Entscheidungsdatum
10.03.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W122 2203218-1/12E
W122 2203220-1/11E
W122 2203219-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX (geb. XXXX , StA. Afghanistan), XXXX (geb. XXXX , StA. Afghanistan) und XXXX (geb. XXXX , StA. Afghanistan), beide Minderjährige gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch die BBU - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.07.2018, Zl. XXXX , XXXX und XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.02.2021, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, § 8 Abs. 1 AsylG und § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.
II. Es wird gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, iVm § 9 Absatz 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idgF festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
III. XXXX , XXXX und XXXX wird gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Erstbeschwerdeführerin (nunmehr „BF1“) ist die Mutter der minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer (nunmehr „BF2“ und „BF3“). Die BF1 stellte am 27.05.2016 nach illegaler Einreise für sich selbst sowie für die beiden miteingereisten minderjährigen BF2 und BF3 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
2. Am 27.05.2016 wurden die BF1 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Die BF1 vermeinte, dass sie in Afghanistan in der Provinz Maidan Wardak geboren worden sei, sie sich zuletzt in dieser Provinz aufgehalten habe und Hausfrau gewesen sei. Sie habe weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung gehabt. Ihr Heimatland habe sie verlassen, weil ihr Mann, der für die Amerikaner gearbeitet habe, entführt worden sei. Die Taliban hätten auch sie und ihre Kinder bedroht und umbringen wollen. Sie habe Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder. Österreich sei ihr Zielland gewesen, weil hier bereits ihre Kinder wären, die mit der ersten Ehefrau ihres Mannes mitgekommen wären.
Für die minderjährigen BF2 und BF3 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
3. Am 19.07.2016 fand die niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser gab die BF1 im Wesentlichen an, dass sie verheiratet, ihr Mann aber verschollen sei. Sie habe vier Kinder von denen zwei bereits in Österreich im Besitz einer Rot-Weiß-Rot Plus Karte wären und zwei mit ihr aus Afghanistan mitgekommen wären. Ihre nicht mitgereisten Kinder wären mit der ersten Ehefrau ihres Mannes und deren drei Söhnen sowie einem Bruder ihres Mannes nach Österreich gekommen und schon seit fünf Jahren hier aufhältig. Ein weiterer Bruder ihres Mannes und die Ehefrau eines Sohnes der Erstfrau ihres Mannes wären zusammen mit der BF1 nach Österreich gereist. Zu allen habe sie eine sehr gute Beziehung. Mit einigen dieser Verwandten würde sie hier in einem gemeinsamen Haushalt leben. In Österreich lebe sie von der Grundversorgung.
4. Am 22.03.2018 fand die niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser gab die BF1 im Wesentlichen an, dass sie gesund sei und in der Provinz Maidan Wardak geboren worden sei. Sie sei afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und eine sunnitische Muslima. Sie habe weder wegen ihrer Religions- noch ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in Afghanistan Probleme gehabt. Sie werde dort auch nicht von den staatlichen Behörden gesucht. Sie habe bereits eine Tazkira vorgelegt und könne nun auch drei Drohbriefe im Original sowie integrationsbezeugende Dokumente vorlegen. Was der Inhalt der Drohbriefe sei, wisse sie nicht.
In Österreich lerne sie Deutsch und sei sonst immer zu Hause. Freitags hole sie immer Geld von der XXXX . Einkaufen gehe hier immer ein männliches Familienmitglied. Ihr Mann sei in Afghanistan entführt worden, wie sie mit dem BF3 schwanger gewesen sei. Ihre Deutschkenntnisse seien noch nicht sehr gut, weil sie Analphabetin sei. Sie sei in der Provinz Maidan Wardak aufgewachsen. Dort würden noch ihre vier Schwestern und ein Bruder leben. Zu diesen Verwandten habe sie allerdings keinen Kontakt mehr, weil diese kein Telefon hätten. Ihr Mann sei Beamter gewesen und habe für die Regierung gearbeitet. In Österreich habe sie neben ihren vier Kindern auch noch zahlreiche Verwandte, wie die Erstfrau ihres Mannes samt deren Kindern sowie einen Schwager. Mit diesem seien ihre ersten beiden Kinder vor über sechs Jahren nach Österreich mitgekommen.
