Index
E6JNorm
B-VG Art133 Abs1 Z1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag des Finanzamtes Waldviertel, nunmehr Finanzamt Österreich in 3500 Krems, Rechte Kremszeile 58, der gegen den Beschluss des Bundesfinanzgerichtes vom 14. Oktober 2020, RV/7103708/2020, über eine vorläufige Anordnung i.A. Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträge (mitbeteiligte Partei: L), erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluss
Spruch
gefasst:
Gemäß § 30 Abs. 2 und 5 VwGG wird dem Antrag stattgegeben.
Der Vollzug des Beschlusses über eine vorläufige Anordnung vom 14. Oktober 2020 wird ausgesetzt.
Begründung
1 Unbestritten ist, dass die Mitbeteiligte u.a. mit ihrem Stiefsohn L, geboren 2007, und ihrer erstgeborenen Tochter E, geboren2015, allesamt tschechische Staatsbürger, in Tschechien lebt.
2 Mit Eingabe vom 14. Februar 2019 beantragte die Mitbeteiligte die Gewährung der Differenz zwischen der ungekürzten Ausgleichszahlung und der gemäß § 8a FLAG gekürzt gewährten Ausgleichszahlung.
3 Mit Bescheid vom 20. August 2019 wies das Finanzamt Waldviertel diesen Antrag unter Hinweis auf § 8a FLAG ab, wogegen die Mitbeteiligte Beschwerde erhob. Nach einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung des Finanzamtes vom 2. Jänner 2020 erhob die Mitbeteiligte einen Vorlageantrag.
4 Mit „Beschluss über eine vorläufige Anordnung“ vom 14. Oktober 2020 sprach das Bundesfinanzgericht - betreffend einen Zeitraum von Jänner 2019 bis März 2020 - von Amts wegen folgendermaßen ab:
„I. Für die zuvor genannten Kinder sind die Familienbeihilfenbeträge unter Berücksichtigung von Kinder- und Altersstaffel und der Kinderabsetzbetrag ungekürzt für den oben genannten Zeitraum zu gewähren.
II. Über die nachzuzahlenden Beträge hat die belangte Behörde gemäß § 12 Abs 1 FLAG eine Mitteilung auszustellen, in dieser die für den Streitzeitraum geltenden Beträge an Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages in nichtdiskriminierender Höhe darzustellen und davon die bisher ausbezahlten Beträge an Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages als Vorauszahlung abzuziehen.
III. Die belangte Behörde hat die Nachzahlung unverzüglich nach Zustellung des Beschlusses vorzunehmen und über den Vollzug dieses Beschlusses unter Vorlage der Nachweise zu berichten.
IV. Der angefochtene Bescheid ist bis zum Ergehen des das Vorabentscheidungsersuchen beantwortenden Urteils durch den Europäischen Gerichtshof nicht zu vollziehen und steht der vorläufigen Anordnung nicht entgegen. Die Wirksamkeit der vorläufigen Anordnung erlischt in dem Zeitpunkt, in dem der Europäische Gerichtshof das das Vorabentscheidungsersuchen beantwortende Urteil erlässt.
V. Gegen den Beschluss ist eine abgesonderte ordentliche oder außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof oder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht zulässig“
Begründend führte das Gericht aus, die vorläufige Anordnung ergehe im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsersuchen, das wiederum zur obgenannten Beschwerdesache gehöre.
Nach weiterer Zitierung unionsrechtlicher sowie österreichischer Rechtsvorschriften traf das Gericht Feststellungen zum Verwaltungsgeschehen, um daran folgende Erwägungen anzuschließen:
„Rechtzeitigkeit, Formerfordernisse, Umfang der Beschwerde
1 Bescheidbeschwerde und Vorlageantrag sind form- und fristgerecht.
...
4 Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat der österreichische Gesetzgeber nach der Rechtsanschauung des Vorlagegerichts mit der Einführung der reduzierenden (kürzenden, herabmindernden) Indexierung die Vorlagefrage nach der Gültigkeit von unionsrechtlich anwendbarem Sekundärrecht, konkret Art 4 und 7 VO 883/2004, die die Inländergleichstellung sowie die Aufhebung von Wohnortklausel anordnen, indiziert. Auch die im sekundären Unionsrecht angesiedelte Wohnortklausel zugunsten Frankreichs nach Art 73 Abs 2 VO 1408/71 in seiner Stammfassung wurde vom EuGH unter dem Gesichtspunkt der Gültigkeit betrachtet und hat letztlich zu dessen Ungültigkeitserklärung durch den EuGH geführt (EuGH 15.1.1986, 41/84, Rs Pinna I, Rn 22, 25). Das Vorabentscheidungsersuchen hat sich ausführlich der historischen Entwicklung von der VO 1408/71 zur VO 883/2004 gewidmet und dargelegt, dass in der neuen Koordinierung Wohnortklauseln betreffend Familienbeihilfe als Geldleistungen dogmatisch ausschließlich beim Art 7 VO 883/2004, und nicht bei der Nachfolgebestimmung Art 67 VO 883/2004 des vom EuGH für ungültig erklärten Art 73 Abs 2 VO 1408/71 einzuordnen sind. Dass Österreich die Wohnortklausel als inländische Gesetzesnorm erlassen hat, ändert an der Gültigkeitsfrage nichts, ganz im Gegenteil, dieser Umstand stärkt sie.
Gültigkeit der Handlungen von Unionsorganen und vorläufiger Rechtsschutz
5 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das unterinstanzliche Vorlagegericht im Fall der Frage nach der Gültigkeit von Handlungen der Organe iSd Art 267 Abs 1 Buchstabe b) AEUV in einem Vorabentscheidungsverfahren zum einen ausnahmsweise zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und zum anderen zur Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz verpflichtet, um die Wirksamkeit des Unionsrechts zu garantieren (EuGH 22.10.1987, 314/85, Rs Foto-Frost, Rn 17-19). Bei der Frage nach der Gültigkeit (bzw Ungültigkeit) der Handlungen der Unionsorgane handelt es sich materiell um eine Nichtigkeitsklage iSd Art 263 AEUV, zu dessen Beurteilung allein der EuGH berufen ist, dem allein das Verwerfungsmonopol von Sekundärrecht zukommt.
6 Das unterinstanzlich eingerichtete Bundesfinanzgericht ist somit zur Vorlage der Gültigkeitsfrage und zur Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz verpflichtet.
7 Als Rechtsgrundlage für den vorläufigen Rechtsschutz ist unmittelbar auf das Unionsrecht zu greifen (EuGH vom, C-213/89, Rs Factortame, Rn 21ff), weil gemäß § 254 BAO durch Einbringung einer Bescheidbeschwerde die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheides nicht gehemmt, insbesondere die Einhebung und zwangsweise Einbringung einer Abgabe nicht aufgehalten wird. Auf diese gesetzliche Anordnung bezieht sich Spruchpunkt IV des Beschlusses, auch wenn der angefochtene Bescheid mangels Abgabenfestsetzung kein Leistungsgebot enthält.
8 § 212a Abs 1 BAO, der bestimmt, dass ‚die Einhebung einer Abgabe, deren Höhe unmittelbar oder mittelbar von der Erledigung einer Bescheidbeschwerde abhängt, auf Antrag des Abgabepflichtigen von der Abgabenbehörde insoweit auszusetzen [ist], als eine Nachforderung [...] auf einen Bescheid [...] zurückzuführen ist [...]‘ ist im konkreten Fall bereits mangels Leistungsgebots im angefochtenen Bescheid nicht anwendbar. Gemäß § 212a Abs 5 BAO besteht die Wirkung einer Aussetzung der Einhebung lediglich in einem Zahlungsaufschub, der in der Ausgangssituation jedoch ins Leere geht.
9 Zum Schadenersatzanspruch ist auszuführen, dass die von einem Schaden bedrohte Person verpflichtet ist, sämtliche zur Vermeidung des Eintritts des Schadens dienlichen Maßnahmen zu ergreifen (Rettungspflicht). Das wäre im konkreten Fall der Antrag auf einen Bescheid auch für das drittgeborene Kind gewesen, um dadurch Rechtsschutz im Wege des Rechtsmittelverfahrens zu erwirken. Die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes durch das Bundesfinanzgericht ist somit auf das erste und das zweite Kind begrenzt. Es steht der [Mitbeteiligten] jedoch nach wie vor offen, auch für das dritte Kind den Antrag auf Bescheid bei der belangten Behörde einzubringen, solcherart das Beschwerdeverfahren und damit verbunden die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes auf das dritte Kind zu erstrecken.
10 In der Rs Süderdithmarschen hat der Europäische Gerichtshof die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch ein nationales Gericht formuliert (EuGH 21.2.1991, verb Rs C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn 22ff) und in der Rs Le Pen dahingehend ergänzt, dass er den vorläufigen Rechtsschutz dann als erforderlich ansieht, wenn er erforderlich ist, die volle Wirksamkeit der künftigen Endentscheidung sicher zu stellen (Beschluss EuGH 31.7.2003, Rs C-208/03, P-R, Le Pen, Rn 81).
Die Voraussetzungen für vorläufigen Rechtsschutz sind demnach:
1) Das Bestehen erheblicher Zweifel an der Gültigkeit von anwendbarem Unionsrecht;
2) Die Dringlichkeit der Entscheidung zur Abwehr eines schweren, irreparablen Schadens für die Partei;
3) Angemessene Berücksichtigung des Unionsinteresses durch die vorläufige Anordnung;
4) Erforderlichkeit zur Sicherstellung der vollen Wirksamkeit der künftigen Entscheidung und
5) Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage nach der Gültigkeit von Unionsrecht und Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes durch Anwendung des Unionsrechts erfolgen zeitgleich.
11 Für die Ausgangssituation sind diese Voraussetzungen für die Rechtsanschauung des BFG wie folgt umzuformulieren:
1) Das Bestehen erheblicher Zweifel an der Ungültigkeit von Art 4 und 7 VO 883/2004;
2) Die Dringlichkeit der Entscheidung zur Abwehr eines schweren, irreparablen Schadens für die Beschwerdeführerin, für die Union und den Mitgliedstaat Österreich im Vertragsverletzungsverfahren;
3) Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechtsaktes Art 4 und 7 VO 883/2004 im Mitgliedstaat;
4) Erforderlichkeit zur Sicherstellung der vollen Wirksamkeit der künftigen Entscheidung und
5) Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens mit der Frage nach der Gültigkeit von Art 4 und 7 VO 883/2004 und Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes durch Anwendung von Art 4 und 7 VO 883/2004 erfolgen zeitgleich.
Ad 1) erhebliche Zweifel an der Ungültigkeit von Art 4 und 7 VO 883/2004
12 Das Vorabentscheidungsersuchen RE/7100004/2020 zeigt, dass das Bundesfinanzgericht an der Gültigkeit von Art 4 und 7 VO 883/2004 keinerlei Zweifel hegt, sodass nach Ansicht des Vorlagegerichtes anzuerkennen ist, dass die genannten Normen einer Verordnung iSd Art 288 Abs 2 AEUV unmittelbar in der österreichischen Rechtsordnung gelten und die nationalen Behörden und Gerichte zu deren Anwendung verpflichtet sind und Art 7 VO 883/2004 ‚das wirksame Zustandekommen‘ der mit Bundesgesetz vom 4.12.2018, BGBl I Nr 83/2018 (OZ , eingeführten und ab 1.1.2019 anwendbaren Indexierung der Familienbeihilfe ‚insoweit verhindert hat‘, weil die Indexierung eine Wohnortklausel darstellt, die mit Art 7 VO 883/2004 ‚unvereinbar [ist]‘ (EuGH 9.3.1978, 106/77, Rs Simmenthal II, Rn 17/18). Zweifel bestehen vielmehr daran, dass Art 4 und 7 VO 883/2004 ungültig sein sollen.
13 Das BFG sieht zur Beantwortung der Frage, ob eine Indexierung der Familienbeihilfe mit dem Unionsrecht, Art 45 AEUV und Art 7 VO 883/2004 als für den Ausgangsfall zentrale Normen des Unionsrechts an, wohingegen Gutachten und Regierungsvorlage (OZ 12 und 13) den Fokus auf Art 67 VO 883/2004 gelegt haben.
14 Die auf Ebene von Art 67 VO 883/2004 durch den zuständigen Träger (Finanzamt) bei Erlassung eines individuellen Verwaltungsaktes zu filternden Tatbestandsmerkmale, die zu einer mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen können, wie inländischer Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt, Mittelpunkt der Lebensinteressen im Inland etc, sind solche, die bei einem Inlandssachverhalt sehr wohl ihre Berechtigung haben und nur für den unionsrechtlichen Anwendungsfall im Wege des relativen Anwendungsvorranges verdrängt werden. Dabei handelt es sich um Tatbestandsmerkmale, die ein Inländer auf der Sachebene zu erfüllen hat (Inlandssachverhalt), um als Rechtsfolge den Anspruch auf die Familienbeihilfe auszulösen.
15 Demgegenüber werden durch Art 7 VO 883/2004 jene Klauseln im Gesetz des Mitgliedstaates für aufgehoben erklärt, die nur deshalb die Reduktion oder die Nichtleistung der in Geld zu erbringenden Leistung der sozialen Sicherheit, zu der die Familienbeihilfe zählt, anordnet, weil der Berechtigte und / oder dessen Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Mitgliedstaat leben.
16 Art 7 und 67 VO 883/2004 sind bei verständiger Würdigung wie zwei nacheinander geschaltete Filter zu betrachten, die gemeinsam das Ziel der Vermeidung einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des im anderen Mitgliedstaat gelegenen Wohnortes verfolgen, wobei Art 7 VO 883/2004 allfällige in den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Wohnortklauseln für aufgehoben erklärt und damit die generelle Norm im Anwendungsfall ausschaltet, wohingegen Art 67 883/2004 weitere Diskriminierungsmerkmale wie Wohnsitzerfordernisse im Inland im Anwendungsfall zur Beurteilung des Sachverhalts verdrängt. Normen, die durch Art 7 VO 883/2004 im Vorfeld für aufgehoben erklärt wurden, können folglich nicht mehr Gegenstand des Art 67 VO 883/2004 sein.
Ad 2 bis 4) Dringlichkeit der Entscheidung, Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechtsaktes sowie Erforderlich zur vollen Wirksamkeit der künftigen Entscheidung
17 Für den Ausgangsfall lassen sich die Punkte 2 bis 4 nicht klar und deutlich voneinander trennen, sondern sind miteinander verwoben, weil eine generelle Norm auf dem Prüfstand steht. Der Schaden, der der [Mitbeteiligten] erwächst, mag für sie in der Zeit nach der Geburt eines dritten Kindes subjektiv groß sein, doch wiegt der Schaden der Union, der durch die Nichtvollziehung von gültigem und anwendbarem Unionsrecht entstünde, bereits objektiv wesentlich schwerer. Im konkreten Fall deckt sich allerdings das Interesse der Union mit jenem der [Mitbeteiligten]. Die Anordnung einer vorläufigen Gewährung der Familienbeihilfe ist der einzige Weg für das Vorlagegericht, um die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und damit Schaden von der Beschwerdeführerin und der Union abzuwenden. Auch zur Sicherstellung der vollen Wirksamkeit der künftigen Entscheidung ist die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes durch Anwendung von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht geboten.
18 Angesichts des Interesses der Union an der Vollziehung von gültigem und anwendbarem Unionsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte, die damit weiters nur der unionsrechtlichen Verpflichtung nachkommen und den Anwendungsvorrang beachten, ist es unerheblich, dass die [Mitbeteiligte] weder den drohenden Schaden genau beziffert noch einen förmlichen Antrag auf Einräumung von vorläufigem Rechtsschutz gestellt hat. Vielmehr ist das Vorlagegericht der Auffassung, dass es eines förmlichen Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in einer Ausgangssituation wie der vorliegenden nicht bedarf. Auf Rz 90 des Vorentscheidungsbeschlusses und die darin zitierten Nachweise wird ergänzend verwiesen.
19 In der Rechtssache Brasserie du pêcheur SA hat der EuGH zu Recht erkannt, dass ‚im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, als Einheit betrachtet [werde], ohne dass danach unterschieden [werde], ob der schadenverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist. Dies [gelte] umso mehr in der [Unions]rechtsordnung, als alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die vom [Unions]recht vorgeschriebenen Normen, die die Situation des einzelnen unmittelbar regeln können, zu beachten haben‘ (EuGH 5.3.1996, verb C-46/93 und C-48/93, Brasserie du pêcheur SA und The Queen, Rn 34).
20 Nach der Pressemitteilung der Europäische Kommission vom 14.5.2020 hat diese beschlossen, Österreich wegen der Einführung der Indexierung der Familienbeihilfe beim EuGH wegen Verletzung der Verträge zu verklagen. Das BFG sorgt sich um den Ausgang des Vertragsverletzungsverfahrens und hofft, dass auch in einem Vertragsverletzungsverfahren das Verhalten eines Mitgliedstaates als Ganzes betrachtet wird und dass die Einräumung vorläufigen Rechtsschutzes durch das BFG als Einrichtung der dritten Staatsteilgewalt iVm der Gültigkeitsfrage von Unionsrecht auf den Ausgang des Vertragsverletzungsverfahrens bzw auf die allfällige Bemessung eines Pauschalbetrages oder eines Bußgeldes nach Art 260 Abs 2 AEUV zugunsten Österreichs zu werten sein wird. Die im Vorlagebeschluss angeführten mahnenden Stimmen iZm der Einführung der Indexierung sind nicht die einzigen, sie blieben jedoch ungehört. Das Bemühen des BFG geht dahin, die Folgen des Vertragsverletzungsverfahrens, die von der Allgemeinheit der Steuerzahler zu tragen sein werden, bestmöglich abzumildern.
Ad 5) Gleichzeitigkeit von Vorabentscheidungsersuchen und vorläufigem Rechtsschutz
21 Auch dieses Kriterium wird erfüllt.
22 Schließlich ist zu sagen, dass in der Ausgangssituation eine abschließende Sachentscheidung durch das BFG unter Hinweis auf die CILFIT-Doktrin (vgl. EuGH 6.10.1982, Rechtssache Srl C.I.L.F.I.T. u.a., C-283/81, EU:C:1982:335), obwohl das Vorlagegericht keine Zweifel an der Gültigkeit von anwendbarem Sekundärrecht und dessen Primärrechtskonformität hat, angesehen von der Gültigkeitsfrage auch deshalb ausscheidet, weil der österreichische Gesetzgeber mit Absicht und in rechtlicher Überzeugung die Indexierung der Familienbeihilfe beschlossen hat und aus diesem Grund ein Urteil des EuGH unbedingt notwendig ist, um die Rechtsbereinigungspflicht des österreichischen Gesetzgebers auszulösen (EuGH 25.10.1979, 159/78, Rs Kommission/Italien, Rn 22). Im Übrigen ist die Berufung auf die CILFIT-Doktrin nur einem letztinstanzlichen Gericht vorbehalten, was das BFG nicht ist (vgl Rn 4, 8 und 21 des genannten EuGH-Urteils).
23 Bei gegebener Unionsrechtslage ist in jedem Einzelfall eine Vorlage der Gültigkeitsfrage an den EuGH erforderlich, um für diesen konkreten Fall die vorläufige Anordnung treffen zu können. Bemerkt wird, dass nach dem vorliegenden Zahlenmaterial von der kürzenden Indexierung rund 125.000 Fälle betroffen sind. Das wären 125.000 Vorabentscheidungsersuchen.“
Daran schloss das Gericht folgende „Rechtsbelehrung und Hinweise“ an:
„Gegen Beschlüsse gemäß § 30a Abs. 3 VwGG ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof (§ 25a Abs. 2 Z 1 VwGG) oder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (§ 88a Abs. 2 VfGG) nicht zulässig.
Gegen verfahrensleitende Beschlüsse ist eine abgesonderte Revision, und zwar sowohl die sogenannten ordentliche wie auch die außerordentliche Revision, an den Verwaltungsgerichtshof oder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht zulässig. Sie können erst in der Revision oder Beschwerde gegen das die Rechtssache erledigende Erkenntnis angefochten werden (§ 25a Abs. 3 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, § 88a Abs. 3 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953).
Das Vorabentscheidungsersuchen ist als ein Zwischenverfahren im mitgliedstaatlichen Rechtsmittelverfahren eingerichtet. Die Befassung der nationalen Höchstgerichte des öffentlichen Rechts vor Ergehen des Urteils des EuGH würde dieser unionrechtlichen Konzeption zuwiderlaufen.
Mit der Frage nach der Gültigkeit von unmittelbar geltendem Sekundärrecht ist die mit diesem Beschluss getroffene vorläufige Anordnung zur Gewährung der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages in ungekürzter Form untrennbar verbunden, weil das Unionsrecht das mitgliedstaatliche Gericht im Fall der Gültigkeitsfrage an den EuGH dazu verpflichtet. Aufgrund des Anwendungsvorranges gültigen Unionsrechts als Teil der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung iVm der Frage nach seiner Gültigkeit in einem Vorentscheidungsersuchen steht in diesem Fall den Parteien das auch Rechtsinstitut der außerordentlichen Revision, die das BFG nach innerstaatlichem Recht nicht auszuschließen vermag, nicht offen.
Bei der Frage nach der Gültigkeit (bzw Ungültigkeit) der Handlungen der Unionsorgane handelt es sich materiell um eine Nichtigkeitsklage iSd Art 263 AEUV, zu dessen Beurteilung allein der EuGH berufen ist und dem allein das Verwerfungsmonopol von Sekundärrecht zukommt. Der Beschluss über die vorläufige Anordnung ist daher akzessorisch zum die Gültigkeitsfrage umfassenden Vorabentscheidungsersuchen und beide Rechtsakte bilden eine untrennbare Einheit, die nur einer einheitlichen Rechtskontrolle unterliegen können. Folglich unterliegt auch der Beschluss über die vorläufige Anordnung ausschließlich der Kontrolle des EuGH.
Laut Spruchpunkt IV erlischt die Wirksamkeit der vorläufigen Anordnung in dem Zeitpunkt, in dem der Europäische Gerichtshof das das Vorabentscheidungsersuchen beantwortende Urteil erlässt. Ab diesem Zeitpunkt ist die endgültige Entscheidung in der Beschwerdesache RV/7101806/2020 selbst zu treffen. Bei diesem Beschluss handelt es sich daher um einen Beschluss, der direkt auf das Unionsrecht gestützt ist.“
5 In einem weiteren Beschluss vom 21. Oktober 2020 legte das Gericht im Rahmen des Verfahrens über die obgenannte Beschwerde dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 AEUV insgesamt 14 Fragen zur Vorabentscheidung vor, die auf die Frage der Gültigkeit von unionsrechtlichem Sekundärrecht und auf die Frage der Vereinbarkeit mit innerstaatlichem Recht, insbesondere mit der „Indexierung“ der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages, aber auch die Maßgeblichkeit von Art. 133 Abs. 4 und 9 B-VG, § 25a Abs. 1 bis 3 und § 30a Abs. 7 VwGG abzielen.
6 Gegen den Beschluss vom 14. Oktober 2020 richtet sich die Amtsrevision des Finanzamtes Waldviertel, nunmehr Finanzamtes Österreich, die ihre Zulässigkeit in einem Abweichen des angefochtenen Beschlusses von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage einstweiliger Anordnungen nach dem Unionsrecht und nach der Rechtsprechung des EuGH darlegt.
7 Mit der Revision ist der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verbunden:
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei auch bei Amtsrevisionen die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 30 Abs. 2 VwGG zulässig. Als „unverhältnismäßiger Nachteil für die revisionswerbende Partei“ sei dabei eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der von der Amtspartei zu vertretenden öffentlichen Interessen als Folge einer Umsetzung des angefochtenen Erkenntnisses in die Wirklichkeit zu verstehen. Insoweit träten im Fall einer Amtsrevision bei der vorzunehmenden Interessenabwägung diese öffentlichen Interessen an die Stelle jener Interessenlage, die sonst bei einem „privaten“ Revisionswerber als Interesse an dem Aufschub des sofortigen Vollzuges der angefochtenen Entscheidung in die Abwägung einfließe.
Mit Spruchpunkt III. des angefochtenen Beschlusses werde das revisionswerbende Finanzamt dazu verpflichtet, die Nachzahlung des strittigen Betrages an die Mitbeteiligte unverzüglich vorzunehmen. Komme das Finanzamt diesem Auftrag nach, wozu es nach § 282 BAO grundsätzlich verpflichtet sei, würde damit die Amtsrevision, mit der die beschlussmäßige Anordnung in ihrem gesamten Umfang angefochten werde, teilweise die Grundlage entzogen.
Im Rahmen der gemäß § 30 Abs. 2 VwGG gebotenen Interessenabwägung sei ferner zu berücksichtigen, ob die Mitbeteiligte überhaupt ein Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides haben könnte. In der Revision werde an mehreren Stellen aufgezeigt, dass für die beschlussmäßige Anordnung insgesamt und für deren sofortige Vollziehung im Besonderen kein dringlicher Grund erkennbar sei. Insbesondere habe die Mitbeteiligte selbst keinen entsprechenden Antrag gestellt. Das erscheine im Hinblick auf Spruchpunkt IV. des angefochtenen Beschlusses nicht verwunderlich. Somit wäre nämlich die Mitbeteiligte mit Ergehen des Urteils des EuGH zur Rückzahlung an das Finanzamt verpflichtet, dies unabhängig vom Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens, weil sich ansonsten aus dem das Bescheidbeschwerdeverfahren abschließenden Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes eine doppelte Auszahlungsverpflichtung für das Finanzamt ergeben könnte. Dass die Mitbeteiligte ein schützenswertes Interesse am Erhalt einer Zahlung, die sie sodann wieder zurückzahlen müsse, haben könnte, sei nicht anzunehmen. Das Interesse des Finanzamtes, nicht vom nachteiligen Zahlungsauftrag ohne geeignete Rechtsgrundlage getroffen zu sein, wiege daher schwerer.
In der Revision werde dargelegt, dass der angefochtene Beschluss über eine vorläufige Anordnung
- entgegen der Rechtsprechung des EuGH und (diesem folgend) des Verwaltungsgerichtshofes ergangen sei, dass ihm
- eine nachvollziehbare Begründung und Feststellungen zu elementaren Voraussetzungen für einen vorläufigen Rechtsschutz zur Gänze fehlten, dass er
- mit der Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, mit Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit sowie mit Rechtswidrigkeit wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften behaftet sei, und
- im Ergebnis also als offenkundig rechtswidrig einzustufen sei.
Wenn - wie hier - zu erkennen sei, dass die angefochtene Entscheidung im Hinblick auf bestehende Vorjudikatur wegen offenkundiger Rechtswidrigkeit aufzuheben sein werde, dann wäre die uneingeschränkte Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen, für den Revisionswerber nachteiligen Leistungsbefehls während des gesamten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens unverhältnismäßig.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision gemäß § 36 VwGG das Vorverfahren eingeleitet und der Mitbeteiligten auch Gelegenheit zur Stellungnahme zum Antrag auf aufschiebende Wirkung gegeben.
9 In ihrer Stellungnahme vom 14. Jänner 2021 bringt sie zusammengefasst vor, die „Beschwerde“ des Finanzamtes sei nicht hinreichend sachlich begründet, weil ein in ihrer Beschwerde erwähntes Gutachten zur Vereinbarkeit der Indexierung der Familienleistungen mit dem Unionsrecht nicht berücksichtigt worden sei. Die vorgenommene Kürzung der Familienleistungen sei rechtswidrig, weil sie in eklatanter Weise gegen geltendes Unionsrecht verstoße. Durch die Indexierung werde sie zweifelsfrei gegenüber ihren Landsleuten diskriminiert, und zwar nur deshalb, weil ihre Kinder im Ausland wohnten. Nach geltendem Unionsrecht hätten Wanderarbeiter denselben Anspruch auf Familienleistungen wie lokale Arbeitnehmer, unabhängig vom Wohnort der betroffenen Kinder. Für dieselben gezahlten Beträge in einem Arbeitskontext hätten dieselben Leistungen anzufallen und zu gelten. Das EU-Parlament habe sich gegen eine Indexierung ausgesprochen. Dies sei bei der Amtsrevision des Finanzamtes nicht berücksichtigt worden.
10 Gemäß § 25a Abs. 3 VwGG ist gegen verfahrensleitende Beschlüsse eine abgesonderte Revision nicht zulässig. Sie können erst in der Revision gegen das die Rechtssache erledigende Erkenntnis angefochten werden.
Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG hat bis zur Vorlage der Revision das Verwaltungsgericht, ab Vorlage der Revision der Verwaltungsgerichtshof jedoch auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses oder mit der Ausübung der durch das angefochtene Erkenntnis eingeräumten Berechtigung für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre. Die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bedarf nur dann einer Begründung, wenn durch sie Interessen anderer Parteien berührt werden.
Gemäß § 30 Abs. 5 VwGG sind auf die Beschlüsse der Verwaltungsgerichte die für ihre Erkenntnisse geltenden Bestimmungen dieses Paragraphen sinngemäß anzuwenden.
Gemäß § 30a Abs. 3 VwGG hat das Verwaltungsgericht über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung unverzüglich mit Beschluss zu entscheiden.
Nach Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH dürfen nach § 290 Abs. 2 BAO bis zum Einlangen der Vorabentscheidung nur solche Amtshandlungen vorgenommen werden, die durch die Vorabentscheidung nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten.
11 Bereits vor In-Kraft-Treten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 hatte der Verwaltungsgerichtshof - der Rechtsprechung des EuGH folgend - bereits mehrfach ausgesprochen, es sei nicht ausgeschlossen, auf Grundlage der unmittelbaren Anwendung von Unionsrecht - über die im kassatorischen System der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehene Möglichkeit, der gegen einen Bescheid erhobenen Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und den angefochtenen Bescheid im Falle seiner Rechtswidrigkeit aufzuheben, hinausgehend - einstweilige Anordnungen mit der Wirkung zu treffen, dem Antragsteller eine Rechtsposition vorläufig einzuräumen, deren Einräumung mit dem angefochtenen Bescheid auf der Grundlage einer (möglicherweise dem Unionsrecht widersprechenden) nationalen Rechtsvorschrift verweigert worden sei. Diese Rechtsprechung ist auch auf die ab 1. Jänner 2014 geschaffene neue Rechtslage des VwGG weiterhin anzuwenden (vgl. etwa VwGH 29.10.2014, Ro 2014/04/0069, mwN).
12 Dem VwGG lässt sich (auch) nach Einführung der mehrstufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit keine Regelung entnehmen, die eine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtes zur Erlassung einstweiliger Anordnungen in unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts vorsähe. Mangels entsprechender Zuständigkeitsregeln ist daher zur Bestimmung der Zuständigkeit zur Erlassung einstweiliger Anordnungen im Revisionsverfahren von der „sachnächsten Zuständigkeit“ auszugehen.
„Sachnächstes“ Gericht für die Prüfung der Erlassung einstweiliger Anordnungen ist das Verwaltungsgericht. Damit wird auch den nach der Rechtsprechung des EuGH gebotenen Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität entsprochen (VwGH 29.10.2014, Ro 2014/04/0069, und 31. 10. 2019, Ra 2019/20/0470, mwN).
13 Im Revisionsfall gründet das Verwaltungsgericht den angefochtenen Beschluss über eine vorläufige Anordnung unmittelbar auf Unionsrecht.
14 Unter Zugrundelegung des durch die österreichische Bundesverfassung, insbesondere durch Art. 133 Abs. 1 Z 1, Abs. 4 und 9 B-VG, und durch das VwGG normierten Rechtsschutzsystems handelt es sich bei der „vorläufigen Anordnung“ um einen Beschluss eines Verwaltungsgerichtes, dessen Anfechtbarkeit vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht ausgeschlossen ist.
Insbesondere handelt es sich hiebei auch nicht um einen „verfahrensleitenden Beschluss“ im Sinn des § 25a Abs. 3 VwGG, weil dem angefochtenen Beschluss nicht bloß prozessleitende Funktion zukommt (vgl. hiezu etwa VwGH 24.3.2015, Ro 2014/05/0089 = Slg. 19.081/A, mwN), indem er die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde zur Mitwirkung am Verfahren anhalten würde, sondern weil dieser u.a. auf die Liquidierung (Auszahlung) der im Beschwerdeverfahren strittigen Differenzbeträge abzielt und damit u.a. zu einer Geldleistung an die Mitbeteiligte verpflichtet, die erst mittelbare Folge eines erfolgreichen Ausganges des Beschwerdeverfahrens wäre.
Auch ist dem Unionsrecht kein Grund zu entnehmen, weshalb der verfassungs-gesetzlich vorgegebene Rechtsschutz durch den Verwaltungsgerichtshof gegen einen - nicht bloß verfahrensleitenden - Beschluss zurückgedrängt sein sollte.
Die These des Bundesfinanzgerichts, der Beschluss über eine vorläufige Anordnung unterliege ausschließlich einer Kontrolle des EuGH, findet daher keine Bestätigung.
15 Es ist daher im vorliegenden Fall von der Revisibilität der angefochtenen einstweiligen Anordnung und damit von der Anwendbarkeit des § 30 VwGG in vollem Umfang auszugehen.
16 Das Finanzamt gründet sein Begehren auf aufschiebende Wirkung ausdrücklich auf § 30 Abs. 2 VwGG, womit gemäß § 14 Abs. 2 VwGG die Zuständigkeit des Berichters zur Entscheidung über diesen Antrag gegeben ist.
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch bei Amtsrevisionen die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 30 Abs. 2 VwGG zulässig. Als „unverhältnismäßiger Nachteil für den Revisionswerber“ ist dabei eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der von der Amtspartei zu vertretenden öffentlichen Interessen als Folge einer Umsetzung des angefochtenen Erkenntnisses in die Wirklichkeit zu verstehen. Insoweit treten diese öffentlichen Interessen im Falle einer Amtsrevision bei der vorzunehmenden Interessenabwägung an die Stelle jener Interessenlage, die sonst bei einem „privaten“ Revisionswerber als Interesse an dem Aufschub des sofortigen Vollzuges der angefochtenen Entscheidung in die Abwägung einfließt (vgl. etwa VwGH 15.3.2019, Ra 2018/16/0109, mwN).
18 Bei der Entscheidung über einen Aufschiebungsantrag hat der Verwaltungsgerichtshof grundsätzlich nicht die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, sondern allein die Auswirkungen eines möglichen Vollzuges deren Inhaltes. Ausnahmsweise wird allerdings eine offenkundige Rechtswidrigkeit als relevant angesehen. Weiters ist eine zumindest grobe Vorabprüfung der Erfolgsaussichten zu einem gewissen Maß aus unionsrechtlichen Gründen im Zusammenhang mit einstweiligen Verfügungen erforderlich (vgl. die in Mayer/Muzak, Kommentar zum B-VG5, in Anmerkung F II.2. zu § 30 VwGG, wiedergegebene Judikatur).
19 Das Gericht gründet die angefochtene vorläufige Anordnung auf die aus der Rechtsprechung des EuGH ersichtlichen Voraussetzungen für einstweilige Anordnungen. Zu diesen Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen, zählt u.a., dass die Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ist und feststeht, dass sie in dem Sinne dringlich ist, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen wird und ihre Wirkungen entfalten muss. Der Richter der einstweiligen Anordnung nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der bestehenden Interessen vor (EuGH 31.7.2003, C-208/03 P-R, Le Pen, Rn. 77; vgl. auch EuGH 21.2.1991, C-143/88 und C-92/89 - Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG, Rn. 33 zweiter Anstrich).
20 Unter anderem darin unterscheiden sich die Voraussetzungen für eine (einstweilige) Gewährung von (ungekürzten) Familienleistungen im Wege einer einstweiligen Anordnung von jenen für deren endgültige Gewährung im Rahmen des Familienbeihilfensystems, weil bei Letzterer auf eine Notwendigkeit der Leistungen zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens, fallbezogen auf eine individuelle dringende Bedürftigkeit, nicht abgestellt wird.
21 Im angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht dieses Kriterium der Dringlichkeit der Entscheidung zur Abwehr eines schweren, irreparablen Schadens unter einem mit einem Interesse der Europäischen Union an der Wirksamkeit des Unionsrechts - dessen Auslegung jedoch noch Gegenstand eines eigenen Ersuchens an den EuGH ist - begründet. Das Verwaltungsgericht hat jedoch - abgesehen von Feststellungen zum Verwaltungsgeschehen - keine näheren Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen der Mitbeteiligten und insbesondere der beiden Kinder Lubos und Ellen getroffen, anhand derer beurteilt werden könnte, ob die mit dem angefochtenen Beschluss einstweilen angeordnete Auszahlung der strittigen Differenzbeträge zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens im Interesse der Mitbeteiligten geboten ist. Auch ist den vorgelegten Verwaltungsakten keine Glaubhaftmachung solcher Umstände seitens der Mitbeteiligten oder überhaupt ein Begehren auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung zu entnehmen.
22 Dagegen ist der zitierten Rechtsprechung des EuGH nicht zu entnehmen, dass ein allfälliges Interesse der Europäischen Union an einem Anwendungsvorrang der den Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens bildenden unionsrechtlichen Bestimmungen in die Glaubhaftmachung eines unwiederbringlichen Schadens für die Parteien des gerichtlichen Verfahrens einzufließen hätte.
23 Der Verwaltungsgerichtshof hat der Mitbeteiligten im Rahmen der Einleitung des Vorverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme zum Antrag der Amtsrevision, dieser aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, gegeben. Auch der Stellungnahme der Mitbeteiligten vom 14. Jänner 2021 sind keine Umstände in tatsächlicher Hinsicht zu entnehmen, aus denen ihr dringendes Interesse an der Auszahlung der strittigen Differenzbeträge vor Entscheidung in der Hauptsache (hier: über die Revision gegen die einstweilige Anordnung) abgeleitet werden könnte.
24 Somit ist im Verfahren bislang kein dem geltend gemachten Interesse des Finanzamtes widerstreitendes Interesse der Mitbeteiligten behauptet oder dargelegt worden.
25 Dem Antrag des Finanzamtes, der Amtsrevision aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, ist daher gemäß § 30 Abs. 2 VwGG stattzugeben.
Wien, am 1. Februar 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 61988CJ0143 Zuckerfabrik Süderdithmarschen Soest VORABEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020160173.L07Im RIS seit
21.05.2021Zuletzt aktualisiert am
21.05.2021