TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/19 W145 2235610-1

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Veröffentlicht am 19.03.2021
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Entscheidungsdatum

19.03.2021

Norm

ASVG §18a
ASVG §669 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W145 2235610-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Daniela HUBER-HENSELER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , SVNR XXXX , gegen den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt vom 28.07.2020, AZ XXXX , wegen Abweisung des Antrages auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes ( XXXX , SVNR XXXX 96) zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben, der angefochtene Bescheid behoben und festgestellt, dass XXXX von 01.10.2005 bis 31.08.2008 zur Selbstversicherung in der Pensionsversicherung gemäß § 18a iVm § 669 Abs. 3 ASVG berechtigt ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid vom 28.07.2020, AZ XXXX , hat die Pensionsversicherungsanstalt (im Folgenden: belangte Behörde) den Antrag von XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführerin), SVNR XXXX , auf Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes gemäß § 18a iVm § 669 Abs. 3 ASVG, betreffend ihre Tochter XXXX , SVNR XXXX 96, abgelehnt.

Begründend wurde ausgeführt, dass ein Bezug einer Geldleistung aus der Kranken- bzw. Arbeitslosenversicherung vorliege und somit Versicherungsmonate erworben werden. Zudem liege kein Bezug einer erhöhten Familienbeihilfe im Sinne des § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBL. Nr. 376 vor. Da sie ihr Kind überwiegend erzogen habe, werde ab dem Monatsersten nach der Geburt des Kindes bis zum Höchstausmaß von 48 Kalendermonaten Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung erworben. Die Tochter XXXX , leide an einer primären Laktoseintoleranz

und einer Fructose- und Histaminunverträglichkeit. Aufgrund des festgestellten Leidenszustandes sei eine Selbstversicherung nach § 18a ASVG wegen ständiger persönlicher

Hilfe und besonderer Pflege des behinderten Kindes nicht gerechtfertigt.

2. Mit Schreiben vom 20.08.2020 erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde und brachte vor, dass sie rückwirkend für die Zeit von Oktober 2005 bis August 2008 Versicherungszeiten erwerben möchte. Erhöhte Familienbeihilfe für ihre Tochter XXXX sei von Juni 2001 bis August 2010 gewährt worden.

3. Am 01.10.2020 legte die belangte Behörde die verfahrensgegenständliche Rechtssache dem Bundesverwaltungsgericht vor und erstattete eine Äußerung zum Vorbringen der Beschwerdeführerin.

4. Am 29.10.2020 erging ein Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts an die Beschwerdeführerin mit ergänzenden Fragen zum Hilfe- und Pflegebedarf.

5. Mit Schreiben vom 01.12.2020 langte das Antwortschreiben der Beschwerdeführerin ein.

6. Mit Schreiben vom 30.12.2020 wurde die belangte Behörde über das Beweisverfahren verständigt und ihr die Möglichkeit gegeben binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben.

7. Mit Schriftsatz vom 15.01.2021 erstattete die belangte Behörde eine Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführerin stellte am 20.12.2018 einen Antrag auf rückwirkende Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege des behinderten Kindes XXXX , geboren am XXXX 1996, gemäß § 18a ASVG iVm § 669 Abs. 3 ASVG.

1.2. In der Beschwerde schränkte die Beschwerdeführerin den (beantragten) Zeitraum auf Oktober 2005 bis August 2008 ein.

1.3. Im Zeitraum Juni 2001 bis August 2010 bezog die Beschwerdeführerin erhöhte Familienbeihilfe im Sinne des § 8 Abs. 4 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) für ihre Tochter.

1.4. Die Beschwerdeführerin und ihre Tochter hatten im verfahrensgegenständlichen Zeitraum ihren gemeinsamen Wohnsitz im Inland.

1.5. Die Tochter der Beschwerdeführerin hatte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet. Pflegegeld wurde für die Tochter nicht bezogen; auch war die Tochter weder bettlägrig noch von der allgemeinen Schulpflicht gänzlich befreit.