In ihrem Heimatland sei es ihr gut gegangen und sie habe auf Verlangen des Vaters geheiratet sowie die Rolle der Zweitfrau angenommen. Nachdem ihr Mann nicht mehr auffindbar gewesen sei, habe sie Probleme bekommen. Sie habe nicht zum Arzt gehen können und eine Tochter der Erstfrau sei ebenfalls, so wie ihr Mann, verschwunden. Als ihr Ehemann entführt worden sei, habe diese Frau dann auch Afghanistan verlassen. Sie habe dann ebenfalls Afghanistan verlassen wollen. Es wären auch Drohbriefe bei ihrem Vater hinterlassen worden, weil die Taliban ihn und dessen Schwiegersohn gekannt hätten. Der erste Brief sei einen Monat nach dem Verschwinden des Mannes gekommen, der zweite dann drei Wochen später und der dritte irgendwann. Die Erstfrau ihres Mannes sei bereits wenige Tage nach dessen Verschwinden ausgereist. Sie selbst sei zu Hause geblieben und habe gedacht, dass ihr Mann zurückkommen werde. Erst einen Monat später habe sie von einem Schwager erfahren, dass ihr Mann entführt worden wäre. Die Erstfrau habe sich damals im Haus des Mannes in der Nähe von Kabul aufgehalten, während die BF1 bei ihrem Vater gewesen wäre. Sie habe auch nicht gewusst, dass ihre zwei Kinder nach Österreich gebracht worden wären. Dies habe sie auch erst von ihrem Schwager erfahren. Sie habe nach dem Verschwinden und dem Erhalt der Drohbriefe noch drei Jahre in Afghanistan gelebt. Nun sei sie in Sicherheit.
In Afghanistan könne sie als junge Frau ohne Mann nicht leben. Afghanistan habe sie dann vor zwei Jahren verlassen. Ihr Schwiegervater habe ihre Reise organisiert und bezahlt. Sie habe Afghanistan mittels Flug in die Türkei verlassen. Sie wolle Deutsch lernen und Schulbildung für ihre Kinder. Ihr Berufswunsch sei Kassiererin in einem Supermarkt. Auf Erörterung und Abgabe einer Stellungnahme zu den aktuellen Länderfeststellungen verzichtete die BF1.
In den Drohbriefen würde stehen, dass die Taliban auch nach ihr suchen würden und sie zwangsverheiratet werden sollte. Ein Schwager sei wieder zurück nach Afghanistan gegangen, weil seine Familie noch dort gewesen wäre und die Schwiegereltern verstorben wären. Sie wolle zwar kein weiteres Mal heiraten, aber auch nicht von ihren traditionellen Werten ablassen.
5. Mit oben genannten Bescheiden vom 11.07.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass die Angaben der BF1 bezüglich einer Gefährdung in Afghanistan nicht glaubhaft gewesen wären. Die BF1 hätte sich in ihren Angaben über die Entführung ihres Mannes widersprochen, wodurch auf ein fiktives Fluchtvorbringen geschlossen werden müsse. Ebenfalls habe der Bruder des angeblichen Entführungsopfers in seinem Verfahren nichts von dessen Entführung erwähnt. Ebenso würde das Vorbringen, dass die älteren Kinder der BF1 keiner Gefährdung in Afghanistan unterliegen würden und der freiwilligen Rückkehr eines Schwagers auch gegen eine Bedrohungslage der Familie in Afghanistan sprechen. Die vorgelegten Drohbriefe seien dahingehend nicht glaubwürdig, weil diese Jahre nach dem Verschwinden des Ehemannes des BF datiert worden wären und es einerseits nicht plausibel wäre, dass dieser Ehemann der BF1 solange ein Gefangener der Taliban gewesen wäre, andererseits eine Herausgabe der BF1, als noch verheiratete Frau, an die Taliban den afghanischen Sitten enorm widersprechen würde. Ebenfalls habe die BF1 noch über zwei Jahre nach Erhalt des ersten Drohbriefes unbehelligt in Afghanistan bleiben können. Außerdem sei von einer Fälschung auszugehen, zumal diese laut Dolmetscher Grammatikfehler beinhalten, sodass es naheliegen würde, dass keine Person, die Paschtu als Muttersprache habe, diese Briefe verfasst habe. Außerdem habe die BF1 angegeben, dass ihr Vater vor fünf Jahren (Anm.: 2013) verstorben sei. Diese Datumsangabe sei weder mit dem Verschwinden im Jahr 2011 noch mit den ab 2013 erhaltenen Drohbriefen vereinbar gewesen.
