TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/23 I413 2199158-1

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Veröffentlicht am 23.04.2021
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Entscheidungsdatum

23.04.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I413 2199158-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Dr. Sebastian SIUDAK, Blütenstraße 15/5/5.13, 4040 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 29.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.03.2020 und 05.03.2021 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt III. wie folgt zu lauten hat: „Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 AsylG wird XXXX nicht erteilt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer stellte am 13.04.2015 unter dem Namen XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, einen Antrag auf internationalen Schutz und fand hierzu am selbigen Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes seine Erstbefragung statt. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte er aus, in dem Viertel, wo er gelebt habe, habe es außer zwei sunnitischen Familien ausschließlich Schiiten gegeben. Im Juli 2015 habe er einen Drohbrief an seiner Haustüre gefunden, in diesem er aufgefordert worden wäre, das Land zu verlassen, ansonsten würde man ihn töten. Der Beschwerdeführer habe Angst um sein Leben gehabt und sei daher geflüchtet.

2.       Am 29.08.2017 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folgenden: belangte Behörde, BFA) einvernommen und korrigierte in diesem Zuge seine Staatsangehörigkeit auf Irak. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe führte er im Wesentlichen aus, am 25.07.2014 einen Drohbrief erhalten zu haben, welcher von der Miliz Aasaib Ahel Al Hak [Asa'ib Ahl al-Haqq] gewesen sei. In seinem Viertel habe es nur zwei sunnitische Familien gegeben, eine davon sei seine Familie gewesen. Im Brief sei gestanden, dass der Beschwerdeführer binnen drei Tagen das Haus zu verlassen habe, weil er angeblich den schiitischen Propheten beleidigt und auch fremden Pilgern eine Übernachtungsmöglichkeit in seinem Haus drei Tage zuvor verweigert habe. Am 05.12.2012 habe ihn der Geheimdienst am Weg zum Kindergarten seines Sohnes gestoppt und den Beschwerdeführer mitnehmen wollen. Sie hätten ihm Handschellen angelegt und sei er nach Wasit, ca. 127 km entfernt, verbracht worden, wo sie ihm die Augen verbunden hätten und er von allen Seiten geschlagen worden wäre. Am zweiten Tag sei er neuerlich gefoltert und schwer beleidigt sowie als „radikaler Sunnit“ beschimpft worden. 33 Tage lang sei er festgehalten und an jedem Tag gefoltert worden, auch mit Strom. Sie hätten ihm den Fingernagel am rechten Daumen gezogen, er sei aufgehängt und ihm die Arme umgedreht worden. Am 07.12.2012 habe der Beschwerdeführer erfahren, dass sein Cousin und auch sein Vater am selben Tag gefoltert worden wären. Bei der zweiten sunnitischen Familie im Ort habe es sich um jene seines Cousins gehandelt, welcher an den Folgen der Folter gestorben sei. Nach 33 Tagen sei der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft gekommen, um auf sein Urteil zu warten, drei Tage später sei er zum Richter gekommen. Dieser habe ihm mitgeteilt, dass sein Fall noch überprüft werden müsse und sei der Beschwerdeführer weitere acht Monate in Untersuchungshaft gewesen. Am 17.07.2013 sei er freigekommen. Der Beschwerdeführer habe eine ansteckende Hautkrankheit bekommen, in der Arbeit hätten alle gemeint, dass er den Propheten beleidigt habe. Seit diesem Vorfall sei der Beschwerdeführer ständig unter Beobachtung gestanden und habe in ständiger Angst gelebt sowie jeden Tag damit gerechnet zu sterben. Die Bedrohung am 25.07.2014 sei eine Warnung gewesen und habe auch den Bruder des Beschwerdeführers nach seiner Rückkehr in den Irak eine Autobombe erwischt, was eine weitere Warnung gewesen wäre, den Ort zu verlassen.

3.       Mit Schreiben seitens der belangten Behörde, dem Beschwerdeführer zugestellt am 14.03.2018, wurde der Beschwerdeführer eingeladen, innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens zu den im selben Zuge übermittelten Länderfeststellungen zum Irak Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom 18.03.2018, bei der belangten Behörde eingelangt am 20.03.2018, brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen in Vorlage.