1.6. Die Tochter der Beschwerdeführerin leidet unter einer primären Lactoseintoleranz sowie einer Fructose- und Histaminunverträglichkeit.

1.6.1. Es gibt unter anderem folgende Nahrungsmittelunverträglichkeiten: Neben Lactoseintoleranz und Fructose- und Histaminunverträglichkeit noch Glutenunverträglichkeit (Zöliakie).

1.7. Der Betreuungsaufwand der Beschwerdeführerin bestand auf mehreren Ebenen: Zunächst hatte die Beschwerdeführerin dafür Sorge zu tragen, dass ihrer Tochter täglich laktose-, histamin- und fructosefreie Speisen zur Verfügung standen. Das hat eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Inhaltsstoffen der Lebensmittel erfordert und deren tägliche frische Zubereitung. Weitere Aufgaben der Beschwerdeführerin waren die Anleitung und Überprüfung ihrer Tochter, dass sie ausschließlich lactose-, histamin- und fructosefreie Lebensmittel zu sich nehmen durfte, sowie die Information der Kontaktpersonen wie Lehrer über die Erkrankung und die Erforderlichkeit der Diät. Ein Bedarf an Pflege der Tochter durch die Beschwerdeführerin, die die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin überwiegend beansprucht, konnte sohin festgestellt werden.

1.8. Im Zeitraum Oktober 2005 bis August 2008 war die Beschwerdeführerin geringfügig beschäftigt.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Ausführungen zum Verfahrensgang und den Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts.

2.2. Die Feststellung betreffend den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe ergibt sich aus der Mitteilung des Finanzamtes XXXX vom 24.04.2020.

2.3. Die Feststellung betreffend den Wohnsitz ergibt sich aus den nicht bestrittenen Angaben der Beschwerdeführerin. Auch die Feststellungen zum Nichtvorliegen eines Pflegegeldbezugs, einer Bettlägrigkeit und zum Vorliegen der allgemeinen Schulpflicht sind unstrittig.

2.4. Die Feststellung, dass die Tochter der Beschwerdeführerin noch nicht das 40. Lebensjahr vollendet hat, ergibt sich aus deren unstrittigen Geburtsdatum.

2.4. Die Lebensmittelunverträglichkeiten der Tochter der Beschwerdeführerin ergeben sich aus den glaubhaften Angaben der Beschwerdeführerin sowie aus der von der belangten Behörde eingeholten Stellungnahme des chefärztlichen Dienstes vom 07.10.2014.

2.5. Eine Nahrungsmittelunverträglichkeit äußert sich dadurch, dass nach dem Verzehr bestimmter Lebensmittel regelmäßig körperliche Beschwerden auftreten. Die Symptome entstehen, weil der Körper entweder allergisch auf bestimmte Inhaltsstoffe und Bestandteile reagiert, oder weil ihm die Werkzeuge fehlen um diese Stoffe richtig zu verarbeiten. Typische Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind etwa Laktose-, Gluten-, Fruktose-, Histamin- und Glutamatunverträglichkeit.

2.6. Die Feststellungen betreffend den Betreuungsaufwand der Beschwerdeführerin ergeben sich aus deren glaubhaften und nachvollziehbaren Angaben.

Weiters wurden diesen Feststellungen zwei Gutachten aus Verfahren anderer Gerichtsabteilungen (W228 2130094-1 und W164 2112507-2), die in einem ausführlichen Schreiben über die Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 30.12.2020 an die belangte Behörde herangetragen, zugrunde gelegt. Diesen ausführlichen Gutachten wurden Fragestellungen betreffend den Betreuungsaufwand bei der Pflege eines behinderten Kindes, das unter (dort verfahrensgegenständlich) Zöliakie leidet, zugrunde gelegt.