Aufgrund der volatilen Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz Maidan Wardak ist den BF eine Rückkehr in diese nicht zumutbar. Es sei den BF daher zuzumuten nach Kabul zurückzukehren und dort für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, zumal sich dort die Schwiegerfamilie der BF1 aufhalten würde, wodurch die BF in einer als relativ sicher erachteten Region Afghanistans auf ein soziales Netz zurückgreifen könnten. Für den Ausspruch der Rückkehrentscheidung hätten die öffentlichen Interessen überwogen, insbesondere, weil die BF1 auch nach zweijährigem Aufenthalt im Bundesgebiet noch immer keinen Wohnsitz mit ihren beiden älteren Kindern begründet habe.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 26.04.2018 (gemeint wohl: 11.07.2018) wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Mit Verfahrensanordnung vom 11.07.2018 wurde ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG für die BF angeordnet.
7. Mit Schreiben vom 07.08.2018 erhoben die BF durch ihre rechtsfreundliche Vertretung vollumfängliche Beschwerde gegen die spruchgegenständlichen Bescheide. Es wurde festgehalten, dass es sich bei der BF1 um eine alleinstehende Frau mit Kindern handeln würde und dieser Personengruppe in Anbetracht der aktuellen Judikatur Asyl gewährt werden würde. Die BF1 habe glaubhafte Angaben zur Entführung ihres Mannes getätigt und sei nur wegen kleiner Widersprüche als gänzlich unglaubwürdig betrachtet worden. Auch gehöre sie einer wegen ihrer unterstellten politischen Gesinnung einer sozialen Gruppe an, die einen besonderen Schutz nach den UNHCR-Richtlinien bedürfe. Sie zeige auch Integrationswillen, weshalb man ihr auch eine westliche Orientierung zubilligen müsste. Diese dürfe nicht unbeachtet bleiben, nur, weil sie nicht ein weiteres Mal heiraten und sie die afghanischen Traditionen beibehalten wolle. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Kabul sei den BF jedenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen, zumal es sich bei der BF1 um eine alleinstehende Frau handeln würde. Eine Rückkehrentscheidung im Falle der BF würde einen unzulässigen Eingriff in deren Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen und gegen Art. 8 EMRK verstoßen, zumal sich die BF1 oftmals mit ihren älteren Kindern treffe und daher ein intensives Familienleben vorlegen würde. Ebenso wurde auch die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
8. Am 07.08.2018 legte das BFA die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor. Dabei wurde auf die Durchführung und einer etwaigen Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verzichtet.
9. Mit Schreiben vom 17.11.2018 legte die rechtsfreundliche Vertretung ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor und beantragte, die erste Ehefrau des Mannes der BF1 sowie die beiden älteren Kinder der BF1, hinsichtlich eines Familienlebens der BF, als Zeugen zu befragen.
10. Mit Schreiben vom 24.11.2020 legte die rechtsfreundliche Vertretung der BF Entscheidungen des Asylgerichtshofes betreffend der Erstfrau des Ehemannes der BF1 und der beiden älteren Kinder der BF1 vor.
11. Mit Schreiben vom 18.01.2021 wurde bekannt gegeben, dass die BF nunmehr die BBU - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH als Rechtsvertretung in gegenständlichem Verfahren bevollmächtigt hätten.
12. Mit Schreiben vom 10.02.2021 legte die rechtsfreundliche Vertretung ein Konvolut an Integrationsunterlagen der BF sowie ärztliche Unterlagen und medizinische Befunde betreffend die BF1 vor.
13. Am 11.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der die BF1, die BF2 und der BF3 sowie ihre rechtsfreundliche Vertretung persönlich teilnahmen. Ebenso waren zwei Vertrauenspersonen anwesend. Ein Vertreter der Behörde nahm, wie bereits in der Beschwerdevorlage vom 07.08.2018 angekündigt, nicht an dieser teil.
Festgehalten wurde, dass die BF1 mit einem Kopftuch erschienen ist, sie jedoch farblich abgestimmte Kleidung trug und sie hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes einen gepflegten Eindruck hinterließ. Nach Vorlage einer Stellungnahme zur BF1 wurde die Verhandlung eröffnet. Nachdem die BF1 angab, keine Einwände gegen den Dolmetscher zu haben und sie diesen gut verstehen würde, gab sie auch an, gesund zu sein. Sie sei aber in ärztlicher Behandlung wegen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Danach folgte die Eröffnung des Beweisverfahrens. Es wurden die aktuellen Länderinformationen besprochen und die BF1 räumte Missverständnisse bei der Ersteinvernahme ein.
