auf dem Fachgebiet Psychologie und Psychotherapie im vorliegenden Verfahren bestellt. Sie erstattete mit 30.11.2020 ein klinisch-psychologisches Gutachten, nachdem sie den Beschwerdeführer persönlich untersucht hatte. Die drohende Abschiebung stellt jedenfalls eine weitere, erhebliche emotionale Belastungssituation für den Beschwerdeführer dar, wobei sich die Zunahme von Belastungs- und Traumatisierungsaspekten bereits in der Vergangenheit als labilisierend und überfordernd hinsichtlich der Bewältigungskapazität des Beschwerdeführers herausgestellt haben. Es ist deshalb anzunehmen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan mit einer Verschlechterung des Krankheitsbildes sowie einem erheblichen Leidenszustand und einer Zunahme von Funktionsbeeinträchtigungen einhergehen würde.

Der Verlust des Kontaktes zu seiner Familie hat beim Beschwerdeführer eine krankheitswertige psychische Störung, nämlich eine psychogene Reaktion auf belastende Lebensereignisse in Form des Störungsbildes „Angst und depressive Störung gemischt“ ausgelöst. Auf der Basis langdauernder und wiederholter traumatischer und emotional belastender Ereignisse wurden zuletzt auch die Symptome einer Traumafolgestörung mit Albträumen, Flashbacks und Angstzuständen aktiviert. Spannungslösend wurde in der Vergangenheit Cannabiskonsum eingesetzt, derzeit sporadisch auch schädigender Konsum von Alkohol. Seit wann dieses Störungsbild vorliegt, lässt sich ex-post nicht exakt feststellen. Der Krankheitsverlauf lässt darauf schließen, dass bis Ende 2018 eher leichte Symptome einer psychischen Erkrankung vorhanden waren, die sich aufgrund vermehrter Belastungsfaktoren im Verlauf des Jahres 2019 verschlechtert und seit September dieses Jahres in der aktuell vorliegenden Form herausgebildet haben.

Zusätzlich zur Sozialbetreuung im Integrationshaus und der Betreuung im Verein XXXX ist eine symptomorientierte psychopharmakologische fachärztliche Behandlung und eine langfristige, geordnete Psychotherapie zur Be- und Verarbeitung der belastenden Lebensereignisse indiziert. Es ist fraglich, ob der BF dieses Behandlungsangebot in Afghanistan vorfinden würde und ob er aufgrund seiner Funktionseinschränkungen in der Lage wäre, ein solches Angebot auch ohne Hilfestellung durch Betreuungspersonen in Anspruch zu nehmen.

Der Beschwerdeführer hat eine Patin der XXXX in Österreich, die ein Stück seines Lebens begleitet, sonst führt er kein Familienleben in Österreich und ist laut Strafregisterauszug unbescholten. Er hat auch den Kontakt zu „nicht guten“ Freunden eingestellt.

Der Beschwerdeführer besucht die Abendschule, XXXX , Fachrichtung Maschinenbau als Ordentlicher Schüler. Er hat die Deutschdiplome A1, A2 und B1 erworben, den Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss und auch den Pflichtschulabschluss absolviert.

Wie das Bundesverwaltungsgericht sich während der Verhandlung überzeugen konnte, spricht er ausgezeichnet Deutsch und ist bemüht nunmehr sein Leben in „geordnete Bahnen“ zu führen.

2. Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen folgendes festgestellt.

1. COVID-19

Letzte Änderung: 14.12.2020

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan

MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher

Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA

. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS

. In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA

, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.

07.2020. pdf, Zugriff 20.9.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pan demic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020

•        F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14,61.2/4 , Zugriff 31.10.2020

•        Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-c ovid-19 , Zugriff 28.9.2020

•        IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020

•        IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020

•        IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm _campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff

17.11.2020

•        Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020

•        NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020

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•        RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&countryOperator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=d esc&content=Covid-19&page=5, Zugriff 17.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff

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•        UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTECTION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020

•        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020

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•        WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against- covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020

•        WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020

•        WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoj nt/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1,20.10.2020

•        WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020

2. Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswah

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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