TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/3 W187 2194218-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.03.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

03.03.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W187 2194218-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 8 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III.    Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

IV.      Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig ist.

V.       Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, ledig zu sein und keine Kinder zu haben. Der Beschwerdeführer sei am XXXX in der afghanischen Provinz Takhar geboren und Angehöriger der Volksgruppe der Araber. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, zwei Brüder und drei Schwestern seien nach wie vor in der Heimatprovinz aufhältig. Der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit seiner Cousine nach Österreich eingereist. Als Beweggrund für seine Ausreise gab der Beschwerdeführer an, vor ca. einem Jahr, als der Beschwerdeführer bei seinem Onkel gelebt habe, seien sechs Anhänger der Taliban zu seinem Onkel nach Hause gekommen und hätten die Familie berauben wollen. Dabei sei sein Cousin XXXX erschossen und die Tochter eines anderen Cousins ermordet worden. Die Familie des Beschwerdeführers sei in der Lage gewesen, fünf der sechs Taliban festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Diese fünf Personen seien bereits zweimal gerichtlich verurteilt worden; das nötige dritte Urteil fehle jedoch noch. Seither werde die gesamte Familie des Beschwerdeführers von den Familien der fünf inhaftierten Taliban bedroht. Kurz nach dem Vorfall sei ein weiterer Cousin des Beschwerdeführers, XXXX von den Taliban mit dem Gewehr bedroht worden. Seither sei dieser Cousin abgängig. Der Beschwerdeführer und seine Familie würden vermuten, dass dieser Cousin von den Taliban verschleppt worden sei. Es seien bereits mehrmals Familienmitglieder der fünf verhafteten Taliban in ihr Haus eingedrungen und hätten versucht, die Frauen zu vergewaltigen. Mit Hilfe der Nachbarn habe seine Familie dies noch verhindern können. Auch der Vater des Beschwerdeführers sei von den Familien der inhaftierten Taliban am Fuß angeschossen worden. Darum habe sein Vater gewollt, dass der Beschwerdeführer fliehe. Er könne nicht mehr zurück und habe Angst um sein Leben.

3. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters an, dem sich der Beschwerdeführer am XXXX unterzog. Dieses Röntgen ergab, dass beim Beschwerdeführer sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen sind. Sowohl am distalen Radius als auch an der distalen Ulna lasse sich eine zarte Epiphysenfuge erkennen.

4. Mit Schreiben vom XXXX ersuchte der Beschwerdeführer um Ausstellung einer Kopie der Niederschrift seiner Erstbefragung.

5. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung, eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer zunächst an, die Niederschrift seiner Erstbefragung weise Fehler auf und sei ihm nicht richtig rückübersetzt worden. Er habe die Taliban in der Erstbefragung nicht erwähnt, sondern lediglich von Feinden gesprochen. Vor ca. sechs Monaten seien seine Eltern und seine drei Schwestern durch eine Bombenexplosion ums Leben gekommen. Seine beiden Brüder seien zwischenzeitlich in den Iran geflohen und dort seit ungefähr einem Monat aufhältig. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer schließlich an, er habe Feinde in Afghanistan gehabt. 14 Tage nach der Hochzeit eines seiner Cousins, XXXX , seien sechs unbekannte Personen zu seinem Cousin nach Hause gekommen, um ihn auszurauben. Dabei sei sein Cousin, XXXX , getötet worden. Seiner Frau hätten die Einbrecher die Ohrringe aus dem Ohr gerissen. Am nächsten Tag sei die Polizei gekommen. Die Gattin des Cousins habe der Polizei erzählt, dass sie die Täter kenne. Daraufhin sei es der Polizei gelungen, fünf der Täter festzunehmen. Einer der Täter sei jedoch entkommen. Einige Zeit später sei der Vater des Beschwerdeführers von den Brüdern der Täter bedroht worden. Sie hätten von ihm verlangt, seine Schwester zu zwingen, ihre Aussage zurückzunehmen. Diese Personen seien die Nachbarn der Familie des Beschwerdeführers gewesen und hätten sie immer wieder bedroht. Eines Tages sei auf den Vater des Beschwerdeführers geschossen worden, wobei der Vater am Bein getroffen worden sei. Daraufhin habe der Vater den Beschwerdeführer angerufen und ihm gesagt, er solle sofort flüchten, widrigenfalls man ihn umbringen werde. Der Beschwerdeführer sei daraufhin zu seiner Tante gegangen. Zusammen mit seiner Cousine und der Gattin eines weiteren Cousins namens XXXX sei der Beschwerdeführer nach Kabul geflüchtet. Anschließend seien sie über Pakistan Richtung Europa ausgereist. Die Brüder der fünf inhaftierten Täter seien auch für den Tod seiner Eltern und seiner Schwestern durch eine am Auto fixierte Bombe verantwortlich.

