TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/8 Ra 2021/21/0076

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Veröffentlicht am 08.04.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §37
AVG §56
AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §22a Abs3
EURallg
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §76 Abs6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwRallg
32013L0033 Aufnahme-RL Art8 Abs3 litd

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 28. Dezember 2020 mündlich verkündete und mit 25. Jänner 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, G301 2238012-1/7E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: L L alias Y L, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkte A.II., A.III. und A.IV., soweit damit der Aufwandersatzantrag des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl abgewiesen wurde) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein chinesischer Staatsangehöriger, wurde am 13. Dezember 2020 einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen und nach der Befragung in einer Polizeiinspektion gemäß § 40 Abs. 1 Z 3 BFA-VG wegen unrechtmäßigen Aufenthalts festgenommen. Er hatte als Identität Y. L., geboren am 8. August 1985, angegeben. Er sei nicht im Besitz von Personaldokumenten und verfüge in Österreich, wo er sich seit Juli 2020 aufhalte, über keinen (festen) Wohnsitz.

2        Bei der am nächsten Tag vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) durchgeführten Vernehmung gab der Mitbeteiligte dann an, im August 2020 mit einem gültigen Reisepass samt einem Touristenvisum direkt von Peking nach Wien geflogen zu sein; der Schlepper habe ihm dann das Reisedokument abgenommen. Zur Dauer des in Österreich beabsichtigten Aufenthalts befragt, meinte der Mitbeteiligte, „keinen genauen Plan“ gehabt zu haben. Hier habe er bei „verschiedenen Chinesen“ gewohnt, denen er „auf der Straße begegnet“ sei. Namen könne er nicht nennen. Nach China wolle er nicht zurückkehren, weil er dort keine Verwandten habe und keine Arbeit finden könne, um genug Geld zu verdienen. Nachdem dem Mitbeteiligten abschließend mitgeteilt worden war, dass über ihn Schubhaft verhängt werde, erklärte er, doch freiwillig ausreisen zu wollen, was er letztendlich aber wieder revidierte.

3        Hierauf verhängte das BFA mit Mandatsbescheid vom 14. Dezember 2020 (zugestellt um 14.20 Uhr) über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung. In der Begründung verwies das BFA (unter anderem) auf das Ergebnis einer Visadaten-Abfrage, wonach der Mitbeteiligte bereits im Oktober 2019 unter einem anderen Namen, nämlich L. L., geboren am 17. März 1986, über ein „portugiesisches C-Visum“ verfügt habe. Im gegenständlichen Verfahren sei er jedoch unter anderem Namen und Geburtsdatum aufgetreten, was zeige, dass er gegenüber der Behörde seine wahre Identität verschleiern wolle, um so einer zwangsweisen Außerlandesbringung zu entgehen.

4        Mit einem am nächsten Tag zugestellten Bescheid vom 14. Dezember 2020 erließ das BFA dann gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung und wegen Mittellosigkeit ein mit zwei Jahren befristetes Einreiseverbot, wobei einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt wurde. Unter einem wurde ein Verfahren zur Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, wofür der Mitbeteiligte ein entsprechendes Formular ausgefüllt hatte, eingeleitet.

5        Am 17. Dezember 2020 (um 16.04 Uhr) stellte der Mitbeteiligte während der Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der anschließenden Erstbefragung berichtigte er seine Identitätsangaben auf L. L., geboren am 7. März 1986. Er sei am 14. August 2020 unter den genannten Daten mit seinem chinesischen Reisepass und einem von der österreichischen Botschaft in Peking ausgestellten Visum von dort nach Wien per Flugzeug gereist. Als Fluchtgrund gab der Mitbeteiligte sodann an, in China „Falun Gong“ praktiziert zu haben, was verboten sei. Er habe im September 2018 in Shenyang mit einigen Leuten Prospekte verteilt, weshalb sie von der Polizei für eine Stunde festgenommen worden seien. Im Dezember 2018 hätten sie wieder Prospekte verteilt, woraufhin sie diesmal für ca. 24 Stunden angehalten worden seien. Bis zu seiner Ausreise habe er solche Aktivitäten nicht mehr gesetzt und er sei daher von der Polizei auch nicht mehr festgenommen worden. Er fühle sich aber „deswegen nicht frei“ und habe deshalb - nach seinen zuvor getätigten Angaben: im Juni 2020 - beschlossen, China zu verlassen. Bei einer Rückkehr fürchte er, wenn er wieder „solche Aktionen“ mache, neuerlich von der Polizei festgenommen und dann für drei Jahre angehalten zu werden. „Sie“ würden ihn auch bestimmt foltern, weil er bereits bei der zweiten Festnahme geschlagen worden sei.

