Entscheidungsdatum
05.03.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W227 2197620-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 4. Mai 2018, Zl. 1095105800-151794032/BMI-BFA_STM_AST_01, nach einer mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2021 zu Recht:
A)
I. Das Beschwerdeverfahren gegen die Spruchteile I., II. und III. des bekämpften Bescheides wird wegen Zurückziehung der Beschwerde eingestellt.
II. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchteile IV. bis VI. wird die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX wird gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger sunnitisch-muslimischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, stellte am 17. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchteil I.) sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchteil II.) ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchteil III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchteil IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchteil V.) und gewährte ihm eine Frist von zwei Wochen für eine freiwillige Ausreise (Spruchteil VI.).
3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
4. Am 12. Februar 2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer seine Beschwerde gegen die Spruchteile I. bis III. des angefochtenen Bescheides zurückzog.
5. Am 26. Februar 2021 legte der Beschwerdeführer die Bestätigung des Sprachinstituts „Sprache & Kultur Cloos KG“ vor, wonach er die „ÖIF B1 Integrationsprüfung mit Werteteil“ am 18. Februar 2021 absolviert hat.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Der am XXXX geborene Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er stammt aus Kabul, wo er auch bis zu seiner Ausreise lebte. Er besuchte 12 Jahre lang die Schule in Kabul. Seine Mutter, sein Bruder und drei seiner Schwestern leben nach wie vor in Kabul.
Der Beschwerdeführer verließ im November 2015 Afghanistan, reiste ohne gültige Reisepapieren in Österreich ein und stellte am 18. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer wohnt in einer privaten Unterkunft in XXXX (ZMR-Auszug vom 8. Februar 2021). Dort leben auch seine zwei Schwestern, sein Onkel vs., zwei Tanten und zahlreiche Cousinen und Cousins, mit denen er ein enges Verhältnis pflegt. Zu seinen in Afghanistan lebenden Familienmitgliedern (seiner Mutter, seinen drei Schwestern und seinem Bruder) ist er über das Internet (über Viper) regelmäßig telefonisch in Kontakt.
Er ist ledig und kinderlos und befindet sich seit 1. Oktober 2020 nicht mehr in staatlicher Grundversorgung (GVS-Auszug vom 8. Februar 2021). Er absolvierte am 5. Februar 2018 eine Deutschprüfung auf Sprachniveau B1 und verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse. Er war von 1. Oktober bis 31. Dezember 2020 beim Restaurant XXXX auf Vollzeitbasis beschäftigt und hat eine Einstellungszusage für ab 1. April 2021 bekommen. Zusätzlich hat er weitere Einstellungszusagen diverser Firmen. Er ist als ehrenamtlicher Übersetzer für diverse NGOs tätig und hat einen großen Freundeskreis in Österreich. Er verfügt seit Dezember 2016 über einen österreichischen Führerschein (der Klassen AM und B) und bewarb sich im März 2017 an der Fachhochschule XXXX für den Studiengang „Internettechnik“. Am 18. Februar 2021 absolvierte er die B1 Integrationsprüfung (integrierend mit Werte- und Orientierungskurs). Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 5. März 2021).
2. Beweiswürdigung
Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammer angeführten Beweismittel sowie auf die diesbezüglich glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung und den von ihm vorgelegten Unterlagen.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zur Einstellung des Verfahrens gegen Spruchteil I. bis III. des angefochtenen Bescheides
3.1.1. Eine Zurückziehung der Beschwerde durch die beschwerdeführende Partei ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich. Mit der Zurückziehung ist das Rechtsschutzinteresse der beschwerdeführenden Partei weggefallen, womit einer Sachentscheidung die Grundlage entzogen ist, sodass die Einstellung des betreffenden Verfahrens – in dem von der Zurückziehung betroffenen Umfang – auszusprechen ist (vgl. Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte [2017] § 7 VwGVG K 5 ff. sowie Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren² [2018],
§ 7 VwGVG, Anm. 8 mit Hinweisen zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes). Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Berufung (nun: Beschwerde) zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offenlässt. Maßgebend ist daher das Vorliegen einer in dieser Richtung eindeutigen Erklärung (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 63 Rz 75 [Stand 01.07.2007, rdb.at] mit zahlreichen Hinweisen zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes).
3.1.2. Eine solche Erklärung liegt im vorliegenden Fall vor, weil der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vom 12. Februar 2021 die Zurückziehung seiner Beschwerde zu den Spruchteilen I., II. und III. klar zum Ausdruck brachte; einer Sachentscheidung durch das Gericht ist damit die Grundlage entzogen.