4.       Mit Bescheid vom 29.05.2018, Zl. XXXX wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) ab. Zugleich erteilte sie dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Ihm wurde eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt VI.).

5.       Gegen diesen Bescheid richtet sich die vollumfängliche Beschwerde des rechtsvertretenen Beschwerdeführers vom 19.06.2018, wobei Gesetzwidrigkeit moniert wurde. Zusammengefasst wurde ausgeführt, ihm seien nach Durchsicht der Niederschrift nach der Bescheidzustellung einige – offensichtliche – Fehler aufgefallen. Dem Datum des Asylantrags könne zweifellos entnommen werden, dass sich der Beschwerdeführer seit dem 13.04.2015 in Österreich aufhalte, dem Akt sei außerdem zu entnehmen, dass er den Drohbrief an seiner Haustüre im Juli 2014 gefunden habe. Zudem würden gegen ihn staatliche Fahndungsmaßnahmen bestehen, wobei er auf das von ihm vorgelegte Urteil des Militärgerichts verweise, welches erst nach seinem Abflug vom Flughaften in die Türkei gefällt worden sei. Die Verweigerung der Aufnahme schiitischer Pilger sei als eine politische Gesinnung zu werten und sei ein Erblicken einer religiös oppositionellen Gesinnung nicht auszuschließen. Seine familiären Anhaltspunkte seien dahingehend zu relativieren, dass er bei seiner Rückkehr seine Schwestern und deren Ehemänner gefährden würde, da sehr wohl die Verfolgung durch die schiitische Miliz Asaib Ahl Al-Haqq [Asa'ib Ahl al-Haqq] zu erwarten sei. Sein Verhalten in Zusammenhang mit schiitischen Pilgern sei der schiitischen Mehrheit ein Dorn im Auge gewesen, was sie dazu veranlasst hätte, sich am Beschwerdeführer zu rächen und weswegen auch die Folter geschehen sei. Nachdem er den Drohbrief erhalten habe, habe er erkannt, dass die Flucht die letzte Möglichkeit sei, um sein Leben zu retten, weshalb er sich entschlossen habe, den Irak zu verlassen. Eine Abschiebung in den Irak käme einer Auslieferung gleich und habe er damit zu rechnen, inhaftiert und unter menschenrechtswidrigen Verhältnissen leben zu müssen. Außerdem halte er sich seit über drei Jahren in Österreich auf, beherrsche die deutsche Sprache in einem durchschnittlichen Ausmaß und sei bestens in das soziale Leben in Österreich integriert.

6.       Mit Schriftsatz vom 22.06.2018, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 25.06.2018, legte die belangte Behörde den Verwaltungsakt samt der Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vor.

7.       Mit Schreiben vom 03.07.2018 brachte der Beschwerdeführer integrationsbekundende Unterlagen in Vorlage.

8.       Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Abteilung L526 abgenommen und an die Abteilung I413 neu zugewiesen.

9.       Mit Schriftsatz vom 08.11.2019 wurden zwei Gewerbescheine des Beschwerdeführers dargetan.

10.      Mit 02.12.2019 wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes eine Anfrage an die Staatendokumentation gestellt.

11.      Dem Beschwerdeführer wurde mittels Mängelbehebungsauftrages vom 02.12.2019 seitens des Bundesverwaltungsgerichtes aufgetragen, sowohl zwei der Beschwerde beigelegte fremdsprachige Urkunden sowie eine weitere, welche mit Schriftsatz vom 03.07.2018 dargetan wurde, binnen Dreiwochenfrist in deutscher Übersetzung vorzulegen. Die entsprechenden Übersetzungen langten mittels Schriftsatz vom 17.12.2019 am 18.12.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

12.     Für den 18.03.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt, welche schließlich auf den 05.03.2020 vorverlegt wurde. Mit Schreiben vom 02.03.2020 wurden seitens des damaligen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers aktuelle Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Vorlage gebracht.