6        Noch am selben Tag hielt das BFA in einem (dem Mitbeteiligten ausgehändigten) Aktenvermerk fest, dass die Schubhaft gemäß § 76 Abs. 6 FPG aufrecht bleibe, weil „zum jetzigen Zeitpunkt“ im Sinne der genannten Bestimmung Gründe für die Annahme bestünden, der Antrag auf internationalen Schutz sei vom Mitbeteiligten (nur) zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden. Das begründete das BFA vor allem damit, dass der Mitbeteiligte bei seiner Vernehmung am 14. Dezember 2020 noch keine asylrelevante Bedrohung behauptet, sondern lediglich finanzielle Gründe für das Verlassen Chinas erwähnt habe. Er habe „keinen im Ansatz ähnlichen Sachverhalt“ wie bei der Erstbefragung im Asylverfahren geschildert. Auch die lange Dauer zwischen der Einreise und der Asylantragstellung lasse die Vermutung zu, dass „die Einreise nicht aufgrund einer asylrelevanten Basis erfolgte“. Bei „tatsächlicher Existenz von Befürchtungen“ wäre doch anzunehmen, dass von einem Flüchtling die nächste sich bietende Möglichkeit ergriffen werde, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Schließlich verwies das BFA noch auf die zunächst erfolgte Verschleierung der richtigen Identitätsdaten und die kurzfristige Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr nach China.

7        Gegen den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung erhob der Mitbeteiligte Beschwerde, über die das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 28. Dezember 2020 mündlich verhandelte. In dieser Verhandlung stellte der Mitbeteiligte klar, bei der asylrechtlichen Erstbefragung seinen richtigen Namen angegeben zu haben. Er heiße L. L. und sei am 7. März 1986 geboren. Auf die Frage, weshalb er zunächst einen anderen Namen angegeben habe, antwortete der Mitbeteiligte, er sei bei seiner Festnahme davon ausgegangen, dass er nach China abgeschoben werde, wenn er seine wahre Identität preisgebe. In der Folge wurde dem Mitbeteiligten das schon im Schubhaftbescheid erwähnte Ergebnis der Abfrage in der Visadatenbank vorgehalten, wonach ihm unter der Identität L. L., geboren am 17. März 1986, von einer portugiesischen Vertretungsbehörde in China ein Visum C mit der Gültigkeit vom 25. Oktober 2019 bis 19. November 2019 ausgestellt worden sei. Hierauf räumte der Mitbeteiligte ein, sich beim Geburtsdatum 7. März 1986 geirrt zu haben und mit diesem Visum bereits am 27. Oktober 2019 von Peking nach Wien geflogen zu sein; seitdem halte er sich in Österreich auf. Auf die Frage seiner Rechtsvertreterin, weshalb er erst am 17. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, erklärte der Mitbeteiligte, er habe Geld verdienen wollen, um für die Bezahlung des Schleppers eingegangene Schulden in China zu begleichen. Danach zum Ausreisegrund befragt, gab er (nur) an, er sei „von der chinesischen Regierung verfolgt“ worden.

