TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/22 G308 2193021-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.03.2021
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Entscheidungsdatum

22.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G308 2193019-1/10E
G308 2193025-1/7E
G308 2193022-1/8E
G308 2193021-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerden 1.) des XXXX (alias: XXXX ), geboren am XXXX , 2.) der XXXX , geboren am XXXX , 3.) der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , und 4.) des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit: Irak, die beiden letzteren gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2018 und 04.04.2018, Zahlen: zu 1.) XXXX , zu 2.) XXXX , zu 3.) XXXX , und zu 4.) XXXX , betreffend die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.01.2021, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wird XXXX (alias: XXXX ), geboren am XXXX , XXXX , geboren am XXXX , mj. XXXX , geboren am XXXX , und mj. XXXX , geboren am XXXX , jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX (alias: XXXX ), XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.

B)       

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die minderjährige Drittbeschwerdeführerin sowie der minderjährige Viertbeschwerdeführer.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer reisten gemeinsam mit dem Bruder des Erstbeschwerdeführers illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gemeinsam am 15.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 stellten.

Am 16.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers und der Zeitbeschwerdeführerin zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz statt.

Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin wurde am XXXX in Österreich geboren. Am 25.08.2016 beantragten die Beschwerdeführer für die nachgeborene Drittbeschwerdeführerin die Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005.

Die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, fand jeweils am 19.03.2018 statt.

Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes vom 20.03.2018 wurden die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz des Erstbeschwerdeführers, der Zweitbeschwerdeführerin sowie der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (jeweils Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt II.) abgewiesen, den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde am XXXX in Österreich geboren. Am 29.03.2018 beantragten die Beschwerdeführer auch für den nachgeborenen Viertbeschwerdeführer die Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 04.04.2018 wurde sodann auch der Antrag des minderjährigen Viertbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen, dem Viertbeschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz ihrer bevollmächtigten Rechtsvertretung vom 11.04.2018, beim Bundesamt am 13.04.2018 einlangend, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen, den Beschwerden stattgeben und den Beschwerdeführern den Status der Asylberechtigten oder allenfalls der subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist; in eventu die angefochtenen Bescheide aufheben und die Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen.

Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 19.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

Mit der Ladung zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugleich aktuelle Länderberichte zum Herkunftsland Irak, nämlich das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020, übermittelt und den Beschwerdeführern zugleich die Möglichkeit zur Stellungnahme bis spätestens zur mündlichen Beschwerdeverhandlung eingeräumt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 05.01.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sowie ihre Rechtsvertretung und ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Die gegenständlichen Beschwerdeverfahren wurden vom Bundesverwaltungsgericht zur gemeinsamen Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG verbunden.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden von den Beschwerdeführern ergänzende Unterlagen, darunter eine übersetzte Heiratsurkunde, ein arabischer Drohbrief, der vom Dolmetscher in der Verhandlung übersetzt wurde, eine Kopie einer Zeitung vom 16.05.2013 mit einem vom Erstbeschwerdeführer verfassten Zeitungsartikel, die Kopie eines syrischen Presseausweises, ein arabischer Dienstvertrag vom 01.10.2014 sowie einen arabischen Zeitungsartikel über die Ermordung eines Journalisten vom 06.05.2015, die ebenfalls vom Dolmetscher in der mündlichen Verhandlung übersetzt wurden, und darüber hinaus noch weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführer führen die im Spruch jeweils angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum), sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind seit XXXX 2015 standesamtlich als auch traditionell miteinander verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die jeweils in Österreich nachgeborene minderjährige Drittbeschwerdeführerin und der minderjährige Viertbeschwerdeführer (vgl. etwa Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 91 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 65 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Kopie irakische Reisepässe des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin, AS 263 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Kopie irakischer Staatsbürgerschaftsnachweis, AS 135 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Kopie irakischer Personalausweis, AS 137 f Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer und AS 79 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Kopie irakischer Führerschein, AS 139 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Kopie irakische Heiratsurkunde samt deutscher Übersetzung, AS 63 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Kopien der österreichischen Geburtsurkunden der minderjährigen Beschwerdeführer, AS 9 Verwaltungsakt Drittbeschwerdeführerin und AS 3 Verwaltungsakt Viertbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 14).