Sie gab auch an, nicht zu wissen, wann sie geboren sei. Sie sei Analphabetin und sei nie in eine Schule gegangen. Die BF sei verheiratet, wobei ihr Ehemann verschwunden sei. Sie gehe davon aus, dass ihn die Taliban mitgenommen hätten, weil dieser für die Regierung gearbeitet habe. Sie habe ihn zuletzt vor zehn Jahren in der Provinz Maidan Wardak gesehen, als sie bei ihrem Vater eingeladen gewesen seien. Dieser Mann sei auch der Vater aller vier Kinder. Als dieser verschwunden sei, habe sie noch nichts von ihrer vierten Schwangerschaft gewusst. Zwei ältere Kinder wären in Österreich aufenthaltsberechtigt. Sie sei Muslima und entstamme von Eltern, die der Volksgruppe der Paschtunen und der Tadschiken angehört hätten. Zu ihren Eltern habe sie keinen Kontakt mehr. In ihrer Heimatprovinz würden die Taliban herrschen. Sie selbst kenne sich auch nicht mit Smartphones und Apps aus. Sie verwende dies nur, um die Lehrer ihrer Kinder erreichen zu können. Mit der Erstfrau ihres Mannes habe sie zuletzt heute am Morgen Kontakt gehabt. Die Dolmetscherin vermeinte, dass die BF1 korrektes Dari sprechen würde, was gegebenenfalls Rückschlüsse auf eine Bildung der BF1 zulassen würde. Sie gab an, dass noch Verwandte in Afghanistan leben würden, sie aber keinen Kontakt zu diesen habe. Vier Schwestern und ein Bruder wären dort noch aufhältig. Auf mehrmalige Nachfrage, wann sie den letzten Kontakt zu einer namentlich genannten Schwester gehabt habe, wich die BF1 in ihrer Antwort der Frage aus. Sie konnte auch nicht angeben, wann sie zuletzt Kontakt mit in Afghanistan lebenden Personen gehabt habe. Daraufhin wurde das Handy der BF2 zur Nachschau etwaiger afghanischer Kontaktadressen herangezogen. Die BF2 vermeinte, dass die BF1 dieses Handy nur selten verwenden würde und sie selbst noch nie mit jemanden aus Afghanistan telefoniert habe.
Die BF gab an, dass sie zwar einen Zeitraum in Österreich gewesen sei, wie auch ihr Schwager hier gewesen sei. Dieser sei aber wieder nach Afghanistan zu seiner Familie zurückgegangen. Direkten Kontakt zu diesem habe es aber nicht gegeben. Sie habe sich damals bei der ersten Frau ihres Ehemannes aufgehalten. Sie habe Afghanistan mittels Flugzeug in die Türkei verlassen und sei danach zu Fuß nach Europa aufgebrochen. Sie sei mit ihrem Schwager ausgereist. Dieser sei wieder in Afghanistan und habe in der Zeit, die er in Österreich war, bei seinem Bruder gelebt. Dieser würde hier arbeiten und Essen zustellen. Das habe sie über dessen Frau erfahren. Mit ihm sei sie allerdings nicht in Kontakt. Der zurückgekehrte Schwager gehe in Afghanistan wohl einer Arbeit nach, weil er dort sonst nicht überleben könnte. Nach Afghanistan könne sie nicht zurückgehen. Dort hätten ihr die Taliban Bildung verweigert und sie würden es auch bei ihren Kindern versuchen. Die Taliban hätten sie bereits belästigt, wenn sie ein Buch gekauft hätten. Vor ihrer Ausreise habe sie in Kabul gelebt. Ihr Schwager habe dann das Haus (Anm. nach Nachfrage: ein Grundstück des Ehemannes der BF1) verkauft und sie wären nach Europa gegangen.
Heute sei sie mit dem Auto zur Verhandlung gebracht worden. Mit dem Zug sei sie noch nie gefahren, mit der Straßenbahn schon. Dafür kaufe sie sich immer eine Tageskarte. Sie erhalte Geld von der XXXX und kaufe sich die Kleidung auf einer Seite, die vergünstigte Waren anbietet. Lebensmittel kaufe sie bei den Discountern. Sie gehe alle 15 Tage einkaufen und koche täglich.