8        Mit dem am Ende dieser Verhandlung verkündeten Erkenntnis wurde die Beschwerde hinsichtlich des Schubhaftbescheides und der Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 14. Dezember 2020, 14.20 Uhr, bis 17. Dezember 2020, 16.04 Uhr, als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A.I.). Allerdings wurde die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft ab 17. Dezember 2020, 16.04 Uhr, in Stattgebung der Beschwerde für rechtswidrig erklärt (Spruchpunkt A.II.). Unter einem stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen (Spruchpunkt A.III.). Schließlich wurden die Anträge des Mitbeteiligten und des BFA auf Ersatz der Aufwendungen abgewiesen (Spruchpunkt A.IV.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG noch aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.). Über fristgerechten Antrag des BFA wurde dieses Erkenntnis mit 25. Jänner 2020 schriftlich ausgefertigt.

9        Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. dieses Erkenntnisses sowie gegen dessen Spruchpunkt A.IV., erkennbar aber nur soweit damit der Aufwandersatzantrag des BFA abgewiesen wurde, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA. Darüber hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung - erwogen:

10       Die über den Mitbeteiligten mit Bescheid vom 14. Dezember 2020 verhängte Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG, der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungs-RL) seinen unionsrechtlichen Hintergrund hat, gestützt. Danach darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück des FPG (hier: der Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot) oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen erachtete das BVwG für gegeben, weshalb es die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Schubhaftanordnung und die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft bis zur Stellung des Antrags auf internationalen Schutz richtete, mit dem unbekämpften Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses abwies.

11       Vorliegend geht es (zunächst) um die zeitlich anschließende - von Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses umfasste, vom BVwG für rechtswidrig erachtete - auf § 76 Abs. 6 FPG gestützte Aufrechterhaltung dieser Schubhaft auch nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz. Nach dieser Bestimmung kann die Schubhaft aufrechterhalten werden, wenn ein Fremder während seiner Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz stellt und Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag - ausschließlich (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0204, Rn. 14) - zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk „festzuhalten“, der - wie hier geschehen - dem Fremden zur Kenntnis zu bringen ist, in einer ihm verständlichen Sprache die Mitteilung über die Aufrechterhaltung der Schubhaft im Grunde des § 76 Abs. 6 FPG zu enthalten hat und überdies nachvollziehbar zu begründen ist. Im Hintergrund bildet weiterhin der Schubhaftbescheid als konstitutiver Akt die maßgebliche Rechtsgrundlage, ergibt sich doch daraus unverändert neben dem Sicherungszweck vor allem das Vorliegen von Fluchtgefahr (vgl. VwGH 18.2.2021, Ra 2021/21/0025, Rn. 23).

12       Diese Bestimmung dient somit der Aufrechterhaltung einer schon in Vollzug befindlichen Schubhaft gegenüber einem (nunmehrigen) Asylwerber; insoweit wird Art. 8 Abs. 3 lit. d der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahme-RL) abgebildet (vgl. neuerlich VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0204, nunmehr Rn. 13, mwN). Nach dieser unionsrechtlichen Regelung darf ein Antragsteller nur in Haft genommen werden, wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungs-RL in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, er stelle den Antrag auf internationalen Schutz nur, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln.