Der Erstbeschwerdeführer ist in XXXX (im Folgenden: B.)/Gouvernement Diyala/Irak geboren und aufgewachsen und hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre die Mittelschule und drei Jahre ein Gymnasium besucht. Anschließend eröffnete er in B. einen eigenen Copy-Shop. Am 29.11.2006 zog er mit seiner Familie, daher seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Syrien, in die Umgebung von Damaskus, wo er in einer Druckerei und auch als Journalist bei einem kleinen TV-Sender arbeitete. Er studierte auch ein Jahr Journalismus in Damaskus, schloss das Studium aber nicht ab. Die Familie des Erstbeschwerdeführers kehrte wegen des Syrien-Krieges am 03.12.2012 wieder zurück in den Irak nach B./Diyala, wo sie bis 20.09.2015 lebten. Der Erstbeschwerdeführer begann nach seiner Rückkehr nach B. im Dezember 2012 für eine Zeitung, XXXX (phon.), zu arbeiten und schrieb auch Zeitungsartikel, die Zeitung wurde etwa ein Jahr später eingestellt. Von Jänner bis September 2014 arbeitete der Erstbeschwerdeführer wieder in einer Druckerei in B., bevor er vier Monate (jedenfalls von 01.10.2014 bis 31.12.2014) für eine Hilfsorganisation tätig war. Anfang März 2015 begann neuerlich für den ehemals in Syrien tätigen Satelliten-TV-Sender XXXX (phon.) als Techniker bis Ende Oktober 2015 in Bagdad zu arbeiten. Nach Beendigung seiner Tätigkeit beim TV-Sender Ende Oktober war er für einen Monat lang als Taxifahrer in Bagdad erwerbstätig. Die Familie des Erstbeschwerdeführers zog Ende September 2015 für zwei Monate nach Bagdad, wo der Erstbeschwerdeführer auch die Zweitbeschwerdeführerin heiratete und mit seiner Mutter, seinem nunmehr ebenfalls in Österreich aufhältigen Bruder und einer Schwester im Stadtteil XXXX wohnte, während sein Vater bereits auf dem Weg nach Österreich gewesen ist (vgl. etwa Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 97 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; UNHCR Refugee Certificate vom 29.11.2006, AS 23 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; aktenkundige Kopien syrischer und irakischer Presseausweise, AS 79 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 11 ff; in der Verhandlung vorgelegter und übersetzter Dienstvertrag vom 01.10.2014, Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 12).

Die Mutter und eine der drei Schwestern des Erstbeschwerdeführers leben seit 2019 in Istanbul/Türkei. Zur Mutter hat der Erstbeschwerdeführer regelmäßig Kontakt. Zwei weitere Schwestern des Erstbeschwerdeführers sind verheiratet und leben nach wie vor im Irak, eine davon in Bagdad, die andere im Gouvernement Diyala (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 97 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 7; Verhandlungsprotokoll zu den Verfahren G308 2179385-1 und G308 2179344-1 vom 29.09.2020, S 5 ff).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Bagdad/Irak geboren und aufgewachsen. Sie hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre eine Mittelschule, drei Jahre ein Gymnasium und zwei Jahre eine akademische Ausbildung für Rechnungswesen und Betriebswirtschaftslehre absolviert. Gleich anschließend hat sie den Erstbeschwerdeführer geheiratet, ging bisher keiner Erwerbstätigkeit nach und war Hausfrau (vgl. Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 5 ff).

Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin ist bereits 2007 verstorben. Ihre Mutter kam mit ihren Einkünften als Reinigungskraft für den Unterhalt der Familie auf und lebt nach wie vor in Bagdad, Distrikt XXXX bzw. XXXX im gemeinsamen Haushalt mit den zwei Brüdern der Zweitbeschwerdeführerin. Zur Mutter hat sie unregelmäßig telefonischen Kontakt. Auch die vier Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin leben noch in Bagdad, aber in anderen Bezirken als die Mutter. In Österreich hat die Zweitbeschwerdeführerin – abgesehen vom Erstbeschwerdeführer, ihren Kindern sowie dem Schwager und Schwiegervater keine Familienangehörigen (vgl. Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 71 Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 6 ff).

Der Vater des Erstbeschwerdeführers reiste bereits im Oktober 2015 aus dem Irak aus und stellte am 20.10.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.11.2017, Zahl XXXX , vollinhaltlich abgewiesen. Das Beschwerdeverfahren des Vaters des Beschwerdeführers ist zur Zahl G308 2179385-1 anhängig und zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht entschieden (vgl. Fremdenregisterauszug vom 08.02.2020; Einsicht in den Gerichtsakt zur Zahl G308 2179385-1).

Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der Bruder des Erstbeschwerdeführers (dessen Beschwerdeverfahren ist beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2179344-1 anhängig) reisten gemeinsam am 29.11.2015 legal aus dem Irak von Bagdad aus auf dem Luftweg nach Istanbul/Türkei. Von dort aus reisten sie teils selbstständig, teils schlepperunterstützt über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien bis nach Österreich, wo sie jeweils am 15.12.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten (vgl. etwa Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 5 ff Erstbeschwerdeführer; Erstbefragung vom 16.12.2015, AS 1 ff Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS 101 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer; Niederschrift Bundesamt vom 19.03.2018, AS ).

Der Bruder des Erstbeschwerdeführers reiste gemeinsam mit ihm und der Zweitbeschwerdeführerin in das Bundesgebiet ein und stellte hier ebenso am 15.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.11.2017, Zahl XXXX , vollinhaltlich abgewiesen. Das Beschwerdeverfahren des Vaters des Beschwerdeführers ist zur Zahl G308 2179344-1 anhängig und zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht entschieden (vgl. Fremdenregisterauszug vom 08.02.2020; Einsicht in den Gerichtsakt zur Zahl G308 2179344-1).

Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin wurde am XXXX .2016 in Österreich geboren. Am 25.08.2016 beantragten die Beschwerdeführer für die nachgeborene Drittbeschwerdeführerin die Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 (vgl. Kopie österreichische Geburtsurkunde, AS 9 Verwaltungsakt Drittbeschwerdeführerin).

Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde am XXXX .2018 in Österreich geboren. Am 29.03.2018 beantragten die Beschwerdeführer auch für den nachgeborenen Viertbeschwerdeführer die Durchführung eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 (vgl. Kopie österreichische Geburtsurkunde, AS 3 Verwaltungsakt Viertbeschwerdeführer).

Die Beschwerdeführer sind gesund, der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführer zudem arbeitsfähig. Die Beschwerdeführer leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die im Irak nicht behandelbar wären (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 4).

Der Erstbeschwerdeführer verfügt über ein ÖSD-Deutsch-Sprachzertifikat auf Niveau A1 (vgl. AS 123 f Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer) und hat einen Deutschkurs auf Niveau A2 besucht, die Integrationsprüfung jedoch nicht bestanden. Er konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung die auf Deutsch an ihn gerichteten und nicht übersetzten Fragen verstehen und beantworten. Die Zweitbeschwerdeführerin hingegen hat bisher keine Deutsch-Sprachprüfung erfolgreich abgelegt und auch nicht die an sie im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gerichteten Fragen auf Deutsch verstanden oder beantwortet (vgl. ua. Verhandlungsprotokoll vom 05.01.2021, S 8). Der Erstbeschwerdeführer hat auch diverse Integrationskurse besucht (vgl. aktenkundiges Konvolut an Teilnahmebestätigungen, etwa AS 125 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer).