6. Die Landespolizeidirektion XXXX , Referat Waffen- und Veranstaltungsangelegenheiten teilte der belangten Behörde mit Schreiben vom XXXX mit, dass über den Beschwerdeführer ein Waffenverbot verhängt worden sei, und übermittelte den Mandatsbescheid betreffend das Waffenverbot vom XXXX . Der Begründung dieses Mandatsbescheides ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer XXXX im Zuge eines Raufhandels eine Billardkugel in Richtung eines Polizeibeamten geschossen habe. Im Zuge der weiteren Amtshandlung habe der Beschwerdeführer angegeben, sich und alle anderen umbringen zu wollen. Aufgrund der psychischen Verfassung des Beschwerdeführers sei eine akute Selbst- bzw. Gemeingefährdung gegeben. Es sei die Annahme gerechtfertigt, dass der Beschwerdeführer in Zukunft durch missbräuchliche Verwendung von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte, weshalb die Erlassung des gegenständlichen Waffenverbotes eine unaufschiebbare Maßnahme zum Schutz dieser Rechtsgüter darstelle.

7. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts, mangelhafter bzw unrichtiger Bescheidbegründung sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung der Verfahrensvorschriften.

9. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

10. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an, übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme.

11. Mit Schreiben vom XXXX legte der Verein Menschenrechte Österreich die am XXXX durch den Beschwerdeführer erteilte Vollmacht nieder. Das Bundesverwaltungsgericht setzte den Beschwerdeführer mit Ladung zur mündlichen Verhandlung vom XXXX von der für XXXX anberaumten mündlichen Verhandlung in Kenntnis.

12. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte der MigrantInnenverein St. Marx eine Vertretungsvollmacht für den Beschwerdeführer und teilte mit, dass der Verhandlungstermin XXXX bereits bekannt sei.

13. Am XXXX langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur Länderberichtslage beim Bundesverwaltungsgericht ein.

14. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Zurzeit bin ich nicht in ärztlicher Behandlung, früher stand ich in ärztlicher Behandlung.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ja.

Rechtsvertreter: Es gab Probleme mit dem Dolmetscher beim BFA. Das soll aber der BF selbst erklären.

Beschwerdeführer: Ich habe bei der Einvernahme beim BFA gesagt, dass meine Mutter, meine Schwestern und auch mein Vater im Auto waren, in dem Auto war eine Bombe platziert, es kam zur Explosion, bei der Explosion wurden meine Angehörigen getötet. Protokolliert wurde aber, dass meine Familie bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Die Einvernahme beim BFA hat vier Stunden gedauert, zuvor habe ich aber zwei Stunden auf den Beginn der Einvernahme gewartet. Nach der Einvernahme war ich sehr erschöpft und konnte das Protokoll nicht lesen, ich habe es erst später gelesen und es ist mir aufgefallen, dass diese Sachen nicht stimmen. Am Ende des Einvernahmeprotokolls steht, dass mein Vater, meine Mutter und meine Schwester bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen und nicht durch eine Bombe.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in der Stadt XXXX in Afghanistan, Provinz Takhar, Stadt XXXX , Stadtteil XXXX , Ortsteil XXXX geboren.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich kann Dari und Deutsch sprechen, ich kann sowohl Dari als auch Deutsch lesen und schreiben.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich hatte früher den Islam als meine Religion, aber jetzt glaube ich nur an mich selbst. Ich bin verlobt, die Dame hinter mir ist meine Verlobte und ich bin Afghane und Araber.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Meine Verlobte erwartet unser Kind in einigen Monaten, Anfang XXXX . Ich kann auch den Mutter-Kind-Pass vorlegen.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich bin in XXXX geboren und auch dort aufgewachsen, ich habe bis zu meiner Ausreise dort gelebt.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Mein Vater war Landwirt und ich habe immer mit meinem Vater zusammengearbeitet und so haben wir unser Leben geführt.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich war damals ein Kind, das Einzige, was ich machen konnte war, meinem Vater Essen auf die Felder zu bringen.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Ich habe sechs Jahre die Schule besucht.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Fünf Mitglieder meiner Familie wurden getötet, zwei Brüder von mir sind bei meinem Onkel mütterlicherseits im Iran.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ja, gelegentlich telefonieren wir Brüder miteinander.