13       In Bezug auf die vom BFA vorgenommene Heranziehung des Schubhafttatbestandes des § 76 Abs. 6 FPG war vom BVwG zu klären, ob es aus damaliger Sicht rechtens war, dem Schubhäftling bei Stellung des Antrags auf internationalen Schutz eine Verzögerungs- oder Vereitelungsabsicht im Sinne der genannten Bestimmung zu unterstellen. Dabei ist vom BVwG zwar nur eine „nachträgliche Kontrolle“ durchzuführen, die sich allerdings - wie zuletzt in VwGH 18.2.2021, Ra 2021/21/0025, unter Rn. 25 klargestellt wurde - nicht auf die Tragfähigkeit der Begründung des diesbezüglichen Aktenvermerks beschränkt; lediglich erst nach diesem Zeitpunkt eingetretene Tatsachen dürften vom BVwG nicht berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof schon dargelegt, dass es in Bezug auf die Annahme einer Missbrauchsabsicht im Sinne des § 76 Abs. 6 FPG zumindest einer Grobprüfung der Motive für die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, insbesondere auch unter Bedachtnahme auf die zu dessen Begründung vorgetragenen Verfolgungsbehauptungen, bedürfe. Es sei insoweit eine (inhaltliche) Grobprüfung dieses Antrags vorzunehmen, als sich daraus Schlüsse auf die Motivation für die Antragstellung ableiten ließen (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0234, Rn. 14, und daran anschließend VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0198, Rn. 17). Das umfasst auch eine Prognose über den voraussichtlichen negativen Ausgang des Verfahrens über den Antrag auf internationalen Schutz (VwGH 29.9.2020, Ro 2020/21/0011, Rn. 16). Diese Beurteilung kann auf Basis einer ausreichenden Aktenlage, insbesondere auch aufgrund der Angaben bei der Erstbefragung zum Antrag auf internationalen Schutz, erfolgen und bedarf nicht zwingend einer vorhergehenden Vernehmung des Fremden, mag sie auch häufig zweckmäßig sein. Dass eine (bloße) Grobprüfung vorzunehmen ist, schließt es aber nicht aus, dass hierfür im Einzelfall eine Vernehmung des Asylwerbers und/oder eines Zeugen in einer Verhandlung vor dem BVwG geboten sein kann (vgl. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0198, Rn. 17). Bei Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen nach § 76 Abs. 6 FPG darf vor allem auch berücksichtigt werden, ob der nunmehrige Asylwerber schon früher Gelegenheit gehabt hätte, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, weil diese Tatsache nach Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL ausdrücklich zu den objektiven Kriterien für die Annahme einer Verzögerungs- oder Vereitelungsabsicht zählt (vgl. VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0079, Rn. 14). Indizien für eine solche Missbrauchsabsicht können somit insbesondere sein, dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, den Antrag trotz früherer Gelegenheit erst zu diesem (späten) Zeitpunkt zu stellen oder dass die Begründung des Antrags ihn von vornherein aussichtslos erscheinen lässt oder dass im Falle der wiederholten Antragstellung keine maßgeblichen Sachverhaltsänderungen ins Treffen geführt werden (vgl. zum Ganzen noch einmal VwGH 18.2.2021, Ra 2021/21/0025, nunmehr Rn. 26).

14       Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die Begründung des BVwG für die zugunsten des Mitbeteiligten ergangenen Spruchpunkte A. II. und A. III. zu sehen, mit der das Vorliegen einer bei der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz gegebenen Missbrauchsabsicht verneint und daher die Aufrechterhaltung der Schubhaft nach der Stellung dieses Antrags und deren Fortsetzung nach der Entscheidung des BVwG für unzulässig erkannt wurden. Diese Begründung lautet in den wesentlichen Teilen wie folgt:

„In der mündlichen Verhandlung sind keine eindeutigen oder sonst unzweifelhaften Umstände erkennbar gewesen, dass der BF [= Mitbeteiligte] nach Erlassung des angefochtenen Schubhaftbescheides und während aufrechter Anhaltung den Antrag auf internationalen Schutz einzig zum Zweck der Vereitelung bzw. jedenfalls zur Verzögerung einer ihm allenfalls drohenden Rückführung in seinen Herkunftsstaat gestellt hätte. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der BF bei der Erstbefragung im Asylverfahren einen anderen Namen und ein anderes Geburtsdatum angab und in der Verhandlung dazu befragt einräumte, vor der Asylantragstellung einen anderen Namen angegeben zu haben, weil er zum damaligen Zeitpunkt befürchtet habe, nach China abgeschoben zu werden. Das erkennende Gericht schließt sich insoweit im Ergebnis dem Vorbringen in der Beschwerde an, wonach auf Grund der Angaben des BF zu den Gründen seiner Antragstellung in der Erstbefragung am 17.12.2020 eben nicht eindeutig oder völlig unzweifelhaft davon ausgegangen werden konnte, dass der BF den Antrag auf internationalen Schutz ausschließlich in missbräuchlicher Verzögerungs- oder Vereitelungsabsicht gestellt hätte. Die Angaben des BF zur behaupteten Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr in die VR China (wonach er - im Wesentlichen zusammengefasst - Falungong praktiziere, was aber verboten sei, Prospekte verteilt habe und zweimal von der Polizei festgenommen worden sei), erscheinen jedenfalls auf den ersten Blick (Grobprüfung) nicht als völlig denkunmöglich, unplausibel oder insgesamt gänzlich unglaubhaft. So gab der BF auch in der Verhandlung an, dass er China deshalb verlassen habe, weil er von der Regierung verfolgt worden sei. Umgekehrt wird aber dennoch nicht verkannt, dass die belangte Behörde durchaus Grund zur Annahme haben konnte, dass die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz nach erfolgter Rechtsberatung in der Schubhaft vonseiten des BF durchaus auch - aber eben nicht nur - mit dem ‚Hintergedanken‘ erfolgte, um so jedenfalls nicht Gefahr zu laufen, zeitnah in den Herkunftsstaat zurückgebracht zu werden. Dies wird auch durch die Tatsache untermauert, dass der BF zunächst andere Angaben zu seiner Identität machte.

