TE Bvwg Beschluss 2021/3/12 W133 2238391-1

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Veröffentlicht am 12.03.2021
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Entscheidungsdatum

12.03.2021

Norm

BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W133 2238391-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Vorsitzende und den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 09.09.2020, betreffend Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in dem Behindertenpass, den Beschluss gefasst:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang

Die Beschwerdeführerin stellte, damals noch vertreten durch einen gerichtlich bestellten Erwachsenenvertreter, am 04.05.2020 Anträge auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung und Aufnahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ im Behindertenpass.

Die belangte Behörde holte in der Folge Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde vom 06.08.2020 und Allgemeinmedizin inklusive Zusammenfassung beider Gutachten vom 12.08.2020 ein. Beide Gutachten wurden ausschließlich auf Grundlage des vorliegenden Aktes ohne persönliche Untersuchung der Beschwerdeführerin erstellt. In dem zusammenfassenden allgemeinmedizinischen Gutachten vom 12.08.2020 wurden ohne Grundlagen einer persönlichen Untersuchung und daher auch ohne Darstellung der Statuserhebung die Funktionseinschränkungen den Leidenspositionen

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Position

GdB %

1

Komplexe posttraumatische Belastungsstörung, komb. Persönlichkeitsstörung, Mischbild bei schizoaffektiver Störung, Panikstörung, Somatoforme Schmerzstörung

Unterer Rahmensatz, da keine schwerwiegenden kognitiven Einbußen beschrieben

03.07.02

50

2

Hörstörung beidseits

Tabelle Z4/K5. Unterer Rahmensatz berücksichtigt die resultierende Diskriminationsschwäche

12.02.01

50

3

Abnützungen Wirbelsäule, Schmerzen

Oberer Rahmensatz, da chronifiziertes Geschehen

02.01.01

20

4

Zustand nach Kniegelenksprothese rechts, Abnützung Kniegelenk links
Unterer Rahmensatz, da keine ausgeprägte Bewegungseinschränkung nachweisbar

02.05.19

20

zugeordnet und nach der Einschätzungsverordnung ein Gesamtgrad der Behinderung von 60 v.H. eingeschätzt. Begründend führte die Gutachterin aus, Leiden 1 werde durch Leiden 2 um eine Stufe erhöht, da es sich als Sinnesleiden erschwerend im Alltag auswirke. Die übrigen Leiden hätten keinen negativen Einfluss auf das führende Leiden. In einer Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten führte die nunmehrige Gutachterin aus, die Leiden des Vorgutachtens von 04/2020 seien ohne Änderungen übernommen worden. Das HNO-Leiden aus dem (aktuellen) HNO-Gutachten sei nun in Leiden 2 angeführt worden.

In dem Gutachten vom 12.08.2020 wurde in Bezug auf die beantragte Zusatzeintragung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel Folgendes ausgeführt.

„Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

Es sind keine erheblichen Einschränkungen der Extremitäten beschrieben. Das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke und das Überwinden üblicher Niveauunterschiede sind zumutbar, der sichere Transport ist möglich. Es sind auch keine erheblichen Einschränkungen der psychischen oder intellektuellen Funktionen beschrieben, die die Benützung der ÖVM erheblich erschweren würden. Da die Diagnose Klaustrophobie, Soziophobie oder phobische Angst vor Kontrollverlust nicht als Hauptdiagnose oder als entsprechend gewichtiges Element in einer anderen Diagnose enthalten ist, ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar.“

Bei dem Vorgutachten von 04/2020, auf das in dem obigen Sachverständigengutachten vom 12.08.2020 Bezug genommen wurde, handelt es sich um das Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie vom 03.04.2020, welches aus Anlass eines damaligen Antrages der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses eingeholt worden und worin ein Gesamtgrad der Behinderung von 50% medizinisch festgestellt worden war. Auch dieses neurologisch/psychiatrische Vorgutachten vom 03.04.2020 war ohne persönliche Untersuchung aufgrund der Aktenlage erstellt worden.

Mit Schreiben vom 12.08.2020 räumte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin ein förmliches Parteiengehör gemäß § 45 AVG samt Möglichkeit zur Stellungnahme ein. Das eingeholte Gutachten vom selben Tag wurde der Beschwerdeführerin als Beilage übermittelt.

Es langte innerhalb der gewährten Frist keine Stellungnahme bei der belangten Behörde ein.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 09.09.2020 wies die belangte Behörde den Antrag vom 04.05.2020 auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in dem Behindertenpass ab.

Begründend stützte sich die belangte Behörde in diesem Bescheid auf die Aktengutachten vom 06.08.2020 (Fachgebiet HNO) und vom 12.08.2020 (Allgemeinmedizin, zusammenfassend), deren Ergebnisse sie als schlüssig erkannte und der Entscheidung zugrunde legte.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit E-Mailschreiben vom 20.10.2020 fristgerecht eine Beschwerde. Darin führt die Beschwerdeführerin zusammengefasst aus, bei ihr lägen erhebliche psychische Einschränkungen vor, weshalb ihr die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei. Sie könne in öffentliche Verkehrsmittel nicht einmal einsteigen, da sie in eine Panikattacke verfalle. Aus diesem Grund ersuche sie neuerlich um die beantragte Zusatzeintragung. Im Anhang übersende sie entsprechende Schreiben ihrer Betreuerinnen. Der Beschwerde legte sie einen psychotherapeutischen Befund vom 21.09.2020 und einen Befund eines sozialpsychiatrischen Ambulatoriums vom 23.09.2020 bei. In beiden Befunden wird zusammengefasst ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin nicht in der Lage sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen.

Die belangte Behörde legte dem Bundesverwaltungsgericht am 07.01.2021 die Beschwerde und den Bezug habenden Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A) Aufhebung des angefochtenen Bescheides und Zurückverweisung:

Gemäß § 27 VwGVG (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz) hat das Verwaltungsgericht, soweit nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben ist, den angefochtenen Bescheid auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Zur Klarstellung sei vorab darauf hingewiesen, dass sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde ausschließlich gegen die Abweisung ihres Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in dem Behindertenpass wendet.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer eheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Nach dem klaren Wortlaut des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ist Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung nach dieser Bestimmung das Fehlen notwendiger Ermittlungen des Sachverhaltes seitens der belangten Behörde.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG somit insbesondere auch dann in Betracht, wenn die Behörde bloß ansatzweise ermittelt hat bzw. gravierende Ermittlungslücken im verwaltungsbehördlichen Verfahren bestehen (vgl. nochmals das oben zitierte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063).

Der angefochtene Bescheid erweist sich betreffend den Abspruch über die Zusatzeintragung der "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in dem Behindertenpass in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als gravierend mangelhaft:

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen."

§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 in der Fassung des BGBl. II Nr. 263/2016, lautet auszugsweise:

„§ 1 ...

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen: 

1. die Art der Behinderung, etwa dass der Inhaber/die Inhaberin des Passes

a)…

b)…

2. ...  

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und 

- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder 

- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder 

- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder 

- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder 

- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach Abs. 4 Z 1 lit. b oder d vorliegen.

(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(6)..."

Gemäß § 1 Abs. 5 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen bildet die Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.02.2011, 2007/11/0142, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 18.12.2006, 2006/11/0211, und vom 17.11.2009, 2006/11/0178, jeweils mwN.).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde vom 06.08.2020 und Allgemeinmedizin inklusive Zusammenfassung beider Gutachten vom 12.08.2020 eingeholt, als schlüssig erachtet und der Entscheidung zugrunde gelegt. Beide Gutachten wurden – ebenso wie das neurologisch/psychiatrische Vorgutachten vom 03.04.2020 - ausschließlich auf Grundlage des vorliegenden Aktes ohne persönliche Untersuchung der Beschwerdeführerin erstellt. Betreffend die Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erweist sich das, diese Frage beurteilende allgemeinmedizinische Gutachten vom 12.08.2020 jedoch als unvollständig und unschlüssig: Die Beschwerdeführerin machte bereits in ihrem Antrag Panik- und Angstattacken seit 2015 geltend und nannte auch namentlich die sie behandelnde Fachärztin für Psychiatrie. Sie legte zur Untermauerung ihres Antrages auch einen Befund dieser sie behandelnden Fachärztin für Psychiatrie vom 20.04.2020 vor, worin zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sehr belastend sei, da in solchen Situationen traumatische Erlebnisse stattgefunden hätten. Eine längere Anreise mittels öffentlicher Verkehrsmittel sei für die Beschwerdeführerin nicht möglich, da dies zu starken Angstzuständen führe, die auch mit Bedarfsmedikation nicht beherrschbar seien.