Im hier vorliegenden Gerichtsakt findet sich eine von der belangten Behörde eingeholte Stellungnahme des chefärztlichen Bereiches aus dem Jahr 2014. Dieses Gutachten wurde in Folge eines Antrages der Beschwerdeführerin auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18a iVm § 669 Abs. 3 ASVG vom 19.06.2013 eingeholt. In dieser Stellungnahme des chefärztlichen Dienstes vom 07.10.2014 wird lapidar festgehalten, dass eine Selbstversicherung nach § 18a ASVG wegen ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege des behinderten Kindes nicht gerechtfertigt sei. In weiterer Folge wurde der Antrag aus dem Jahr 2013 abgewiesen und ist dieser in Rechtskraft erwachsen. In dem verfahrensgegenständlichen Bescheid weist die belangte Behörde das Begehren der Beschwerdeführerin unter anderem mit der Begründung ab, dass die Selbstversicherung wegen ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege nicht gerechtfertigt sei. Es wird darauf hingewiesen, dass sich seit der einholten Stellungnahme aus dem Jahr 2014 die Rechtslage (nämlich im Jahr 2015) geändert hat, wonach § 18a ASVG nicht mehr die ständige Hilfe fordert, sondern die überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft. Seitens der belangten Behörde wurde verfahrensgegenständlich kein neuerliches Gutachten unter dem Aspekt der „überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft“ eingeholt, sondern allem Anschein nach, das Gutachten aus dem Jahr 2014 herangezogen.

Wie bereits oben festgestellt, existieren verschiedene Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Tochter der Beschwerdeführerin leidet unter drei dieser Unverträglichkeiten. Gemeinsam sind den Nahrungsmittelunverträglichkeiten Beschwerden im Verdauungstrakt nach Verehr der unverträglichen Inhaltsstoffe. Nachdem sich bei ALLEN Lebensmittelunverträglichkeiten der (Betreuungs-)Aufwand immer um die Lebensmittelbeschaffung und –zubereitung und Motivation richtet, konnten die oben erwähnten Gutachten in einem Größenschluss auf den verfahrensgegenständlichen Fall angewendet werden. Die genannten Gutachten wurden auch der belangten Behörde im Wege des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Die belangte Behörde trat diesen überhaupt nicht entgegen, weshalb das erkennende Gericht die Gutachten betreffend Zöliakie in Analogie auf die medizinisch anerkannten Lebensmittelunverträglichkeiten anwendet.

Zunächst ist anzumerken, dass sich, wie sich aus beiden Gutachten ergibt, die Lebensmittelbeschaffung bei einer Unverträglichkeit bis 01.01.2012 äußerst schwierig gestaltete. Ab diesem Zeitpunkt trat die EG-Verordnung Nr. 41/2009 zur Zusammensetzung und Kennzeichnung von Lebensmitteln, die für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit geeignet sind, in Kraft und seit diesem Zeitpunkt konnte kein erheblicher Mehraufwand mehr festgestellt werden.