Überdies wird die belangte Behörde den bei ihr nach wie vor anhängigen Antrag auf internationalen Schutz des BF näher zu prüfen und eine Einvernahme durchzuführen haben, weshalb eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung des erkennenden Gerichts mit dem in der asylrechtlichen Erstbefragung erstatteten Vorbringen des BF - über eine erste ‚Grobprüfung‘ nach Maßgabe des § 76 Abs. 6 FPG hinaus - nicht stattzufinden hat, um auch einer Entscheidung des BFA im Verfahren zur Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz nicht vorzugreifen und eine solche auch nicht - inhaltlich - zu ‚präjudizieren‘.

Da somit in einer Gesamtbetrachtung nicht eindeutig oder unzweifelhaft davon ausgegangen werden kann, dass die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz ausschließlich mit Vereitelungs- oder Verzögerungsabsicht erfolgt wäre, lagen demnach auch die Voraussetzungen des § 76 Abs. 6 FPG für eine Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht vor.“

15       Diesen Überlegungen hält die Amtsrevision zusammengefasst entgegen, das BVwG habe eine vom Maßstab des Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL abweichende Beurteilung vorgenommen. Zu den „Beweis- und Beurteilungsmaßstäben“ im Zusammenhang mit § 76 Abs. 6 FPG fehle ausdrückliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

16       Damit ist das BFA (im Ergebnis) im Recht, sodass sich die Amtsrevision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt erweist.

17       Das BVwG stellte für die Annahme einer Missbrauchsabsicht im Sinne des § 76 Abs. 6 FPG darauf ab, es müssten für deren Vorliegen diesbezüglich „eindeutige oder sonst unzweifelhafte Umstände“ erkennbar sein bzw. es müsste davon „eindeutig oder völlig unzweifelhaft“ ausgegangen werden können. Demgegenüber verlangt Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL nur, dass der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien „belegen“ könne, es bestünden „berechtigte Gründe“ für die Annahme einer solchen Absicht. In diesem Sinn ist auch die diesbezügliche Wendung in § 76 Abs. 6 FPG („ ..., wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass ...“) zu verstehen. Daraus ergibt sich zwar, dass die „Beweislast“ bei dem „betreffenden Mitgliedstaat“, somit dem BFA liegt, sodass es für die Annahme der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen nach der genannten Bestimmung als Ergebnis der vorzunehmenden Grobprüfung einer entsprechenden „positiven“ Feststellung bedarf. Eine solche Feststellung ist aber nicht nur dann zu treffen, wenn die „objektiven Kriterien“ den Schluss auf eine Vereitelungs- oder Verzögerungsabsicht „eindeutig“ oder „unzweifelhaft“ zulassen, sondern bereits dann, wenn hierfür „berechtigte Gründe“ vorliegen. Insoweit hat das BVwG die Rechtslage verkannt.