Richter: Haben Sie in Afghanistan weitere Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Arbeiten kann ich zurzeit nicht, ich besuche einen Deutschkurs. Den Deutschkurs habe ich bis zum Niveau A2 abgeschlossen. Ein- bis zweimal in der Woche gehe ich zu meiner Wahlmutter und lerne Deutsch, sie ist meine Patin. Sonst verbringe ich die Zeit mit meiner Verlobten, sie hat bereits zwei Kinder.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Früher hatte ich Freunde und Bekannte, aber jetzt verbringe ich die meiste Zeit mit meiner Verlobten und den Kindern, dadurch habe ich nicht so viele Freunde.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein, aber ich gehe ins Fitness-Center. Ich habe keine Dokumente, daher kann ich weder arbeiten, noch freiwillig irgendwo mitwirken.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein, aber XXXX gab es eine kleine Auseinandersetzung in einem Heim, da war die Polizei da, sonst gab es nichts.

Richter: War das der Vorfall am XXXX in XXXX ?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Sechs Diebe, eben die Taliban, waren im Hause meines Cousins väterlicherseits. Sie haben ihn getötet. Der Cousin wurde getötet. Mein Cousin hieß XXXX Sie haben das Haus angegriffen, haben der Frau meines Cousins einen Ohrring heruntergerissen, den zweiten Ohrring hat sie selber hergegeben. Sie haben Gold und Schmuck mitgenommen. Nach der Bestattungszeremonie hatten wir dann Kontakt zur Polizei. Die Polizei konnte fünf Personen festnehmen, einer von ihnen wurde nicht festgenommen. Diese Personen wurden in Haft genommen, sie wurden dann zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie waren im Gefängnis. Einer der Brüder von diesen Insassen haben immer wieder meinen Vater bedroht. Eines Tages stand ich an der Türe, da wurde ich von diesen Personen aufgefordert, meinen Vater zu holen. Mein Vater schickte mich dann weg, er hat alleine mit diesen Personen gesprochen. Mein Vater hat immer wieder diesen Personen gesagt, dass er damit nichts zu tun hat, diese Leute sollen mit seiner Schwester alles abklären. Eines Tages, zeitlich in der Früh, war mein Vater auf den Feldern, um zu arbeiten, es war zwischen 11 und 12 Uhr vormittags, als mein Vater mich angerufen hat. Ich war gerade dabei, Fußball zu spielen, als er mir gesagt hat, dass ich zu meiner Tante väterlicherseits gehen soll. Ich bin dann zu meiner Tante väterlicherseits gegangen. Gemeinsam mit meiner Tante, ihrem Sohn XXXX , dessen Frau und Kinder, sind wir Richtung Kabul aufgebrochen. Man versuchte meinen Vater auf den Feldern zu töten, man hat auf ihn geschossen. Er wurde am Bein getroffen. Die Angreifer haben angenommen, dass mein Vater bereits tot ist. Mein Vater hatte mir gesagt, dass ich zu meiner Tante gehen soll, da mein Leben in Gefahr sei. Vier Tage blieb ich bei meiner Tante, dann habe ich darüber nachgedacht, dass ich Afghanistan verlassen muss. Mein Vater war im Krankenhaus, als ich Richtung Europa aufgebrochen bin. Ich war bereits in Europa, als sich dann die anderen Vorfälle ereignet haben. Das war der Grund für meine Flucht nach Europa.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Wodurch sind Sie aktuell in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Ich bin dort gefährdet, denn die Region, wo wir gelebt haben, ist jetzt zur Gänze von den Taliban übernommen worden. Weiters ist es auch gefährlich für mich, weil ich den Islam nicht mehr akzeptiere und nur mehr an mich selbst glaube.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Von Afghanistan bin ich über Pakistan in den Iran und weiter in die Türkei, von der Türkei dann über Griechenland und von Griechenland über die Slowakei, Serbien und nach Österreich gekommen. Damals kannte ich den Namen der Länder nicht. Jetzt kenne ich auch die Namen aller Länder nicht. Wir sind von einem Land in das andere Land und dann weitergereist.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Mein Vater hat ein Grundstück verkauft. Er hat das Geld meiner Tante väterlicherseits gegeben. Die Tante hat das Geld dann an die Tochter, die mit mir auf der Reise war, geschickt, so bin ich dann an das Geld gekommen.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich habe meinen Vater, meine Mutter und meine drei Schwestern in Afghanistan verloren. Ich habe in Afghanistan niemanden, zu dem ich zurückkehren kann. Ich habe die Beschwerde eingereicht, weil ich dort niemanden habe. Ich kann in kein Land zurückkehren, in dem ich niemanden habe. Aus diesem Grund habe ich die Beschwerde eingereicht.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Ich werde in Afghanistan nicht mehr existieren können. Wenn ich nach Takhar zurückkehren sollte, habe ich keine Hoffnung mehr zu leben. Ich werde dort nie am Leben bleiben können, da ich den Islam nicht akzeptiere und dort auch Feinde habe. Ich kann nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil ich in Österreich eine Familie habe. Ich möchte mir hier in Österreich ein Leben aufbauen und nicht in Afghanistan.