Der von der Beschwerdeführerin beantragte Zeitraum betrifft allerdings die Jahre davor – nämlich 2005 bis 2008 -, in welchen noch keine Kennzeichnungspflicht der Lebensmittel normiert war. Somit war wie beschrieben zunächst schon die Beschaffung der Lebensmittel für die Beschwerdeführerin erheblich erschwert und stellte einen großen Aufwand dar. Diesbezüglich wird eine aus dem Gutachten des Erkenntnisses W228 2130094-1 für den Beschwerdefall entscheidungsrelevante Passage zitiert: „In den Gutachten vom 14.07.2017 wird ausgeführt, dass sich die persönliche Hilfe und Wartung im Zubereiten und Einhalten einer streng glutenfreien Diät erstreckt hat. Die Beschwerdeführerin hat lernen müssen, glutenfrei zu kochen und sich glutenfreie Lebensmittel zu beschaffen. Dies ist damals noch schwierig gewesen, da in Österreich noch keine Kennzeichnungspflicht vorgeschrieben gewesen war. Dies hat sich erst ab 01.01.2012 merklich verbessert. Ab diesem Zeitpunkt war die EG-VO Nr. 41/2009 in Kraft getreten und mussten seit diesem Zeitpunkt glutenfreie Nährstoffe gekennzeichnet werde. Wäre die glutenfreie Diät nicht erfolgt, hätte es bei den Kindern der Beschwerdeführerin einen erheblichen Entwicklungsrückstand gegeben. Sie wären untergewichtig geblieben, es wäre Kleinwuchs aufgetreten und hätte es unter Umständen eine tödliche Komplikation gegeben. Die pflegerischen Leistungen der glutenfreien Diät mussten mehrmals täglich erbracht werden. Im konkreten Fall war allein die Beschwerdeführerin verantwortlich gewesen, dass ihre Kinder eine glutenfreie Diät bekommen und war die Sicherstellung einer richtigen Ernährung für ihre Kinder einzig an der Beschwerdeführerin hängen geblieben. Zudem habe sie erhebliche Mühe darauf verwenden müssen, für ihre Umgebung Aufklärungsarbeit zu leisten und habe sie ihre Kinder psychisch unterstützen müssen.“ Einen ähnlichen Aufwand schildert auch die Beschwerdeführerin. Nachdem auch ihr Sohn (geboren im Jahr 1987) an denselben Intoleranzen leidet wie ihre Tochter, musste sie eine Zeit lang zwei heranwachsende Kinder gleichzeitig betreuen. Die Beschwerdeführerin schildet glaubhaft, dass ihr erhöhter Arbeitsaufwand bereits bei Einkauf und Lebensmittelzubereitung begonnen hat. Sie schildert weiter, dass immer frisch gekocht werden musste, was ihren glaubhaften Angaben nach, täglich fünf Stunden in Anspruch nahm. Bei einem Ernährungsfehler reagierten die Kinder meist mit Erbrechen, Durchfall und Hautausschlägen, was einen erhöhten Pflegeaufwand für die Beschwerdeführerin bedeutete. Auch schildert die Beschwerdeführerin, wie auch in dem oben zitierten Gutachten erwähnt, dass sie Aufklärungsarbeit in Kindergarten und Schule leisten musste, da zu dieser Zeit kaum jemand über diese Intoleranzen und deren Folgen Bescheid wusste.

Die Beschwerdeführerin schildert, dass ihre Tochter aufgrund ihres jungen Alters die Einschränkungen nur sehr schwer verstehen konnte. Mit Beginn der Schulpflicht wirkten sich die physischen Einschränkungen auch auf die Psyche ihrer Tochter aus, da sie nicht wie ihre Freundinnen alles unbeschwert essen konnte und immer fürchten musste einen Ernährungsfehler zu machen und in diesem Fall unter den Folgen leiden zu müssen. Die Beschwerdeführerin schildert glaubhaft, dass sie aus diesen Gründen ihre Tochter in der Volksschule bei Schulausflügen und Sportveranstaltungen begleiten musste. Diese, in höherem Alter dann psychische, Unterstützung durch die Beschwerdeführerin, hat dieser sehr viel abverlangt.