18       Das BVwG ließ bei seiner Begründung im Übrigen außer Acht, dass in Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL als „objektives Kriterium“, das eine Missbrauchsabsicht im Sinne dieser Bestimmung indizieren könne, die Tatsache genannt ist, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte (siehe dazu schon oben Rn. 13). Demnach wäre im vorliegenden Fall vom BVwG näher darauf einzugehen gewesen, dass sich der Mitbeteiligte weder während seines bisherigen Aufenthalts in Österreich (nach seinen letzten Angaben:) seit Ende Oktober 2019 bis zu seiner Festnahme Mitte Dezember 2020 noch bei der Vernehmung vor dem BFA vor der Schubhaftverhängung veranlasst gesehen hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, sondern erst während der Anhaltung in Schubhaft nach Erlassung einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Das wurde im Rahmen der Begründung des BVwG überhaupt nicht berücksichtigt, was die Amtsrevision zutreffend aufzeigt. Insbesondere macht sie in diesem Zusammenhang auch zu Recht geltend, das diesbezügliche Vorbringen des Mitbeteiligten, er habe zuerst für die Tilgung der Schlepperkosten Geld verdienen wollen, stelle keinen nachvollziehbaren Grund dafür dar, bei tatsächlicher Befürchtung einer Verfolgung im Herkunftsstaat erst über ein Jahr nach der Einreise die Gewährung von internationalen Schutz zu beantragen und zwischenzeitlich ohne Aufenthaltsrecht und ohne rechtmäßige Beschäftigung in Österreich zu leben.

19       Im Übrigen hätte sich das BVwG bei der gebotenen Prognose über den voraussichtlichen Ausgang des Verfahrens über den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz, also über dessen Berechtigung, nicht nur auf die - nicht näher begründete - Einschätzung beschränken dürfen, die vorgebrachten Verfolgungsbehauptungen erschienen „nicht als völlig denkunmöglich, unplausibel oder insgesamt gänzlich unglaubhaft“. Auch wenn diesbezüglich nur eine Grobprüfung vorzunehmen ist, es also keiner ins Detail gehenden Auseinandersetzung mit der Antragsbegründung bedarf, genügt eine solche pauschale Beurteilung an dem vom BVwG herangezogenen (niedrigen) Maßstab hierfür nicht. Auch das wird in der Amtsrevision zutreffend geltend gemacht. Fallbezogen hätten schon die zeitlichen Angaben des Mitbeteiligten - ins Treffen geführte kurzfristige Festnahmen im Herbst 2018, zunächst behaupteter Ausreiseentschluss im Juni 2020, tatsächliche Ausreise Ende Oktober 2019 - einer Klärung bedurft, wofür sich die mündliche Verhandlung angeboten hätte. Von Seiten des Richters des BVwG wurde aber in dieser Verhandlung überhaupt keine Befragung des Mitbeteiligten zu seinen Ausreisegründen vorgenommen und daher auch nicht geklärt, warum von ihm hierfür zunächst nur finanzielle Motive angegeben worden waren. Darauf wurde auch - wie in der Amtsrevision ebenfalls zu Recht bemängelt wird - in der Begründung des BVwG nicht eingegangen.

20       Bei Vermeidung der aufgezeigten, auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhenden Mängel hätte das BVwG - auch in Verbindung mit der schon im Schubhaftbescheid angesprochenen, vom Mitbeteiligten in der Beschwerdeverhandlung dann auch eingeräumten ursprünglichen Verschleierung seiner Identität zur Hintanhaltung einer Abschiebung - zu einem anderen, auch auf den Fortsetzungsausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG durchschlagenden Ergebnis in Bezug auf das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht im Sinne des § 76 Abs. 6 FPG kommen können.

21       Daher waren die Spruchpunkte A.II. und A.III. des angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben. Demzufolge war auch die von einem teilweisen Obsiegen beider Parteien ausgehende Entscheidung des BVwG über den Aufwandersatz in Spruchpunkt A.IV., soweit damit der diesbezügliche Antrag des BFA abgewiesen wurde, aufzuheben.

Wien, am 8. April 2021

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Auslegung Allgemein EURallg3 Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210076.L00

Im RIS seit

17.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

17.05.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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