[…]

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

Schluss der Verhandlung

Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Empfehlungsschreiben des XXXX vom XXXX vor, das zum Akt genommen wurde.

15. Mit Schreiben vom XXXX führte das Bundesverwaltungsgericht das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 16.12.2020 und die aktualisierte EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 ins Verfahren ein. In einem gab das erkennende Gericht den Parteien die Möglichkeit, dazu binnen einer Frist von 14 Tagen Stellung zu nehmen. Weiter wurde der Beschwerdeführer ersucht, zu seinem Familienleben mit XXXX , geboren am XXXX Stellung zu nehmen und insbesondere Fragen betreffend das Anfang XXXX erwartete gemeinsame Kind zu beantworten. Hierfür wurde dem Beschwerdeführer eine Frist von 14 Tagen ab Zustellung des Schreibens eingeräumt.

16. Mit Schreiben vom XXXX nahm der Beschwerdeführer dahingehend Stellung, dass er Frau XXXX im XXXX kennengelernt habe, seither eine Beziehung mit ihr führe und seit XXXX mit ihr verlobt sei. Seit XXXX lebe er mit Frau XXXX im gemeinsamen Haushalt. Die Verlobte des Beschwerdeführers befinde sich derzeit im laufenden Asylverfahren. Der Geburtstermin für das gemeinsame Kind sei voraussichtlich am XXXX . Der Beschwerdeführer freue sich bereits sehr auf die Geburt seines Kindes und wolle eine aktive Rolle als Vater einnehmen. Frau XXXX habe bereits zwei Kinder aus einer früheren Beziehung, um welche sich der Beschwerdeführer sehr liebevoll kümmere. Weiter nahm der Beschwerdeführer zu den vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten Länderberichten dahingehend Stellung, dass er keine Lebensperspektive in Afghanistan habe und realistisch in Gefahr wäre, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Araber an und wuchs als sunnitischer Moslem auf. Seine Muttersprache ist Dari, in welcher er sowohl über Lese- als auch über Schreibkenntnisse verfügt. Weiter spricht der Beschwerdeführer etwas Deutsch. Er ist verlobt und erwartet mit seiner Verlobten ein gemeinsames Kind.

Der Beschwerdeführer wurde in einer Stadt in der afghanischen Provinz Takhar geboren und wuchs dort im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus gemeinsam mit seinen Eltern, drei Schwestern und zwei Brüdern auf. Der Vater des Beschwerdeführers sorgte in Afghanistan für den Unterhalt der Familie und arbeitete in der familieneigenen Landwirtschaft. Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan sechs Jahre die Schule und half seinem Vater bei der Arbeit am Feld.