In Kabul habe sie nicht länger bleiben können, weil sie eine alleinstehende Frau sei und sie für ihre Kinder eine bessere Zukunft habe wollen. Ihre Schwiegerfamilie habe sie auch ohne Mann in Kabul nicht alleine rausgehen lassen. Auf Nachfrage gab die BF1 an, dass dies überall in Afghanistan so sei und führte auch aus, dass sich die Schwiegerfamilie nicht um sie kümmern hätte können. Sie selbst sei bereits ohne Mann gewesen. In Afghanistan habe sie keine Probleme wegen ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit, sondern nur wegen der Anschläge. Als alleinstehende Frau sei es ihr nicht möglich dort zu leben. Abgesehen von ihrer Schwiegerfamilie habe sie dort niemanden mehr. Auf konkrete Nachfrage, welche Verwandten des Schwagers sich noch in Afghanistan aufhalten würden, wich die BF1 mehrmals aus, sodass festgehalten wurde, sie erweckte den Anschein, ihre familiären Verhältnisse zu verschleiern, zumal diese sie in Kabul wohl unterstützen könnten. Sie vermeinte daraufhin nur, dass sie Probleme gehabt hätten, wie die BF1 noch in Afghanistan gewesen sei, sie aber zu diesen Angehörigen keinen Kontakt mehr habe.
In Österreich würden zwei Kinder bei ihr leben; ihre beiden anderen Kinder würden bei er ersten Ehefrau ihres Mannes leben. Diese habe auch die Obsorge für diese beiden Kinder. Dies habe rechtliche Gründe, weil sie sich noch in einem Asylverfahren befinde. Dies konnte die anwesende Vertrauensperson auch so bestätigen. Sie arbeite in Österreich nicht und besuche zweimal wöchentlich einen Kurs. Abgesehen von ihren hier lebenden Verwandten habe sie keine weiteren privaten Bindungen oder sonstige Verwandtschaftsverhältnisse. Die erste Ehefrau hatte in Afghanistan dieselben Probleme wie sie gehabt. Ihre Kinder sehe sie jedenfalls wöchentlich. Sonstige Bindungen an Österreich habe sie nicht. Sie sei aber glücklich, dass sie sich hier kleiden könne, wie sie wolle und sie einkaufen gehen könne.
Afghanistan habe sie wegen vielerlei Problemen verlassen. Sie habe ihr Heimatland ihrer Kinder zuliebe verlassen, weil die Sicherheits- und Versorgungslage sehr schlecht gewesen wäre. Sie habe auch Angst gehabt, dass ihre Kinder entführt hätten werden können. Ihre ersten beiden Kinder habe sie bei der Familie ihres Mannes zur Welt gebracht. In ihren Herkunftsstaat wolle sie nicht mehr zurück, weil sie dort viele Probleme hätte. Hier sei sie mit ihren Kindern glücklich. In Afghanistan sei sie von den Taliban persönlich bedroht worden, wenn sie sich nicht an die Kleidungsvorschriften gehalten habe. Dies sei auch in Kabul passiert, außerdem habe man sie dort bedroht, wie sie ihre Kinder in den Kindergarten habe bringen wollen. Damit habe sie alle Probleme geschildert, die sie in Afghanistan gehabt habe. In Kabul habe sie jedenfalls im achten Bezirk gewohnt. Ob ihre Kinder sunnitischen oder schiitischen Religionsunterricht erhalten würden, wisse sie nicht. Sie wisse, dass sie Deutschunterricht bekommen würden. Um ihre älteren Kinder werde sie sich nach Abschluss des Verfahrens wieder kümmern. Derzeit gehe es ihnen aber auch bei der ersten Ehefrau ihres Mannes gut.
Abschließend führte die rechtsfreundliche Vertretung aus, dass man bezüglich der Frage der Gewährung von subsidiärem Schutz berücksichtigen müsse, dass die BF1 eine alleinstehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern sei, die im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht selbsterhaltungsfähig wäre. Durch die Coronakrise habe sich die Versorgungslage in Afghanistan noch einmal verschlechtert. Eine Vertrauensperson merkte noch an, dass die BF1 ihre älteren Kinder auch regelmäßig im Park treffe. Diese seien auch ordentliche Schüler und würden, so wie alle anderen Kinder benotet werden.