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin halten sich seit ihrer Einreise, die Drittbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführerin seit ihrer Geburt, ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Alle Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten und leben von der Grundversorgung. Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin gingen bis dato einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach (vgl. aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Strafregister sowie den Grundversorgungs- und Sozialversicherungsdaten jeweils vom 08.02.2021).

Weder der Erstbeschwerdeführer noch die Zweitbeschwerdeführerin waren Mitglied einer politischen Partei, einer anderen politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung im Irak. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit im Irak Probleme hatten, festgenommen, verurteilt oder inhaftiert bzw. sonstige Probleme mit Gerichten oder Behörden des Irak gehabt hätten.

Die Zweitbeschwerdeführerin hatte keinerlei persönliche Probleme im Irak. Sie und die minderjährigen Beschwerdeführer beziehen sich ausschließlich auf das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers.

Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer generellen Verfolgungsgefahr oder Bedrohung durch schiitische Milizen, den IS oder von staatlicher Seite ausgesetzt sind.

Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zur allgemeinen Lage im Irak werden die mit der Ladung zur Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zugleich übermittelten aktuelle Länderberichte zum Herkunftsland Irak, nämlich das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020, auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben.

Darüber hinaus ergibt sich zur aktuellen Lage hinsichtlich der COVID-19-Pandemie im Irak:

Zur COVID-19 Lage im Irak ergibt sich aus der Kurzinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes vom 14.08.2020, dass es bis zum 05.08.2020 im Irak 134.722 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 5.017 Todesfällen (WHO 5.8.2020A; vgl. UNHCR 4.8.2020) gab. 96.103 Personen sind wieder genesen (UNHCR 4.8.2020). Der höchste Anstieg an Infektionszahlen wurde in Bagdad gemessen, gefolgt von Basra und Sulaymaniyah in der Kurdischen Region im Irak (KRI) (UNHCR 4.8.2020).

Aufgrund der weiterhin stark steigenden Infektionszahlen hat die irakische Regierung für 30.07. bis 09.08.2020 eine neuerliche komplette Ausgangssperre beschlossen (BMEIA 6.8.2020; vgl. GoI 27.7.2020; UNHCR 4.8.2020). Diese Einschränkungen gelten nicht für die KRI (BMEIA 6.8.2020).

Bereits im Juli 2020 gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass die Krankenhäuser fast vollständig ausgelastet sind (IRC 2.7.2020). Es herrschen Engpässen bei der Versorgung mit Sauerstoff und mit Schutzausrüstungen (MEMO 3.8.2020).

Nachdem private Kliniken im Juli temporär geschlossen wurden (GoI 7.7.2020), erlaubt die irakische Regierung deren Wiedereröffnung, sofern sie die vom Gesundheitsministerium und dem irakischen Ärzteverband festgelegten Bedingungen erfüllen (GoI 27.7.2020).

Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, die Richtlinien zur Schutzmaskenpflicht, zur sozialen Distanzierung und weitere umzusetzen, einschließlich der Verhängung von Geldstrafen und der Beschlagnahme von Fahrzeugen derjenigen, die gegen die Regeln verstoßen (GoI 27.7.2020; vgl. MEMO 3.8.2020).

Seit dem 23.7.2020 sind die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wieder für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Sämtliche Flughäfen wurden zuvor am 17.3.2020 geschlossen (Al Jazeera 23.7.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Passagiere müssen vor dem Boarding einen negativen Covid-19 Test vorweisen (Al Jazeera 23.7.2020). Mit der Wiedereröffnung des Internationalen Flughafens Erbil (KRI) am 1.8. wird es auch wieder eine Luftverbindung zwischen Bagdad und Erbil geben (Rudaw 1.8.2020).

Seit Beginn des COVID-19-Ausbruchs im Irak im März 2020 gehören vertriebene Familien zu den am stärksten betroffenen Personen, auch durch sekundäre Auswirkungen, wie mangelnde Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu verdienen und sozioökonomische Folgen davon (UNHCR 4.8.2020).