Die Eltern und Schwestern des Beschwerdeführers sind zwischenzeitlich verstorben. Seine Brüder leben gemeinsam mit seinem Onkel mütterlicherseits im Iran. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seinen im Iran lebenden Brüdern. Eine Tante väterlicherseits des Beschwerdeführers lebt nach wie vor in seinem Herkunftsstaat Afghanistan, wobei deren derzeitiger Wohnort dem Beschwerdeführer nicht bekannt ist. Es sind keine Anhaltspunkte dafür aufgekommen, dass die Familie des Beschwerdeführers diesen im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan (allenfalls aus der Ferne) finanziell unterstützen könnte. Der Beschwerdeführer verfügt daher über kein soziales unterstützungsfähiges Netzwerk in Afghanistan.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er hält sich seit seiner Einreise durchgehend im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Er nahm seit seiner Einreise an mehreren Basisbildungs-, Deutsch- und Integrationskursen seil, legte jedoch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen ab. Unter anderem besuchte er im Jahr XXXX den Basisbildungs- bzw. Brückenkurs im Rahmen des Bildungsprojekts XXXX des XXXX der Unterrichtseinheiten in Deutsch, Mathematik und Informations- und Kommunikationstechnologie umfasste. Anschließend nahm der am Projekt „ XXXX “ teil. Ab XXXX engagierte sich der Beschwerdeführer ehrenamtlich bei „ XXXX und unterstütze den Verein mit Deutsch-Dari/Farsi-Übersetzungen für deren mehrsprachige Facebook-Seite und bei der interkulturellen Kommunikation mit der afghanischen Community in XXXX Derzeit ist der Beschwerdeführer kein Mitglied in einem Verein, hat jedoch in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. In seiner Freizeit geht der Beschwerdeführer gerne ins Fitnessstudio und verbringt viel Zeit mit seiner Verlobten und deren Kindern aus erster Ehe.

Der Beschwerdeführer ist mit der afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren XXXX , verlobt. Das Asylverfahren der Verlobten des Beschwerdeführers ist derzeit beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl XXXX anhängig. XXXX verfügt über kein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich. Sie ist derzeit – wie auch der Beschwerdeführer – lediglich gemäß § 13 AsylG 2005 zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Der Beschwerdeführer und XXXX lernten einander im XXXX kennen und verlobten sich im XXXX . Seit XXXX bewohnen der Beschwerdeführer, seine Verlobte und deren Kinder aus erster Ehe eine gemeinsame Wohnung in XXXX . Der Beschwerdeführer kümmert sich liebevoll um den Sohn und die Tochter seiner Verlobten. Die beiden erwarten auch ein gemeinsames Kind, das voraussichtlich am XXXX zur Welt kommen wird. Der Beschwerdeführer und seine Verlobte führen eine auf Dauer ausgelegte eheähnliche Lebensgemeinschaft und planen, in naher Zukunft zu heiraten. Sie führen einen gemeinsamen Haushalt und unterstützen sich gegenseitig finanziell.

In Österreich lebt eine Cousine des Beschwerdeführers, XXXX , geboren am XXXX , die gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in den Bundesstaat einreiste. Der Beschwerdeführer pflegt zu dieser Cousine keinen Kontakt.

Abgesehen von der Verlobten des Beschwerdeführers und seiner Cousine leben in Österreich keine weiteren Verwandten oder sonstige enge Bezugspersonen des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.

1.3 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die Taliban bzw. durch verfeindete Privatpersonen, mit Verfolgung wegen seines Glaubens sowie als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und mit der allgemeinen Sicherheitslage.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung nicht persönlich bedroht oder verfolgt. Er hat auch keine asylrelevante Verfolgung im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten.

Es besteht keine Feindschaft zwischen der Familie des Beschwerdeführers und den Taliban bzw einer Gruppe von Privatpersonen. Weder die Taliban, noch die Nachbarn des Beschwerdeführers brachen in das Haus des Cousins des Beschwerdeführers oder sonstiger Verwandten ein, um die Verwandtschaft des Beschwerdeführers auszurauben. Der Cousin wurde daher auch nicht im Zuge dieses Vorfalles getötet. Weder die Gattin des Cousins, noch die Tante des Beschwerdeführers oder sein Vater meldeten die sechs Einbrecher bei der Polizei. Es wurden daher auch keine fünf Personen aufgrund der Anzeige durch die Familie des Beschwerdeführers von der Polizei festgenommen. In weiterer Folge wurden weder die Familie des Beschwerdeführers, noch der Beschwerdeführer selbst durch die Familien der festgenommenen Personen bedroht. Insbesondere wurde der Vater des Beschwerdeführers nicht angeschossen.