Danach folgte der Schluss der Verhandlung. Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.
14. Die BF legten im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Afghanische Tazkira
? Drei Drohbriefe (im Original und in der Sprache Paschtu)
? Schulbesuchsbestätigungen der BF2
? Miet- und Stromlieferungsvertrag
? Protokoll der XXXX betreffend BF3
? Teilnahmebestätigungen an Deutsch- und Alphabetisierungskursen der BF1
? Schulzeugnisse betreffend BF2; Schulbesuchsbestätigung betreffend BF3
? Entscheidungen des Asylgerichtshofes betreffend der Erstfrau des Ehemannes der BF1 und der beiden älteren Kinder der BF1
? Teilnahmebestätigungen der BF1 an Integrationskursen und Workshops
? Ein Empfehlungsschreiben und eine Stellungnahme betreffend die BF1
? Ärztliche Unterlagen der BF1
? Aktuelle Schulbesuchsbestätigungen und Mitteilung der Schulen der BF2 und BF3
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund der BF:
Die BF1 führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , die BF2 führt den Namen XXXX , geboren am XXXX und der BF3 führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Sie sind afghanische Staatsangehörige, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.
Zu den Herkunftsprovinzen der BF wird ausgeführt, dass die BF1 aus der Provinz Maidan Wardak stammt und sie nach ihrer Eheschließung in der Provinz Kabul gelebt hat. Die BF1 hat sich zuletzt in Afghanistan sowohl bei ihrer Familie in der Provinz Maidan Wardak, als auch bei ihrer Schwiegerfamilie in der Provinz Kabul aufgehalten. Die BF1 hat zusammen mit der BF2 und dem BF3 Afghanistan von der Provinz Kabul aus verlassen. Dort haben sie sich zuletzt aufgehalten. Die BF1 ist in Afghanistan geboren worden und hat dort keine Schul- oder Berufsausbildung erhalten. Sie war Hausfrau und hat auch keine Arbeitserfahrung gesammelt. Die minderjährigen BF2 und BF3 haben Afghanistan im Kleinkindalter verlassen. In ihrem Heimatland halten sich vier Schwestern und ein Bruder in der Provinz Maidan Wardak auf. Ein Schwager lebt mit seiner Familie in Kabul. Mit diesem ist sie auch zusammen nach Österreich gereist, wobei der Schwager auch die Ausreise organisiert und bezahlt hat. Zwei weitere Kinder der BF leben ebenfalls in Österreich. Diese sind mit der ersten Ehefrau des Mannes der BF1 und deren Kinder nach Österreich gekommen. Die erste Ehefrau des Mannes der BF1 hat die Obsorge der beiden älteren, ebenfalls noch minderjährigen Kinder. Die BF1 hat regelmäßigen Kontakt zu ihren beiden älteren Kindern. Aufgrund rechtlicher Hindernisse, die älteren Kinder der BF1 sind durch eine Rot-Weiß-Rot Plus Karte in Österreich aufenthaltsberechtigt, haben sie keinen gemeinsamen Haushalt bzw. hat die BF1 nicht deren Obsorge. Die erste Ehefrau des Mannes der BF1 ist im Bundesgebiet asylberechtigt.
Der BF1 ist verheiratet, hat aber seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann. BF2 und BF3 entspringen dieser Ehe und sind sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch zum Entscheidungszeitpunkt allesamt minderjährig gewesen.
Die BF1 bis BF3 stellten nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 27.05.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
In Österreich hat die BF1 mehrere Alphabetisierungs- und Integrationskurse besucht. Sie hat keine tiefergehenden Sprachkurse sowie Sprachprüfungen abgelegt. Die BF1 war in Österreich weder gemeinnützig noch in einem Arbeitsverhältnis tätig.
BF2 und BF3 besuchen in Österreich die Schule und weisen hierdurch entsprechende Deutschkenntnisse auf.
Alle BF sind gesund und leiden im Entscheidungszeitpunkt an keinen schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankungen. Es wird nicht verkannt, dass die BF1 in ärztlicher Behandlung ist und aktuell an Kopfschmerzen und Schlafstörungen leidet.
Die Muttersprache der BF ist Dari, wobei die BF1 auch Paschtu versteht.
Die BF verfügen in Österreich mit den oben angeführten Verwandten über soziale Anknüpfungspunkte in Form von familiären Bindungen und sind um Integration bemüht.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Es wird festgestellt, dass die BF weder von den Taliban noch von einer sonstigen regierungsfeindlichen Gruppierung landesweit verfolgt worden sind; sie sind in Afghanistan nicht individuell und konkret bedroht worden.
Die BF1 begründete ihren Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass ihr Mann, der für die Amerikaner gearbeitet habe, entführt worden sei. Die Taliban hätten auch sie und ihre Kinder bedroht und umbringen wollen. Sie habe Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder. Für die minderjährigen BF2 und BF3 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Im Verfahren vor dem BFA blieb die BF1 bei diesem Vorbringen, führte ihren Fluchtgrund detaillierter aus und ergänzte diesen dahingehend, dass sie diesen durch die Vorlage von Drohbriefen zu untermauern versuchte.
Jedoch konnte sie dieses Vorbringen nicht glaubhaft machen, weil es sich bei Gesamtbetrachtung sämtlicher im Verlauf des Verfahrens getätigten Angaben in entscheidenden Punkten als widersprüchlich sowie als nicht schlüssig und nicht plausibel erwiesen hat und sie sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG auch nicht mehr auf diese Fluchtgründe berief.
Die BF waren vor der Ausreise aus Afghanistan auch keiner sonstigen, konkreten individuellen Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt. Festgestellt wird, dass die BF im Falle einer Rückkehr nicht einer landesweiten Verfolgung durch eine regierungsfeindliche Gruppierung ausgesetzt sind.
Die BF sind in Afghanistan weder vorbestraft noch wurden sie dort jemals inhaftiert und hatten auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Die BF waren nie politisch tätig und gehörten nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung oder Bedrohung, auch aus Gründen ihres Aufenthaltes in Europa, ausgesetzt wären.
Es kann festgestellt werden, dass es den BF möglich und zumutbar wäre, sich in das afghanische Gesellschaftssystem (neuerlich) zu integrieren. Es kann auch festgestellt werden, dass den minderjährigen BF2 bis BF3 auf Grund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan keine physische oder psychische Gewalt droht und sie deswegen einer Verfolgung ausgesetzt wären.
1.2.1. Zur Verfolgung der BF1 auf Grund ihrer als Frau behaupteten „westlichen Orientierung“:
Es wird festgestellt, dass die BF1 im Herkunftsstaat nicht allein aufgrund ihres Geschlechts einer Verfolgung ausgesetzt ist.
Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die BF1 spricht zum Entscheidungszeitpunkt nur wenig Deutsch und hat auch bisher keine Sprachprüfungen abgelegt. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder, wie sie es auch in Afghanistan getan hat. Sie tätigt lediglich selbstständig Einkäufe und hat in Österreich auch nicht das Kopftuch abgelegt.
Es wird festgestellt, dass die BF1 während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Ihrem Interesse an Kosmetik und Kleidung könnte sie auch in einer afghanischen Großstadt nachkommen, weshalb das Tragen von westlicher Kleidung und Schminken nicht ausreichend sind, um das Gesellschaftsbild einer westlich orientierten Frau vermitteln zu können. Die BF1 hat sich ansonsten im Zuge ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen und Gesellschaftsbild orientiert.
Die BF1 konnte die Werte der Freiheit nicht als die eigenen beschreiben. Sie nannten lediglich die hier in Österreich üblichen Verhaltensweisen, nicht jedoch eine verinnerlichte Einstellung zu den Werten der Freiheit. Ein intellektuell durchdachtes Wertegerüst, in welchem Freiheit hinterfragt wurde, konnte sie weder nennen oder gar näher ausführen.
Der Umgang mit Freunden und der Wunsch nach Ergreifung eines Berufs, resultieren daraus, dass die BF1 durch das Leben in Österreich, mit diesen im Bundesgebiet üblichen Verhaltensweisen im Zuge ihres Aufenthaltes in Kontakt gekommen ist und von der BF1 übernommen wurden.
Die freie Wahl der Kleidung auf die hier üblichen Freiheiten zu begründen, stellt keine innere Zuwendung zu den Werten der Freiheit dar.
Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht näher substantiiert vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen. Das Vorbringen hinsichtlich der Verfolgung durch die Taliban hielt die BF1 nicht aufrecht.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr der BF:
Im Falle einer Verbringung der BF in den Herkunftsstaat droht kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Den BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Maidan Wardak, die als volatile Provinz eingestuft wird, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar. Da deren weitere Herkunftsprovinz Kabul, nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt und sich die BF1 in dieser ebenfalls einen längeren Zeitraum aufgehalten hat sowie die BF dort durch einen aufhältigen Schwager über ein soziales Netz verfügen, ist eine Rückkehr in diese möglich.
Die BF1 ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist den BF – abgesehen von einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans nicht zumutbar, zumal sie zu einer volatilen Personengruppe, alleinstehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern, zählen. Einer Ansiedelung in der Stadt Kabul ist nur aufgrund des vorhandenen sozialen Netzes über den Schwager und die Familie ihres Mannes zumutbar, ohne dieses würden sie in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr der BF nach Kabul ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Die BF leiden an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde; sie sind nicht schwer krank. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der BF1.
Für den Fall, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Unterstützung von ihren in Österreich lebenden Verwandten erhalten würde, haben die BF jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Die BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.
Die BF sind mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache ihres Herkunftsstaates vertraut, weil sie sich in ihrem Heimatland in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen sind und sie sich auch im Bundesgebiet in einem afghanisch geprägten Umfeld aufhalten.
Die BF haben familiäre Anknüpfungspunkte in ihrem Herkunftsstaat. Insbesondere halten sich Angehörige der Schwiegerfamilie der BF1 (wieder) in der Provinz Kabul auf. Da die BF1 durch allgemeingültige Angaben und ausweichenden Antworten zu ihren in Afghanistan aufhältigen Verwandten den Eindruck vermittelte, dass sie die wahren Kontakte zu ihren Verwandten verschleiert, ist davon auszugehen, dass der Kontakt zur Verwandtschaft in Afghanistan aufrecht ist, insbesondere zu ihrem in Kabul lebenden Schwager. Es ist auch davon auszugehen, dass er die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan unterstützen würde, zumal dieser auch deren Ausreise organisiert und bezahlt hat sowie er mit ihnen zusammen nach Europa gereist ist.
1.4. Zum Leben in Österreich:
Die BF reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit 27.05.2016 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom 27.05.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Die BF haben in Österreich zahlreiche Familienangehörige. Insbesondere sind die zwei älteren, aber ebenfalls noch minderjährigen Kinder der BF1 in Österreich bei der ersten Ehefrau des Mannes aufhältig. Auch wenn die BF1 keinen gemeinsamen Wohnsitz mit diesen hat und die Obsorge der ersten Ehefrau des Mannes hat, ist zu erwähnen, dass dies nicht das aufrechte Familienleben zu ihren Kindern ausschließt, zumal es rechtliche Gründe hat, wenn die Kinder bereits fünf Jahre vor der BF1 nach Österreich gekommen und mittlerweile im Besitz einer Rot-Weiß-Rot Plus Karte sind. Es ist glaubhaft davon auszugehen, dass die BF1 nach der Beendigung ihres Asylverfahren wieder mit all ihren vier Kindern zusammenleben wird. Sie verfügt über aufrechte familiäre Bindungen, in die im Falle des Ausspruches einer Rückkehrentscheidung in besonderen Maße eingegriffen werden würde, zumal es sich hierbei um zwei ihrer leiblichen Kinder handelt, zu denen sie schon in Afghanistan ein familiäres Verhältnis gehabt hat.
Die BF pflegen in Österreich hauptsächlich Kontakt zu ihren ebenfalls aus Afghanistan stammenden aufenthaltsberechtigten Verwandten. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Die BF sind keine Mitglieder von politischen Parteien und sind auch sonst nicht politisch aktiv. Die BF sind auch keine Mitglieder von Vereinen. BF2 und BF3 besuchen in Österreich die Schule.
Die BF1 besuchte Alphabetisierungs- und Integrationskurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen bestätigen. Sie ist in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf bloß elementarer Basis zu kommunizieren.
Die BF1 lebt von der Grundversorgung und ist in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig. Sie verfügt weder über eine Einstellungszusage noch ist sie gemeinnützig tätig gewesen. Eine wirtschaftliche Integration ist der BF1 nicht gelungen.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Länderspezifische Anmerkungen
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (12.2020) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.
Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen
COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM,23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher
Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNO- CHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Programm) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).
0. Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG
Erläuterung
Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.
Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.
Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:
Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.
1.5.1. Politische Lage
Letzte Änderung: 14.12.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Orga