Das Beschwerdeverfahren zu diesen Spruchteilen ist daher mit Beschluss einzustellen (siehe dazu VwGH 29.04.2015, Fr 2014/20/0047, wonach aus den Bestimmungen des § 28 Abs. 1 und § 31 Abs. 1 VwGVG hervorgeht, dass eine bloß formlose Beendigung [etwa durch Einstellung mittels Aktenvermerkes] eines nach dem VwGVG vom Verwaltungsgericht geführten Verfahrens nicht in Betracht kommt).
3.2. Zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung
3.2.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 52 Abs. 2 Z 3 FPG ist eine Entscheidung nach dem AsylG mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 AsylG vorliegt. Gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig, wenn durch diese in das Privat- und Familienleben des Fremden eingriffen wird und dieser Eingriff zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen nicht dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind insbesondere zu berücksichtigen (1.) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, (2.) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, (3.) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, (4.) der Grad der Integration, (5.) die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, (6.) die strafgerichtliche Unbescholtenheit, (7.) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, (8.) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und (9.) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, ist nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 18.09.2019, Ra 2019/18/0212 m.w.N., sowie 20.04.2020, Ra 2019/21/0323; 27.04.2020, Ra 2020/21/0121).
3.2.2. Für den Fall des Beschwerdeführers bedeutet dies:
Der Beschwerdeführer hält sich seit November 2015 – somit seit fünf Jahren und vier Monaten – in Österreich auf und verfügt über zahlreiche Familienangehörige in Österreich, mit denen er ein enges Verhältnis pflegt. Er verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse und absolvierte bereits im Februar 2018 die B1-Deutschprüfung. Er bezieht seit 1. Oktober 2020 keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung und verdiente im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2020 als vollzeitbeschäftigter landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter monatlich € 1.540,-- brutto (netto € 1.265,59). Er erlangte zudem bereits eine Einstellungszusage beim selben Betrieb für ab 1. April 2021. Er verfügt seit Dezember 2016 über einen österreichischen Führerschein (der Klassen AM und B), führte diverse gemeinnützige Tätigkeiten aus und pflegt zahlreiche Freundschaften. Weiters bewarb er sich für einen Bachelorstudienlehrgang an einer Fachhochschule in Österreich.
Der Beschwerdeführer war demnach seit Beginn seines Aufenthaltes in Österreich sehr bestrebt, sich zu integrieren und ihm gelang es auch – trotz des aufgrund der COVID-19 Pandemie angespannten Arbeitsmarktes – im Jahr 2020 eine Anstellung als Hilfsarbeiter zu erlangen. Aufgrund der bestehenden Einstellungszusage ist von der Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers während seines weiteren (zukünftigen) Aufenthaltes in Österreich auszugehen.
Zu den Bindungen des Beschwerdeführers zu Afghanistan ist festzuhalten, dass diese – aufgrund der Tatsache, dass nach wie vor seine Mutter sowie vier seiner Geschwister in Afghanistan leben – und er bis vor seiner Ausreise vor ungefähr fünfeinhalb Jahren sein gesamtes Leben in Afghanistan verbrachte, dort aufwuchs, die Schule besuchte und dort seine Sozialisation erfuhr, nach wie vor ausgeprägt sind.
In einer Gesamtabwägung – insbesondere aufgrund der sehr gelungenen Integration des Beschwerdeführers und des langen, der Dauer des Asylverfahrens geschuldeten, Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich – überwiegen dennoch die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Der durch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung verursachte Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers ist somit zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen nicht dringend geboten und daher nicht zulässig (siehe dazu insbes. wieder VwGH 20.04.2020, Ra 2019/21/0323).
Die Rückkehrentscheidung wird daher auf Dauer für unzulässig erklärt.
3.3. Zur Erteilung des Aufenthaltstitels
3.3.1. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und der Drittsstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird.
3.3.2. Im vorliegenden Fall ist – wie oben ausgeführt – der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich zur Aufrechterhaltung seines Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. Weiters absolvierte der Beschwerdeführer die B1 Integrationsprüfung (integrierend mit Werte- und Orientierungskurs) und erfüllt somit das Modul 2 der Integrationsvereinbarung gemäß § 11 Integrationsgesetz, womit gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 leg. cit. auch das Modul 1 erfüllt ist (siehe VwGH 17.04.2020, Ra 2019/21/0251).
Dem Beschwerdeführer ist daher der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten zu erteilen.
3.4. Zur Unzulässigkeit der Revision
3.4.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
3.4.2. Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass bei einer Beschwerdezurückziehung keine Sachentscheidung durch das Gericht mehr getroffen werden kann, die Rückkehr des Beschwerdeführers auf Dauer unzulässig ist und diesem der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist, entspricht der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung plus Deutschkenntnisse Erwerbstätigkeit familiäre Situation Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Sprachkenntnisse Verfahrenseinstellung Zurückziehung der BeschwerdeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W227.2197620.1.00Im RIS seit
18.05.2021Zuletzt aktualisiert am
18.05.2021