Diese durchaus glaubhaften und nachvollziehbaren Schilderungen der Beschwerdeführerin decken sich auch mit einem Gutachten Dris. XXXX , Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, Oberarzt für pädiatrische Gastroenterologie der Landesklinik XXXX , aus dem Verfahren zu W164 2103063-1, auf welches im Erkenntnis zu W164 2112507-1 Bezug genommen wird: „Für einen intelligenten und differenzierten erwachsenen Menschen ist die spezielle Diätführung kein unüberwindbares Problem, da genug glutenfreie Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Eine schmackhafte ausgewogene und gesunde Ernährung ist mit erhöhtem, jedoch vertretbaren Aufwand möglich (…). Die glutenfreie Ernährung von Kindern stellt dagegen ein bedeutendes Problem dar: Durch die vielen Nahrungsmittelverbote seien Kinder leicht stigmatisiert und würden häufig in eine Außenseiterposition geraten. Die Krankheitseinsicht und die Notwendigkeit zur Diätführung ist im Kleinkindalter schwer zu vermitteln. Im jugendlichen Alter kommt es im Rahmen des Ablösungsprozesses vom Elternhaus häufig zu einer Verweigerung, die Krankheit und ihre Behandlung zu akzeptieren. Mehrere Faktoren sind notwendig damit eine restriktive Diät im Kindesalter durchgeführt werden kann: Die Einsicht, krank zu sein, die Akzeptanz der Krankheit, die Bereitschaft, die Krankheit zu behandeln und das spezielle Wissen zur Diätführung zusammen mit den Fertigkeiten die Nahrung entsprechend zuzubereiten. Krankheitseinsicht und Krankheitsakzeptanz sind dann am einfachsten zu vermitteln, wenn das Kind bei Glutenkontakt mit körperlichen Symptomen reagiere und wenn die Behandlung bereits im Kleinkindalter begonnen wird. Wenn das Kind die Auswirkungen des Genusses glutenhaltiger Nahrung nicht (negativ) wahrnimmt, ist es umso schwerer, die Notwendigkeit einer glutenfreien Ernährung zu vermitteln. Mit guter elterlicher Führung und professioneller Unterstützung durch geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kindergarten und Schule gelingt dies im Kleinkindsalter und Schulkindesalter erfahrungsgemäß bei 70 bis 80 % der betroffenen Familien. Im Pubertätsalter kommt es häufig zu schweren Diätverstößen, die eine geduldige Intervention und Überzeugungsarbeit von Eltern und ärztlichen Betreuerteam erfordert.

Die Nennung eines bestimmten Alters, ab dem ein Kind im Allgemeinen selbst in der Lage ist, bei altersentsprechender Aufklärung seine Krankheit und den notwendigen besonderen Ernährungsplan zu beherrschen und gleichzeitig einen seinem Alter angemessenen Alltag zu leben, ist medizinisch nicht einfach und eindeutig möglich: Hier besteht die Abhängigkeit von vielen individuellen Faktoren (Krankheitseinsicht, Krankheitsakzeptanz, Pubertätsverlauf). Die Komplexität einer glutenfreien Ernährung darf dabei nicht unterschätzt werden. Wenn unter einer so restriktiven Ernährung das Essen schmackhaft, gesund und ausgewogen sein soll, ist viel Wissen und Können im Hinblick auf die Nahrungszubereitung erforderlich. In der Regel sind Kleinkinder und Schulkinder nicht in der Lage, eine angemessene Auswahl an komplexen Gerichte zuzubereiten. Berücksichtigen muss man auch, dass neben der reinen Vermittlung von Wissen und Können auch die kontinuierliche Motivierung des Kindes durch die Eltern zum Durchführen und Durchhalten der Diät erforderlich ist. Erst im jugendlichen Alter besteht erfahrungsgemäß die Reife, das Wissen und das Können, eine glutenfreie Ernährung konsequent selbständig zuzubereiten. (…)“

Im verfahrensgegenständlichen Zeitraum war die Tochter der Beschwerdeführerin neun bis dreizehn Jahre alt. Befand sich somit im Schulalter und in der beginnenden Pubertät. Neben der Essenszubereitung musste die Beschwerdeführerin, wie von ihre nachvollziehbar geschildert und auch in dem oben zitierten Gutachten geschildert, viel Aufklärungs- und Motivationsarbeit leisten und ihre Tochter so auch psychisch unterstützen.

2.7. Die Feststellungen zur geringfügigen Tätigkeit der Beschwerdeführerin im Zeitraum Oktober 2005 bis August 2008 ergeben sich aus dem im Akt aufliegenden Daten der Versicherungsdatei.