Im Frühjahr XXXX kamen die Eltern des Beschwerdeführers und seine drei Schwestern nach der Flucht des Beschwerdeführers Richtung Europa bei einem Autounfall ums Leben. Weder die Taliban noch die vermeintlichen Feinde der Familie des Beschwerdeführers sind für den Tod seiner Familie verantwortlich, indem sie eine Bombe am Auto anbrachten. Bei dem Autounfall handelte es sich um keinen gezielten Anschlag auf die Familie des Beschwerdeführers.

Dem Beschwerdeführer drohen im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan weder Übergriffe, Zwangsrekrutierung, noch Verfolgung durch die Taliban, durch verfeindete Privatpersonen (Nachbarn) oder sonstige Akteure etwa aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie.

Dem Beschwerdeführer droht im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch keine asylrelevante Verfolgung durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure wegen eines (unterstellten) Abfalls vom Glauben (Apostasie).

Auch als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland drohen dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan keine Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Takhar) gehört zu den volatilen Provinzen in Afghanistan, in denen der Großteil der Distrikte zwischen Aufständischen und Regierungstruppen umkämpft ist. Im September 2019 versuchten die Taliban, die Provinzhauptstadt Taloqan zu erobern und erlangten die Kontrolle über die Distrikte Yangi Qala und Darqad. Im Oktober 2019 konnten die Sicherheitskräfte den Angriff auf Taloqan abwehren sowie die beiden Distrikte wieder zurückerobern. Im Jahr 2019 nahm die Zahl ziviler Opfer gegenüber 2018 um 70 % zu. Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, Luftangriffe und improvisierte Sprengkörper. Es werden regelmäßige Sicherheitsoperationen und Luftanschläge in der Provinz durchgeführt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Sicherheitskräften, die Todesopfer auf beiden Seiten und unter Zivilisten zur Folge haben.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Takhar droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat zählten zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, die vom Konflikt relativ wenig betroffen sind. In Balkh hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen der abgelegenen Distrikte der Provinz verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch wenig betroffen und gilt nach wie vor als vergleichsweise sicher. Im Jahr 2019 kam es beinahe monatlich zu kleineren Anschlägen mit improvisierten Sprengkörpern, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif jedoch so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.

Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie zB Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, ist die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – davon wenig betroffen. In Herat (Stadt) kam es in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Die Distrikte um die Stadt Herat stehen unter der Kontrolle der Regierung. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Jänner 2019 als „sehr sicher“ galt, und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Herat (Stadt) gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als relativ sicher.

Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat waren im Jahr 2018 von einer Dürre betroffen. Durch die sozioökonomischen Auswirkungen der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus und den damit einhergehenden Anstieg der Lebensmittelpreise hat die Ernährungsunsicherheit inzwischen wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie während dieser Dürre. In Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) sind Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung jedoch grundsätzlich gegeben. Aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus ist der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) zwar vorhanden, jedoch beschränkt. In Krankhäusern sind sogenannte „Fix-Teams“ stationiert, die verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort untersuchen und in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung stehen. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt eingeschränkt sein. Gegenwärtig gibt es jedoch weder in Mazar-e Sharif, noch in Herat (Stadt) Ausgangssperren. Aktuell sind alle Grenzübergänge geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) werden aktuell international wie auch national angeflogen. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet. Mit Stand 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte. Zuletzt sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten jedoch wieder leicht angestiegen.

Im Fall einer Rückführung des – gesunden, arbeitsfähigen und volljährigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann von XXXX Jahren, der an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet und (hinsichtlich COVID-19) nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder Bluthochdruck fällt. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut, verfügt über eine sechsjährige Schulbildung in Afghanistan sowie über Berufserfahrung als Helfer in der familieneigenen Landwirtschaft. Zudem spricht er mit Dari eine Sprache seines Herkunftsstaates muttersprachlich. Der Beschwerdeführer verbrachte sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise im XXXX bzw. XXXX in Afghanistan und wurde dort im afghanischen Familienverband sozialisiert. Der Beschwerdeführer hat keine Sorgepflichten in Afghanistan. Der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Großstädten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist ihm, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, möglich.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 16.12.2020, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30 %) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35 %) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17 % stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt – zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

1.4.1.2 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004; USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten