TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/18 W164 2239718-1

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Veröffentlicht am 18.03.2021
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Entscheidungsdatum

18.03.2021

Norm

AlVG §16
AVG §69
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W164 2239718-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Vorsitzende sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert POROD (aus dem Kreis der ArbeitgeberInnen) und Mag. Kurt RETZER (aus dem Kreis der ArbeitnehmerInnen) als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice vom 27.11.2020, Zl. VSNR. XXXX AMS Melk, nach Beschwerdevorentscheidung vom 03.02.2021, GZ: WF 2020-0566-3-001805, nach Durchführung einer im Umlaufweg gem. §11 des Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in der Justiz , BGBl I Nr. 16/2020 in der Fassung BGBl Nr. I 156/20 durchgeführten nicht öffentlichen Beratung zu Recht erkannt.

A)

Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs 1, Abs 2 und Abs 5 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die nunmehrige Beschwerdeführerin (im Folgenden BF) stellte am 16.06.2020 einen Antrag auf Arbeitslosengeld. Im Antragsformular gab sie an, keinen Anspruch auf Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung zu haben.

Dem Antrag beigefügt wurde ein Schreiben der ehemaligen Dienstgeberin der BF, der XXXX GmbH über die einvernehmliche Auflösung des Dienstverhältnisses per 15.06.2020. Darin wird festgehalten, dass die BF den bereits genehmigten Urlaub von 18.5. bis 29.5.2020 (=9 Tage) verbraucht habe und dass ein zusätzlicher Urlaubsverbrauch von 02.6. bis 15.06.2020 (=9Tage) vereinbart werde.

Bei der Österreichischen Gesundheitskasse wurde die BF von ihrer ehemaligen Dienstgeberin per 10.07.2020 abgemeldet, wobei für die Zeit von 16.06.2020 bis 10.07.2020 eine Urlaubsersatzleistung gespeichert wurde.

Mit Bescheid vom 22.06.2020 hatte das Arbeitsmarktservice (im folgenden AMS) den Anspruch der nunmehrigen BF für den Zeitraum von 16.06.2020 bis 30.06.2020 wegen Bestehens eines Anspruches auf Ersatzleistung (Entschädigung, Abfindung) für Urlaubsentgelt, ruhend gestellt. Dieser Bescheid wurde rechtskräftig.

Die ehemalige Dienstgeberin der BF hat die die BF betreffende Abmeldung von der Sozialversicherung mit 09.07.2020 dahingehend geändert, dass die oben genannte Speicherung einer Urlaubsersatzleistung storniert wurde.

Die BF stellte daraufhin mit 12.11.2020 per e-AMS einen Antrag auf Wiederaufnahme des mit rechtskräftigem Bescheid vom 22.06.2020 abgeschlossenen Ruhensverfahrens.

Diesen Antrag hat das AMS mit dem nun gegenständlichen Bescheid vom 27.11.2020, AMS Melk, wegen Nichteinhaltung der Antragsfrist zurückgewiesen. Begründend führte das AMS im Wesentlichen aus, die BF habe dem AMS seinerzeit, am 22.06.2020, die Richtigkeit der damaligen Speicherung der Urlaubsersatzleistung telefonisch bestätigt. Seitens „des Rechtsanwalts der BF, Mag. XXXX “ (Anm.: gemeint ist offenbar der Vertreter der ehemaligen Dienstgeberin der BF) sei ausgeführt worden, dass die BF bereits Ende Juli 2020 Kenntnis von der Stornierung der Urlaubsersatzleistung erlangt habe. Die Frist für die Einbringung des Antrages auf Wiederaufnahme von zwei Wochen sei somit nicht eingehalten worden.

Gegen diesen Bescheid erhob die BF fristgerecht Beschwerde und führte aus, es treffe sie keine Schuld an der von ihrer ehemaligen Dienstgeberin veranlassten ursprünglich falschen Abmeldung von der Sozialversicherung. Die BF rege an, den Bescheid vom 22.06.2020 von Amts wegen zu berichtigen und ihr Arbeitslosengeld auch für den Zeitraum von 16.06.2020 bis 30.06.2020 zu gewähren.

Mit Beschwerdevorentscheidung vom 03.02.2021, GZ: WF 2020-0566-3-001805, wurde diese Beschwerde abgewiesen. Die im erstinstanzlichen Bescheid vertretene Begründung wurde bestätigt.

Dagegen erhob die BF fristgerecht einen Vorlageantrag, regte erneut an den Bescheid vom 22.06.2020 von Amts wegen zu berichtigen und führte aus, sie habe von ihrer ehemaligen Dienstgeberin kein Schreiben sondern lediglich die Abrechnung und die Richtigstellung der Abmeldung bei der ÖGK erhalten. Für sie sei damals nicht erkennbar gewesen, dass sie einen „Wiedereinsetzungsantrag“ (Anm.: gemeint war offenbar ein Wiederaufnahmeantrag) hätte stellen müssen. Die BF sei mit dem Verfahren vor dem AMS nicht vertraut und hätte manuduziert werden müssen.

Mit Schreiben vom 19.2.21 wurde der Beschwerdeakt vom AMS dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Hinsichtlich der Feststellungen wird auf die unter Punkt I. „Verfahrensgang“ gemachten Ausführungen verwiesen.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt. Der Sachverhalt ist soweit hier wesentlich unbestritten. Die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht beantragt und erscheint nicht geboten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 56 Abs. 2 AlVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und einer aus dem Kreis der Arbeitnehmer. Im vorliegenden Fall war daher Senatszuständigkeit gegeben.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Da im vorliegenden Fall zu prüfen ist, ob die vom AMS vorgenommene Entscheidung der vom AMS anzuwendenden Rechtslage entsprach, war § 68 AVG in der anzuwendenden Fassung heranzuziehen.

Gemäß § 68 Abs 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, AVG, sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

Gemäß § 69 Ans 1 Z 2 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.

Gemäß § 69 Abs 2 AVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

§ 68 Abs 1 AVG zielt darauf ab, die wiederholte Aufrollung einer bereits „entschiedenen Sache“ ohne nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage zu verhindern.

§ 68 Abs 1 AVG ist daher nur bei Identität der Sache anzuwenden. Durch eine Änderung der entscheidungsrelevanten Fakten verliert die Sache ihre ursprüngliche Identität. Hat sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt, der dem formell rechtskräftigen Bescheid zu Grunde lag, geändert, liegt nicht entschiedene Sache vor. Tritt durch neu entstandene Tatsachen eine wesentliche Änderung der Sachlage ein, kann von der Behörde auf Antrag oder von Amtswegen eine neue Entscheidung getroffen werden („nova producta“, „nova causa superveniens“).

Von einer Änderung des Sachverhalts zu unterscheiden ist das nachträgliche Hervorkommen von Umständen, die die Unrichtigkeit des in Rechtskraft erwachsenen Bescheides dartun. Solche Umstände können lediglich unter den Voraussetzungen des § 69 AVG einen Wiederaufnahmegrund bilden: § 69 Abs 1 Z 2 AVG setzt voraus, dass neue Tatsachen oder Beweise hervorgekommen sind, die im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits bestanden haben, aber nicht bekannt waren und ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten („nova reperta“) (Quelle: Hengstschläger-Leeb, AVG,Verlag Manz, 2009, RZ 25ff zu § 68, RZ 28ff zu §69).

Bei einem Wiederaufnahmegrund iSd § 69 Abs 1 Z 2 AVG muss es sich nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes somit um neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel handeln, also um solche, die bereits zur Zeit des Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden. Erst nach Abschluss des seinerzeitigen Verfahrens entstandene Tatsachen und Beweismittel können keinen Wiederaufnahmegrund bilden (vgl. VwGH 91/09/0196 vom 20.02.1992; 2006/18/0031 vom 17.02.2006).

Im vorliegenden Fall wurde die ursprüngliche Abmeldung der BF von der Sozialversicherung per 10.07.2020 nachträglich – also nach Erlassen des eingangs genannten Bescheides vom 22.06.2020 - auf das Datum 15.06.2020 geändert. Es liegt ein geänderter Sachverhalt vor, dem die Rechtskraft des Bescheides vom 22.06.2020 nicht entgegensteht.

Insoweit die BF mit ihrem Antrag vom 12.11.2020 ausdrücklich die Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 22.06.2020 abgeschlossenen Verfahrens beantragt hat, wird auf folgende Judikatur verwiesen:

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 21.04.2004, 2001/08/0077 betreffend einen Pensionsantrag ausgeführt hat, sind Pensionsanträge unvertretener Parteien in sozialer Rechtsanwendung und im Sinne des Rechtsschutzes der antragstellenden Partei auszulegen. Bestehen Zweifel über die mit dem Antrag verfolgte Parteiabsicht, ist die Behörde verpflichtet, den Parteiwillen - etwa durch Vernehmung der Partei - klarzustellen.

Diese Judikatur ist zwar nicht unmittelbar einschlägig. Der hier vorliegende Sachverhalt zeigt aber eine vergleichbare besondere Schutzwürdigkeit der antragstellenden Partei auf. Auch die BF war im hier gegenständlichen Verfahren unvertreten. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen wäre das AMS daher verpflichtet gewesen, den von der BF ausdrücklich auf die Wiederaufnahme des eingangs genannten Verfahrens gerichteten Antrag inhaltlich dahingehend zu prüfen, ob er als neuer Antrag aufgrund eines geänderten Sachverhaltes aufgefasst werden konnte bzw. das Antragsbegehren soweit erforderlich durch Kontaktaufnahme mit der antragstellenden Partei klarzustellen oder diese zur Präzisierung ihres Antrages aufzufordern. Im vorliegenden Fall richtet sich das Antragsbegehren im Übrigen erkennbar darauf, dass die mit Bescheid vom 22.06.2020 ausgesprochene Ruhendstellung des Arbeitslosengeldes aufgrund der nun vorliegenden Sachlage neu geprüft werden möge.

Zusammenfassend ergibt sich:

Das von der BF im vorliegenden Fall geltend gemachte Antragsbegehren macht einen geänderten Sachverhalt geltend. Eine Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 22.06.2020 abgeschlossenen Verfahrens erübrigt sich. Die Rechtskraft des erlassenen Bescheides steht dem vorliegenden Antrag nicht entgegen. Der vorliegende Bescheid war daher aufzuheben. Der Antrag der BF vom 12.11.2020 ist unerledigt. Die belangte Behörde wird den von der BF geltend gemachten neuen Sachverhalt inhaltlich zu prüfen haben und darüber durch Bescheid in der Sache zu entscheiden haben.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben angeführte umfangreiche Rechtsprechung des VwGH zu den in der Beschwerde angesprochenen Punkten); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.


Schlagworte

Antragsbegehren Antragsfristen Antragstellung Arbeitslosengeld geänderte Verhältnisse Parteiwille Ruhen des Anspruchs Urlaubsersatzleistung Wiederaufnahmeantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W164.2239718.1.00

Im RIS seit

17.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

17.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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