13.      Am 05.03.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der der Beschwerdeführer im Beisein eines Substitutes seines damaligen Rechtsvertreters, RAA Dr. Sebastian SIUDAK für RA Dr. Helmut BLUM, einer Dolmetscherin für die arabische Sprache sowie eines Vertreters der belangten Behörde einvernommen und die Situation im Irak erörtert wurde. In diesem Zuge wurde die Einholung eines medizinischen Gutachtens in Zusammenhang mit den vom Beschwerdeführer behaupteten Folterungen beantragt.

14.      Mit einer Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 11.05.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer das aktuelle Länderinformationsblatt für den Irak und ermöglichte ihm, eine Stellungnahme abzugeben. Eine solche langte datiert mit 25.05.2020 ein.

15.      Die Anfragebeantwortung seitens der Staatendokumentation langte mit E-Mail vom 27.03.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

16.      Mit einer Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 06.06.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation und ermöglichte ihm, eine Stellungnahme abzugeben. Eine solche langte mit 23.06.2020 ein.

17.     Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.07.2020 wurde XXXX zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet Gerichtsmedizin bestellt. Das entsprechende Gutachten langte am 17.08.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde selbiges dem Beschwerdeführer mit einer Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 18.08.2020 übermittelt. Eine Stellungnahme seitens des Beschwerdeführers langte mit 28.08.2020 ein.

18.     Mit Schriftsatz vom 17.02.2021 erging seitens des damaligen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers die Mitteilung, dass das Vollmachtsverhältnis zur Auflösung gebracht wurde.

19.      In Hinblick auf die anberaumte mündliche Beschwerdeverhandlung brachte der Beschwerdeführer mit Einlangen 19.02.2021 ergänzende Urkunden in Vorlage.

20.      Mit Schriftsatz vom 01.03.2021 erging die Mitteilung seitens des nunmehrigen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers mit der Information der Beauftragung mit seiner rechtsfreundlichen Vertretung.

21.      Am 05.03.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, neuerlich eine Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers, eines Substituten seines Rechtsvertreters, RA MMag. Dr. Thomas Lechner für RA Mag. Dr. Sebastian SIUDAK und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache statt, in welcher neuerlich ua die aktuelle Lage im Irak erörtert wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde ist nicht erschienen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zunächst wird der unter Punkt I. dargestellte Verfahrensgang festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige, verheiratete Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak. Seine Identität steht fest. Er bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und ist der Volksgruppe der Araber zugehörig.

Er ist gesund, leidet an keinen lebensgefährlichen Erkrankungen und ist arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer fällt nicht unter die Risikogruppe gemäß der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung), BGBl. II Nr. 203/2020.

Er wurde am XXXX in Al-Suwaira/Wasit geboren, wo er auch aufwuchs und dort die Grundschule, die Mittelschule und eine AHS besuchte, welche der Beschwerdeführer allerdings nicht zum Abschluss gebracht hat. Innerhalb der AHS übte er die Ausbildung des Mechanikers aus. Seinen Lebensunterhalt finanzierte er durch seine Tätigkeit als Lohnverrechner bei der Polizei. Das Haus, in welchem unter anderem der Beschwerdeführer und seine Familie wohnte und welches im Eigentum seines Vaters steht, besteht noch immer in Al-Suwaira. Vom Irak aus reiste der Beschwerdeführer im Sommer 2014 legal in die Türkei, wo er bis März 2015 lebte. Schließlich reiste er weiter und erreichte schlepperunterstützt und unter Umgehung der Grenzkontrollen Österreich, wo er am 13.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seit 16.04.2015 ist der Beschwerdeführer durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet melderechtlich erfasst.

Seit August 2019 bezieht der Beschwerdeführer keine geldwerten Leistungen mehr aus der Grundversorgung. Seit dem 29.07.2019 verfügt er über eine Gewerbeberechtigung hinsichtlich dem freien Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten, weiters seit dem 03.09.2019 über eine Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe „Adressieren, einlegen, einkleben, falten, kuvertieren von Prospekten, Katalogen, Zeitungen, Briefen und Broschüren (Postservice)“. Bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen als gewerblich selbständig Erwerbstätiger ist der Beschwerdeführer seit 29.07.2019 sozialversichert. Aktuell arbeitet er fast täglich in derselben Druckerei und gestaltet sich der Ablauf derart, dass der Beschwerdeführer angerufen wird und einen Auftrag bekommt. Er wird täglich abgeholt und werden sämtliche Betriebsmittel seitens der Druckerei gestellt. Die Abrechnung erfolgt nach der erledigten Stückzahl und erledigt der Beschwerdeführer Tätigkeiten wie das Falzen, Bekleben, Einlegen, Kuvertieren und die versandfertige Vorbereitung. Dabei lukriert er monatlich zwischen EUR 600,-- bis EUR 800,--, wobei seinen Einnahmen monatliche Kosten von EUR 600,-- bis EUR 700,-- gegenüberstehen. Der Beschwerdeführer ist nicht selbsterhaltungsfähig. Derzeit bekommt der Beschwerdeführer keine Aufträge in Zusammenhang mit seinem Gewerbe zur Hausbetreuung. Im Zeitraum 17.05.2016 bis 31.05.2016 war er bei XXXX als Arbeiter beschäftigt. Aufgrund seiner Berufserfahrung wird er auch in Zukunft am irakischen Arbeitsmarkt unterkommen.

Die Eltern des Beschwerdeführers sowie seine Geschwister leben in der Türkei. Auch die Ehegattin des Beschwerdeführers samt den drei gemeinsamen Kindern ist dort wohnhaft und werden diese durch den Vater des Beschwerdeführers versorgt. Obgleich diesen selbst Obsorgepflichten treffen, kommt er selbigen nicht regelmäßig nach. Er überweist gelegentlich seiner Familie Geld im Rahmen des Möglichen, wobei solche Zahlungen jedoch nur eine kleine Unterstützung darstellen. Zu seiner Gattin steht der Beschwerdeführer täglich über Whatsapp in Kontakt, zu seinen Kindern fast täglich. Im Irak leben noch Cousins des Beschwerdeführers. Im Bundesgebiet sind keine Verwandten des Beschwerdeführers wohnhaft, er verfügt jedoch über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis.

Im Zeitraum vom 28.11.2016 bis 23.12.2016 nahm der Beschwerdeführer an der Bildungsveranstaltung „Deutsch A1 Modul A“ im Ausmaß von 75 Unterrichtseinheiten teil, vom 09.01.2017 bis 03.02.2017 an der Bildungsveranstaltung „Deutsch A1 Modul B“, ebenfalls im Ausmaß von 75 Unterrichtseinheiten. Mit 14.03.2017 absolvierte er sein ÖSD Sprachzertifikat auf dem Niveau A1 am Prüfungszentrum BFI Oberösterreich. Am 11.08.2017 nahm er am Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds teil, am 27.03.2018 am Workshop „Kultur & Soziales – Unterschiede und Gemeinsamkeiten in verschiedenen Kulturen“ im Umfang von drei Stunden. Im Zeitraum Dezember 2017 bis Januar 2020 war der Beschwerdeführer insgesamt im Ausmaß von 1.700 Stunden freiwillig im Verein „Über den Tellerrand Community Linz“ tätig, wo er unter anderem Mithilfe bei der Organisation leistete sowie aktiv an Kochnachmittagen sowie am wöchentlichen Sprachcafé teilnahm, weiters am Community Cooking mitwirkte und darüber hinaus auch bei der Organisation und Umsetzung verschiedener Kochevents und Caterings bei verschiedenen Veranstaltungen mithalf. Er nahm an der Ausbildung für das Führen von Hubstaplern in der Zeit vom 28.09.2020 bis 06.10.2020 teil und erwarb mit 06.10.2020 seinen Staplerführerausweis. Zuletzt besuchte der Beschwerdeführer am 17.10.2020 eine Unterweisung der lebensrettenden Sofortmaßnahmen laut § 6 Abs 1 FSG-DV in der Dauer von sechs Stunden. Die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers liegen in Anbetracht seines fast sechsjährigen Aufenthalts in Österreich auf einem sehr niedrigen Niveau. Eine Konversation in der deutschen Sprache ist nur auf einfachstem Niveau möglich.

Insgesamt weist der Beschwerdeführer keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.

Er ist in Österreich nicht vorbestraft.

1.2. Zu den Fluchtgründen und zur Rückkehrsituation:

Der Beschwerdeführer wurde in seinem Herkunftsland Irak weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung verfolgt. Er hat – entgegen seinem Fluchtvorbringen – den Irak nicht aufgrund einer Verfolgung oder Bedrohung in Zusammenhang mit seiner sunnitischen Glaubenszugehörigkeit bzw. aufgrund des Nichtgewährens einer Unterkunft für schiitische Pilger verlassen.

Im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Irak wird der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt sein.

Es liegen auch keine sonstigen Gründe vor, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat Irak entgegenstünden. Es konnte nicht festgestellt werden, dass er bei seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat aus in seiner Person gelegenen Gründen oder auf Grund der allgemeinen Lage vor Ort der realen Gefahr einer Verletzung ihrer durch Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder 13 zur EMRK geschützten Rechte ausgesetzt wäre oder er als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Irak ausgesetzt wäre.

Es gibt zudem keinerlei Hinweise darauf, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre (wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft) und er in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten würde. Er ist in der Lage, im Irak eine einfache Unterkunft zu nehmen bzw. am Erwerbsleben teilzunehmen.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:

Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen, soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:

1.3.1.  Allgemeine Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020

-        Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020

-        FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

-        MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020

-        New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020

-        USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020

1.3.2.  Islamischer Staat (IS):

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Die Gegenden, in denen IS Zellen tätig sind, haben sich nach den Einschätzungen von Knights and Almeida seit Ende 2018 fast verdoppelt. Diese Autoren geben 47 Gegenden an, in denen IS-Zellen aktiv sind, in Anbar, Salah al-Din, Baghdad, Diyala, Kirkuk und Ninewa. Die Taktik dieser Zellen richtet sich dahin, den Straßenverkehr zu unterbrechen, die Aussöhnung lokaler Gruppen zu stören und Städte ökonomisch zu blockieren sowie Terrain im offenen Feld zu erhalten. Gegenwärtig ist der IS in folgenden ländlichen Gegenden aktiv: Anbar: südwestliche Anbar Wüste, Horan Tal bis zum al-Abiach Tal bia zum al-Kadef Tal, und der nördliche Teil von Rawa; Ninewa: der südliche Teil der Ninewa Wüste, Baaj; Erbil: Makhmour; Baghdad: der Gürtel; Diyala: die nordöstlichen Gegenden; Kirkuk: der Süden von Kirkuk, Hawija, Zab und Abbasi; Salah al-Din: Shirqat, Khanuqa, Hamrin Berge, Osten des Thathar-Sees. In den vergangenen Jahren hat sich die Aktivität des IS zu einem gewissen Grad südwärts von Kirkuk nach Salah al-Din und Diyala verlegt, wo seine Aktivitäten zugenommen haben. Es hat sich auch gegen Baghdad bewegt. Es hat seine frühere Strategie wiederaufgegriffen, die Kontrolle über größere Ortschaften und ländliche Gegenden zu erlangen (EASO 30.2020).

Der Staat hat Gegenwehraktivitäten gegen den IS ergriffen, so in Kirkuk. Wegen der öffentlichen Proteste nahmen diese aber in der Priorität ab. Wegen nachlassender Unterstützung durch die Koalitionskräfte und wegen der Corona-Pandemie verlangsamte sich das Tempo der Gegenwehr und verloren auch die staatlichen Kräfte wieder vom IS befreites Terrain (EASO 30.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

- BBC News (23.12.2019): Isis in Iraq: Militants 'getting stronger again', https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50850325, Zugriff 13.3.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020

- EASO Iraq (30.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

- Garda World (3.3.2020): Iraq Country Report, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/iraq, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.6.2019): Islamic State’s Revenge Of The Levant Campaign In Full Swing, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/06/islamic-states-revenge-of-levant.html, Zugriff 13.3.2020

- Military Times (7.7.2019): Iraqi forces begin operation against ISIS along Syrian border, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/07/07/iraqi-forces-begin-operation-against-isis-along-syrian-border/, Zugriff 13.3.2020

- NINA - National Iraqi News Agency (17.1.2020): ISIS Elements executed a herd of buffalo by firing bullets northeast of Baquba. http://ninanews.com/Website/News/Details?key=808154, Zugriff 13.3.2020

- PGN - Political Geography Now (11.1.2020): Iraq Control Map & Timeline - January 2020, https://www.polgeonow.com/2020/01/isis-iraq-control-map-2020.html, Zugriff 13.3.2020

- Portal, The (9.10.2019): Iraq launches a new process of “Will to Victory”, http://www.theportal-center.com/2019/10/iraq-launches-a-new-process-of-will-to-victory/, Zugriff 13.3.2020

- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020

- UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf, Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020

1.3.3.  Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:

Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2019 auf rund 2.300 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2020 gab es nach vorläufigen Schätzungen bis einschließlich August 650 zivile Todesopfer im Irak (Statista 21.09.2020).

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Quellen:

-        ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        EASO Iraq (30.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

-        IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Statista Research Department - deutsches Online-Portal für Statistik (21.09.2020): Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2020*, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163882/umfrage/dokumentierte-zivile-todesopfer-im-irakkrieg-seit-2003/#professional, Zugriff 30.9.2020

1.3.4.  Sicherheitslage Südirak

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominellb unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).

Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).

Quellen:

-        CEDOCA - Centre de documentation et de recherches du Commissariat général aux réfugiés et aux apatrides (28.2.2018): IRAK: Situation sécuritaire dans le sud de l‘Irak, https://www.cgra.be/sites/default/files/rapporten/coi_focus_irak_situation_securitaire_dans_le_sud_de_lirak_20180228.pdf , Zugriff 13.3.2020

-        ISW - Institute for the Study of War (22.10.2019): Iraq’s Sustained Protests and Political Crisis https://iswresearch.blogspot.com/2019/10/iraqs-sustained-protests-and-political.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https: //musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html , Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https: //musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.10.2019): Iraq’s October Protests Escalate And Grow, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/iraqs-october-protests-escalate-and-grow.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (9.9.2019): Islamic State’s New Game Plan In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/09/islamic-states-new-game-plan-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Landinfo - The Norwegian COI Centre (31.5.2018): Irak: Sikkerhetssituasjonen i Sør-Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434620/1226_1528700530_irak-temanotat-sikkerhetssituasjonen-isyarirak-hrn-31052018.pdf, Zugriff 13.3.2020

1.3.5. Gouvernement Al-Wasit

1.3.5.1 Allgemeine Darstellung der Provinz

Grundlegende Geografie

Die Provinz hat eine internationale Grenze zu Iran im Osten. Sie grenzt an die Provinzen Diyala und Bagdad im Norden, Babil und al-Qadisssiya im Westen und Dhi-Qar und Maisan im Süden.2078 Die Provinz umfasst sechs Bezirke: Al-Azezia, Badra, Kut, Al-Suwaira, Al-Namaniya und l-Hai. 2079 Die Hauptstadt ist Kut.

Bevölkerung

Für 2019 schätzte das irakische CSO (Zentrales Statistisches Amt) die Bevölkerung der Provinz auf 1.415.034 Einwohner.

Ethnische Zugehörigkeit

Schiitische Araber stellen den Großteil der Bevölkerung in der Provinz Al-Wasit, doch leben dort auch Gemeinschaften von Faili-Kurden.

Straßensicherheit

Es gab Beeinträchtigungen der Straßensicherheit durch Demonstranten, die Straßen blockierten.

Wirtschaft

Al-Wasit ist Drehscheibe für den Handel mit Waren zwischen Nord und Süd und für den grenzüberschreitenden Handel mit Iran. Landwirtschaft und Industrie sind wichtige Sektoren.

1.3.5.2 Hintergrund des Konflikts und bewaffnete Akteure in der Provinz

Hintergrund des Konflikts

NCCI erwähnte, dass nach dem Krieg zwischen Irak und Iran in den 1980er Jahren schiitische Faili-Kurden zwangsweise aus Iran vertrieben wurden und nur allmählich dorthin zurückkehren. Während der Invasion unter Führung der USA im Jahr 2003 fanden schwere Kämpfe zwischen US-Streitkräften und der Irakischen Republikanischen Garde statt. Der Sadristenführer Muqtada al Sadr begann 2004 einen Aufstand gegen die Besatzungsmacht, der sich über einige Jahre erstreckte. Nach Angaben von NCCI gab es in den 2010er Jahren eine Reihe von Bombenanschlägen gegen Zivilisten auf Märkten und in Schulen. In einem UN-Bericht heißt es, dass der Vorgänger des ISIL, der ISI (Islamischer Staat in Irak), „ursprünglich“ in Teilen von al-Wasit operierte, ohne dass jedoch genaue Zeit, Aktivitäten und Orte angegeben wurden. Al-Wasit war nie vom ISIL besetzt. Da 2014 Sicherheitskräfte im Norden und Westen zur Bekämpfung des ISIL eingesetzt wurden und sich damit im Süden ein Sicherheitsvakuum auftat, konnten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden schiitischen Stämmen über Ackerland, Bauaufträge des Staates und Eigentum an Land und Boden allmählich die Stabilität in der Region untergraben.

Im Sommer 2018 setzten die öffentlichen Proteste überall in der Provinz ein.

Wie EPIC im Mai 2020 berichtete, gab es „in letzter Zeit“ in der Provinz Bombenangriffe durch sunnitische Aufständische auf schiitische Zivilisten. Informationen, die dies bestätigen, konnten nicht ermittelt werden.

Bewaffnete Akteure

Irakische Sicherheitskräfte (ISF)

Das ISW berichtete 2017, das Einsatzkommando Rafidain der irakischen Armee sei für die Sicherheit in der Provinz al-Wasit zuständig.2090 Im Februar 2020 übergab laut Medienberichten die irakische Armee die Verantwortung für die Sicherheit in der Provinz an die lokale Polizei. Der Polizeichef der Provinz übernahm somit auch das Kommando über das Einsatzkommando Rafidain, während die Bundespolizei nach wie vor nicht dem Kommando des Polizeichefs unterstand.

Volksmobilisierungseinheiten (PMU)

Knights et al. meinen, dass alle acht südlichen Provinzen als Gebiete gelten sollten, die gemeinsam von der irakischen Armee oder Polizei und den PMU kontrolliert werden. Die von Iran unterstützte Miliz Kataib al-Imam Ali hat ihren eigenen Militärstützpunkt im Norden. Der Kommandeur der PMU in der Provinz gehört zur Badr-Miliz.

Beide staatlichen Truppen und die PMU sind mit den öffentlichen Protesten in al-Wasit und anderen südlichen Provinzen befasst. Laut HRW setzen die PMU häufig Taktiken ein, die tödlich sein können, wie Schüsse auf den Kopf von Demonstranten mit waffenfähiger Tränengasmunition und Einsatz von Heckenschützen, die auf Demonstranten schießen, um sie zu töten. HRW berichtet, dass Demonstranten auch von staatlichen Kräften getötet und misshandelt wurden.

1.3.5.3. Neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Entwicklungen 2019-2020

Proteste gegen die Regierung, mitunter gewalttätig und mit Todesopfern verbunden, hat es seit 2018 überall in der Provinz gegeben. Demonstranten haben eine Reihe von Milizhauptquartieren und Politikerbüros in al-Wasit und anderen südlichen Provinzen in Brand gesteckt. In ihrem zweiten Update ihres Berichts über Demonstrationen in Irak stellte die UNAMI fest, dass in al-Wasit und anderen südlichen Provinzen Massenproteste Anfang Oktober 2019 ausbrachen und es dann eine zweite Welle am Monatsende gab. Die von ACLED für den Referenzzeitraum vorgelegten Zahlen zeigen einen Anstieg der Protestaktivität im November 2019 und dann im Januar, Februar, Mai und Juli 2020. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kämpfe, Explosionen und gezielte Gewalt gegen Zivilpersonen traten nur in geringer Zahl auf.

Bereits im Jahr 2017 wurde in Al-Wasit die niedrigste Intensität von zivilen Getöteten pro 100.000 Einwohnern verzeichnet (0,33), wobei bei vier sicherheitsrelevanten Vorfällen vier Zivilisten getötet wurden. Im Jahr 2018 ist die zweitniedrigste Intensität des gesamten Irak vermerkt (0,58), wobei bei fünf sicherheitsrelevanten Vorfällen sieben Personen getötet wurden. Lediglich die Provinz Nadschaf erzielte 2018 einen niedrigeren Wert pro 100.000 Einwohner (0,29). Im Jahr 2019 wurden schließlich bei vier sicherheitsrelevanten Vorfällen keine zivilen Personen verletzt oder getötet, von Januar bis Juli 2020 wurde bei sechs sicherheitsrelevanten Vorfällen eine Person verletzt, eine weitere Person getötet. Im Vergleich dazu ereigneten sich im Jahr 2012 noch 29 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 63 getöteten Zivilisten bei einer Intensität von 5,18 bei 100.000 Einwohnern und ist damit eine nachhaltige Verbesserung der Sicherheitslage eingetreten. In Al-Suwaira und Azezia selbst verstarben im Jahr 2012 noch bei 7 sicherheitsrelevanten Vorfällen 25 Personen, im Jahr 2017 bei einem Vorfall eine Person. Im Jahr 2018 kam es weder zu sicherheitsrelevanten Vorfällen, noch wurden Zivilisten getötet.

Ferner verzeichnete ACLED in Al-Wasit im Berichtszeitraum 1 Kampf, 1 Vorfall von ferngesteuerter Gewalt/Explosionen, 1 Fall von Gewalt gegen Zivilpersonen, 38 Unruhen; das sind insgesamt 41 sicherheitsrelevante Vorfälle dieser Arten in der Provinz Al-Wasit. Ferner wurden für den Referenzzeitraum 124 Demonstrationen in der Provinz al-Wasit gemeldet, die mehrheitlich in der Hauptstadt Kut stattfanden.

Schäden an der Infrastruktur und explosive Kampfmittelrückstände

NCCI merkte 2015 an, dass nicht detonierte Sprengkörper und Minen aus vergangenen Kriegen weiter eine „bleibende Bedrohung“ in der Provinz darstellen. Wo sie genau liegen, wurde nicht gesagt. Im August 2019 explodierte eine Landmine, die angeblich ein Überbleibsel aus dem Krieg zwischen Irak und Iran in den 1980er Jahren war, im Bezirk Zurbatya nahe der iranischen Grenze und verletzte vier Zivilisten schwer, wie EPIC berichtete.

Vertreibung und Rückkehr

Per 30. Juni 2020 hatte die Provinz al-Wasit insgesamt 6.084 Binnenvertriebene aufgenommen, die im Wesentlichen in den Bezirken Kut (4.074), Al-Azezia (582) und Al-Na’maniya (432) unterkamen. Von diesen Binnenvertriebenen stammten 76 % aus Ninawa, 10 % aus Kirkuk und 14 % aus anderen Provinzen (Diyala, Salah al-Din, al-Anbar). Rückkehrer wurden keine verzeichnet. Im COVID-19-Zeitraum (März-Mai 2020) war die Bewegungsfreiheit zwischen Provinzen beschränkt.

Quellen:

-        Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation, Oktober 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2019_03_13_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation_DE.pdf, S 258 - 263, Zugriff 12.03.2021

-        Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation, März 2019 https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/2019_03_13_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation_DE.pdf, S 55, Zugriff 12.03.2021

-        Irak Sicherheitslage (Ergänzung): Iraq Body Count – Zivile Todesfälle 2012, 2017-2018; Februar 2019, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Iraq_IBC_Civilian_Deaths_DE.pdf, S 33, Zugriff am 12.03.2021

Entsprechend dem Country Guidance zum Irak mit Stand Januar 2021 wurde in Zusammenhang mit dem Gouvernement Wasit der Schluss gezogen, dass kein bewaffneter Konflikt im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c der Status-RL stattfindet.

Quellen:

-        EASO Country Guidance, https://easo.europa.eu/country-guidance-iraq-2021; S 154, Zugriff 12.03.2021

1.3.6   Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Quellen:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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