2.8. Entfall der mündlichen Verhandlung

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag, oder wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine mündliche Verhandlung in Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK unterbleiben, wenn besondere beziehungsweise außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigen (vgl. EGMR 05.09.2002, Speil/Österreich, Appl. 42057/98, VwGH 17.09.2009, 2008/07/0015). Derartige außergewöhnliche Umstände hat der EGMR etwa bei Entscheidungen über sozialversicherungsrechtliche Ansprüche, die ausschließlich rechtliche oder in hohem Maße technische Fragen aufwerfen, als gegeben erachtet. Hier kann das Gericht unter Berücksichtigung der Anforderungen an die Verfahrensökonomie und Effektivität von einer mündlichen Verhandlung absehen, wenn der Fall auf Grundlage der Akten und der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien als angemessen entschieden werden kann (vgl. EGMR 12.11.2002, Fall Döry, Appl. 28.394/95, Z 37 ff.; EGMR 8.2.2005, Fall Miller Appl. 55.853/00).

Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteienantrages von der Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und der Entfall der mündlichen Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1985, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Abl. Nr. 83 vom 30.03.2010, S. 389 entgegenstehen. Im gegenständlichen Fall ergab sich klar aus der Aktenlage, dass von einer mündlichen Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache mehr zu erwarten war und sich der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als hinreichend geklärt darstellte. Die belangte Behörde führte ein ordnungsgemäßes Beweisverfahren durch. Der Sachverhalt war weder in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig noch erschien er in entscheidenden Punkten als nicht richtig. Es wurden keine Rechts- und Tatfragen aufgeworfen, deren Lösung eine mündliche Verhandlung erfordert hätte (vgl. ua VwGH 18.06.2012, B 155/12, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt unbestritten und die Rechtsfrage von keiner besonderen Komplexität ist).

Dem Entfall der mündlichen Verhandlung stehen weder Art. 6 Abs.1 EMRK noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Nach § 9 Abs. 2 Z 1 VwGVG ist belangte Behörde in den Fällen des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat – vorliegend die Pensionsversicherungsanstalt.

§ 414 Abs. 1 ASVG normiert die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung über Beschwerden gegen Bescheide eines Versicherungsträgers.

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

In Ermangelung einer entsprechenden Anordnung der Senatszuständigkeit liegt im gegenständlichen Fall Einzelrichterzuständigkeit vor.

3.2. Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. Nr. 33/2013, idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.3. Prüfungsumfang und Entscheidungsbefugnis des Bundesverwaltungsgerichts

§ 27 VwGVG legt den Prüfungsumfang fest und beschränkt diesen insoweit als das Verwaltungsgericht (bei Bescheidbeschwerden) prinzipiell (Ausnahme: Unzuständigkeit der Behörde) an das Beschwerdevorbringen gebunden ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren [2013], Anm. 1 zu § 27 VwGVG). Konkret normiert die zitierte Bestimmung: „Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung aufgrund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.“

Wie in der Beschwerde vom 20.08.2020 ausgeführt wird seitens der Beschwerdeführerin der verfahrensgegenständliche rückwirkend beantragte Zeitraum auf Oktober 2005 bis August 2008 eingeschränkt.

Die zentrale Regelung der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG. Die vorliegend relevanten Abs. 1 und 2 dieser Bestimmung lauten wie folgt:

„§ 28 (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1.       der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.“

Gegenständlich steht der maßgebliche Sachverhalt im Sinne des 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG fest. Das Bundesverwaltungsgericht hat folglich in der Sache selbst zu entscheiden.

3.4. Zu A) Stattgabe der Beschwerde

Gemäß § 18a Abs. 1 ASVG können sich Personen, die ein behindertes Kind, für das erhöhte Familienbeihilfe im Sinne des § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376, gewährt wird, unter überwiegender Beanspruchung ihrer Arbeitskraft in häuslicher Umgebung pflegen, solange sie während diese Zeitraumes ihren Wohnsitz im Inland haben, längstens jedoch bis zu Vollendung des 40. Lebensjahres des Kindes, in der Pensionsversicherung selbst versichern. Gemeinsamer Haushalt besteht weiter, wenn sich das behinderte Kind nur zeitweilig wegen Heilbehandlung außerhalb der Hausgemeinschaft aufhält. Eine Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes kann jeweils nur für eine Person bestehen.