In der Kurdischen Region im Irak (KRI) wurden bis zum 5.8.2020 15.577 bestätigte Fälle von COVID-19 verzeichnet. Davon sind 9.711 wieder genesen und 597 Personen verstorben (Gov.KRD 5.8.2020).

Es gilt Schutzmaskenpflicht für sämtliche öffentliche Orte, wie Märkte, Restaurants und andere kommerzielle Einrichtungen, wie Firmen. Bei zuwiderhandeln drohen den Inhabern Geldstrafen und temporäre Zwangsschließungen. Auch Beerdigungen, Hochzeitsfeiern und andere gesellschaftliche Veranstaltungen sind unter Androhung von Geldstrafen verboten (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A). Kliniken und Labore bleiben per Verordnung für 14 Tage geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020). Um den steigenden Infektionszahlen im Gouvernement Erbil entgegenzuwirken wurden mittlerweile vier Krankenhäuser als alleinige Covid-19 Behandlungszentren deklariert (Rudaw 3.8.2020B).

Aktuelle Maßnahmen umfassen weiterhin ein Reiseverbot zwischen den kurdischen Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Dohuk und Halabja, sowie ein Reiseverbot innerhalb derselben, ausgenommen bei Notfällen und mit Sondergenehmigungen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 3.8.2020A; UNHCR 4.8.2020).

Der Grenzübergang Ibrahim Khalil zur Türkei wurde für den Zeitraum vom 04. bis zum 11. August Covid-19-anlassbezogen für den Personenverkehr geschlossen (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Garda 04.08.2020). Die Grenzübergänge Haji Omaran und Bashmakh zum Iran sind für Bürger der KRI, die heimkehren wollen, geöffnet (Gov.KRD 5.8.2020).

Am 01.08.2020 nahmen die internationalen Flughäfen in Erbil und Sulaymaniyah wieder ihren Betrieb auf (Gov.KRD 5.8.2020; vgl. Rudaw 1.8.2020). Personen, die über die Flughäfen einreisen müssen jedoch auf eigene Kosten einen Covid-19-Test machen und sich zur Selbstquarantäne verpflichten, bei deren Verstoß sie mit einem Bußgeld bestraft werden. Personen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden und die die Quarantäne missachten müssen alle anfallenden medizinischen Kosten für evtl. infizierte Personen übernehmen und werden strafrechtlich verfolgt (Artikel 368-369 des geänderten Gesetzes 111 von 1969) (Gov.KRD 5.8.2020) (vgl. Kurzinformation der Staatendokumentation vom 14.08.2020 zur COVID-19 Lage im Nahen Osten, S 2 ff).