In dem, dem nunmehr angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Sachverständigengutachten vom 12.08.2020 wird der genannte psychiatrische Befund vom 20.04.2020 unter dem Punkt „Zusammenfassung relevanter Befunde“ nicht einmal erwähnt. Auch an anderer Stelle des Gutachtens fand keine Auseinandersetzung damit statt. Eine persönliche Untersuchung der Beschwerdeführerin unterblieb ebenso, obwohl auch bereits das psychiatrische Vorgutachten vom 03.04.2020 – damals möglicherweise coronabedingt – lediglich aktenmäßig erstellt worden war. Das Gutachten enthält auch keine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich insbesondere das Leiden 1 „Komplexe posttraumatische Belastungsstörung, kombinierte Persönlichkeitsstörung, Mischbild bei schizoaffektiver Störung, Panikstörung, Somatoforme Schmerzstörung“ auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt.

Das Gutachten vom 12.08.2020 hätte daher von der belangten Behörde ohne entsprechende Ergänzungen durch die beigezogene Gutachterin der gegenständlichen Entscheidung betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in dem Behindertenpass nicht zugrunde gelegt werden dürfen.

Nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat die belangte Behörde ein ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist. Ein solches Gutachten liegt im gegenständlichen Fall jedoch nicht vor, findet sich darin doch – wie eben schon ausgeführt - betreffend die Beurteilung der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel keine vollständige und nachvollziehbare Begründung. Die Feststellung der Gutachterin, dass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar sei, da die Diagnose Klaustrophobie, Soziophobie oder phobische Angst vor Kontrollverlust nicht als Hauptdiagnose oder als entsprechend gewichtiges Element in einer anderen Diagnose enthalten sei, wird den dargestellten Anforderungen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht gerecht. Dies umso mehr, als weder eine Auseinandersetzung mit dem von der Beschwerdeführerin beigebrachten Befund, noch eine persönliche Untersuchung stattgefunden hat.

Die Beschwerdeführerin legte weiters zur Untermauerung ihres Beschwerdevorbringens einen psychotherapeutischen Befund vom 21.09.2020 und einen Befund eines sozialpsychiatrischen Ambulatoriums vom 23.09.2020 vor. In beiden Befunden wird zusammengefasst wiederum ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer psychiatrischen Leiden nicht in der Lage sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen. Dem vorgelegten Verwaltungsakt sind keinerlei Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens im Rahmen eines Beschwerdevorentscheidungsverfahrens betreffend diese Befunde zu entnehmen.

Das von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten vom 12.08.2020 wird somit den Anforderungen an die Schlüssigkeit und Vollständigkeit eines Gutachtens in Bezug auf die im gegenständlichen Verfahren entscheidungserheblichen Fragen nicht gerecht, erweist sich als grob ergänzungsbedürftig und unschlüssig und daher im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, einer abschließenden Entscheidung zugrunde gelegt zu werden.

Die belangte Behörde machte von der ihr gemäß § 14 VwGVG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung (die unter anderem auch dazu dienen kann, anlässlich des Beschwerdevorbringens bei allenfalls gleichbleibendem Bescheidergebnis wesentliche Sachverhalts- oder auch Begründungselemente nachzutragen) keinen Gebrauch und legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde mit dem Verwaltungsakt zur Entscheidung vor.

Im gegenständlichen Fall ist jedenfalls davon auszugehen, dass die belangte Behörde im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den Sachverhalt – bezogen auf den konkreten Verfahrensgegenstand der Frage der (Un)Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – nur ansatzweise ermittelt hat bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in entscheidungswesentlichen Fragen an das Bundesverwaltungsgericht delegiert hat.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen grob mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren ein höherer Aufwand verbunden ist und dem Bundesverwaltungsgericht gerade betreffend das Fachgebiet der Psychiatrie nur eine äußerst eingeschränkte Anzahl von Amtssachverständigen des SMS zur Verfügung steht.

Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren, sollte weiterhin eine Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in dem Behindertenpass beabsichtigt werden, ein neues, vollständiges und nachvollziehbares Sachverständigengutachten auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung der Beschwerdeeinwendungen und der vorliegenden Befunde einzuholen haben.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG als geboten.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung (vgl. die oben zitierten Entscheidungen des VwGH sowie auch etwa VwGH vom 25.01.2017, Ra 2016/12/0109), des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W133.2238391.1.00

Im RIS seit

20.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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