§ 669 Abs. 3 ASVG lautet: „Die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18a ASVG kann auf Antrag von Personen, die irgendwann in der Zeit seit dem 1. Jänner 1988, die zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Voraussetzungen für diese Selbstversicherung erfüllt haben, nachträglich beansprucht werden, und zwar für alle oder einzelne Monate, längstens jedoch für 120 Monate, in denen die genannten Voraussetzungen vorlagen. § 18 Abs. 2 ist sinngemäß anzuwenden.“

Die Übergangsvorschrift des § 669 Abs. 3 ASVG regelt den rückwirkenden Erwerb von Pensionsversicherungszeiten. Diese Bestimmung ermöglicht eine rückwirkende Antragstellung um Ausmaß von höchstens 120 Monaten und kann diese rückwirkende Selbstversicherung für ganze Monate in Anspruch genommen werden, die im Rahmenzeitraum zwischen 01.01.1988 und 31.12.2012 liegen – dies bei Erfüllung der Voraussetzungen für diese Versicherung.

Im verfahrensgegenständlichen Zeitraum wohnte die Tochter mit der Beschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt und bezog diese auch erhöhte Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 3 FLAG 1967. Wie festgestellt sind auch die im § 18 a ASVG geforderten übrigen formalen Voraussetzungen erfüllt und unstrittig.

Im Beschwerdefall ist nunmehr vielmehr zu erörtern, ob die Arbeitskraft der Beschwerdeführerin durch die Pflege ihrer Tochter im fraglichen Zeitraum überwiegend beansprucht war. Wie festgestellt und ausführlich in der Beweiswürdigung dargelegt, beanspruchte der Betreuungsaufwand durch Essensbeschaffung und –zubereitung sowie durch sonstige weitere Unterstützung (wie zB Aufklärungsarbeit, Motivationsgespräche, etc.) ihrer Tochter die Beschwerdeführerin überwiegend, wonach die Voraussetzungen für die rückwirkende Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege ihres behinderten Kindes XXXX im Zeitraum Oktober 2005 bis August 2008 iSd § 18a iVm § 669 Abs. 3 ASVG jedenfalls gegeben sind.

Zum Einwand der belangten Behörde die geringfügige Beschäftigung der Beschwerdeführerin im verfahrensgegenständlichen Zeitraum betreffend beschreibt Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 18a ASVG RZ 10 Folgendes: „Anders als bisher schließt freilich nicht nur die (Möglichkeit zur) Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung die Berechtigung zur Selbstversicherung nach § 18a nicht aus. Vielmehr ist eine solche neben jeder Beschäftigung möglich, die noch keine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft der betreffenden Person zur Folge hat. Eine Pflichtversicherung aufgrund einer (oder mehrerer) Erwerbstätigkeit(en) im Ausmaß von insgesamt bis zu 20 Wochenstunden wird daher idR unproblematisch sein. Diese Sichtweise wird auch durch die Auslegung des Kriteriums „erheblicher Beanspruchung“ in § 18b Abs. 1 gestützt, die der VwGH ab einem durchschnittlichen Aufwand für die Pflege von zumindest 14 Stunden pro Woche annimmt.“

Wie aus dem Kommentar ableitbar schadet eine geringfügige Beschäftigung der Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG nicht.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

3.5. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Die Abweisung der Beschwerde ergeht in Anlehnung an die oben zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum ASVG. Die gegenständliche Entscheidung weicht daher weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch mangelt es an derartiger Rechtsprechung; sie ist auch nicht uneinheitlich. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage liegen nicht vor.

Schlagworte

Arbeitskraft geringfügige Beschäftigung Pensionsversicherung Pflege Pflegebedarf Selbstversicherung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W145.2235610.1.00

Im RIS seit

18.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

18.05.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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