Aus dem aktuellsten IOM-Iraq Bericht der DTM (Displacement Tracking Matrix) für den Zeitraum 01.12.2020 bis 31.12.2020 ergibt sich zusammengefasst, dass die irakische Regierung in diesem Zeitraum die landesweiten Lockdown-Maßnahmen ausgeweitet hat, um die Ausbreitung von COVID-19 einzugrenzen. Die Maßnahmen beinhalten Einschränkungen der Handelsaktivitäten, als auch der persönlichen Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes. Der konkrete Ansatz zur Umsetzung der Restriktionen unterscheidet sich nach wie vor zwischen den einzelnen Gouvernements. Im Zentralirak implementieren die Behörden weiterhin unterschiedliche Maßnahmen basierend auf der jeweils vorherrschenden epidemiologischen Situation. Ende September wurden die bis dahin geltenden Ausgangssperren im ganzen Zentralirak zwischen 23:00 Uhr und 05:00 Uhr aufgehoben. Seit 24.12.2020 hat die Regierung des Zentralirak jedoch neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus erlassen, welche ein verpflichtetes Schließen von Einkaufsstraßen und Gastronomie zwischen 19:00 Uhr und 06:00 Uhr zwischen 24.12.2020 und 15.01.2021 vorsieht. Die Regierung der autonomen Region Kurdistan hat ebenfalls neue Maßnahmen veröffentlich, darunter das Verbot aller sozialen Zusammenkünfte, Meetings und Konferenzen. Hingegen dürfen Gastronomiebetriebe täglich bis 24:00 Uhr geöffnet haben. Im Zeitraum von 01.12.2020 bis 31.12.2020 gab es keine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen den einzelnen Provinzen in der Autonomen Region Kurdistan oder zwischen dieser und Provinzen des Zentralirak. Das bedeutet, die Menschen können uneingeschränkt zwischen den Gouvernements reisen und auch in die Autonome Region Kurdistan ohne Einreiseerlaubnis einreisen. Mitte September durften wenige Restaurants und 5-Sterne-Hotels unter strengen Auflagen wiedereröffnen. Ministerien und Behörden ist jetzt erlaubt, dass 50 % der Mitarbeiter wieder direkt an ihre Arbeitsplätze aus dem Home-Office zurückkehren können. Alle internationalen Flughäfen, ausgenommen Erbil, haben Einreiseverbot für Ausländer ohne irakische Staatsbürgerschaft aus dem Vereinigten Königreich Großbritannien, Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Australien, Japan und Südafrika verhängt. Irakische Staatsbürger, die aus diesen Ländern in den Irak reisen, müssen sich nach der Einreise in eine vierzehntägige Quarantäne begeben. Ausnahmen für Ausländer können jedoch genehmigt werden, wenn diese etwa für UN Organisationen, diplomatisches Missionen oder andere offizielle Delegationen tätig sind. Regelmäßig finden auch Flüge bei Notfällen, medizinische Evakuierungen, Frachtflüge und Charterflüge statt. Dabei müssen sowohl Mitarbeiter als auch Gäste einen Mund-Nasen-Schutz tragen und sich die Hände desinfizieren. Auch werden generell alle Einwohner angehalten, „Social Distancing“ zu praktizieren. Ausreisende auf dem Luftweg müssen einen negativen COVID-19 Test vorlegen, der nicht älter als 96 Stunden ist. Schon für die Betretung eines Flughafens ist ein negativer PCR-Test nötig, der nicht älter als 72 Stunden ist (vgl. DTM_COVID_19_Mobility_Restrictions_Health_Measures_01_Dec_to_31_Dec2020.pdf (iom.int), Zugriff 04.02.2021).

Mit Stand 14.03.2021 gab es im Irak 754.318 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 13.719 Todesfälle, Mit Stand 07.03.2021 wurden 2.177 Impfdosen verabreicht (vgl. https://covid19.who.int/region/emro/country/iq, Zugriff am 15.03.2021).

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020 ergibt sich:

„[…] 1  Politische Lage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Quellen:

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1.1     Parteienlandschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

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1.2     Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).

Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).

Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vgl. KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vgl. WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).

Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).

Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).

Quellen:

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2        Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

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2.1     Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

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2.2     Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

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2.3     Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

[…]

2.4     Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

In Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (BMEIA 19.2.2020).

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Ekurd 30.11.2019).

Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Al Monitor 8.1.2020). Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt (Joel Wing 5.3.2020), um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 26.2.2020) und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten (Joel Wing 5.3.2020; vgl. BasNews 2.2.2020).

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten (Kurdistan24 8.11.2019). Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vgl. Kurdistan24 8.11.2019)

Am 27.5.2019 initiierte die türkische Armee die „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vgl. Rudaw 13.7.2019). Die zweite Phase begann am 12.7.2019 und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und anderen Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Ende August 2019 begann die dritte Phase, die sich wiederum gegen die PKK im Gouvernement Dohuk richtete. Betroffen waren vor allem grenznahe Orte, Regionen und Subdistrikte wie Zab, Sinat-Haftanin, Batifa und Avashin (Kurdistan24 8.11.2019).

Am 10. und 11.7.2019 bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaymaniyah, wobei ein Kind getötet wurde (Al Monitor 12.7.2019). In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen (Reuters 12.7.2019).

Quellen:

[…]

2.5     Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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