TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/14 Ra 2020/18/0288

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Veröffentlicht am 14.04.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z3
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Z A, vertreten durch Mag. Nikolaus Rast und Mag. Mirsad Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juni 2020, W111 1400680-4/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, insoweit sie sich gegen die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Entziehung der befristeten Aufenthaltsberechtigung und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am 14. Februar 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 2. März 2009 wies das Bundesasylamt den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber im Familienverfahren gemäß § 8 Abs. 1 und § 34 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) - abgeleitet von seiner damals minderjährigen Ehefrau als Bezugsperson, die den Status wiederum von ihrer Mutter abgeleitet hat - den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3        Diese befristete Aufenthaltsberechtigung wurde regelmäßig, zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11. September 2018 verlängert.

4        Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. März 2019 wurde der Revisionswerber wegen der Vergehen des teils versuchten, teils vollendeten gewerbsmäßigen betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach §§ 148a Abs. 1 und 2 erster und zweiter Fall, 15 StGB und der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünfzehn Monaten verurteilt, von der ein Teil in der Dauer von zehn Monaten unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde.

5        Mit Bescheid vom 8. Mai 2019 erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.), entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Unter einem wurde über den Revisionswerber ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt VII).

6        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 4. Juni 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. des bekämpften Bescheides - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und gab ihr hinsichtlich des Spruchpunktes VII. mit der Maßgabe statt, dass die Dauer des Einreiseverbots auf drei Jahre herabgesetzt werde. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

7        Begründend führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren von Belang - aus, der Revisionswerber lebe mit seiner Ehefrau und seinen vier minderjährigen Kindern, die in Österreich ebenfalls subsidiär schutzberechtigt seien, im gemeinsamen Haushalt. Da auch den Familienangehörigen des Revisionswerbers der Status der subsidiär Schutzberechtigten jeweils im Familienverfahren zuerkannt und keine individuelle Gefährdung festgestellt worden sei, könne es grundsätzlich nicht als unzumutbar erachtet werden, dass diese den Revisionswerber in den Herkunftsstaat begleiten und das Familienleben mit ihm dort fortsetzten. Alternativ stehe es dem Revisionswerber offen, den Kontakt mit seiner Familie telefonisch, über das Internet sowie allenfalls über Besuche in Drittstaaten aufrechtzuerhalten, wobei der Revisionswerber die Möglichkeit haben werde, sich nach Ablauf des Einreiseverbots nach den Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsrechts um einen legalen Zuzug nach Österreich zu bemühen. Der Ehefrau und den Kindern sei es in der Vergangenheit möglich gewesen, ihren Lebensunterhalt weitgehend unabhängig von einem Einkommen des Revisionswerbers zu finanzieren. Die Kinder würden weiterhin im Haushalt der Kindesmutter betreut werden, wobei diese durch ihre im Bundesgebiet aufhältigen Eltern und Schwestern unterstützt werden könne. Unterhaltszahlungen könnte der Revisionswerber auch vom Ausland aus überweisen. Die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl würden sich demnach nicht als derartig schwerwiegend darstellen, dass sie eine Rückkehrentscheidung von vornherein als unzulässig erscheinen ließen. Aufgrund der gewerbsmäßigen Begehung strafbarer Handlungen über einen Zeitraum von rund zweieinhalb Jahren mit einem verursachten Schaden von mehr als 293.000 €, der von seiner Person ausgehenden schwerwiegenden Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie seiner mangelnden beruflichen Integration, erweise sich der Eingriff in das Familienleben des Revisionswerbers als gerechtfertigt.

8        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich zur Zulässigkeit und in der Sache gegen die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK richtet und vorbringt, das BVwG habe den zahlreichen Umständen, die für ein schützenswertes Privat- und Familienleben des Revisionswerbers sprechen würden, ohne nachvollziehbare Begründung erheblich weniger Gewicht beigemessen als seiner einmaligen Verurteilung. Zudem stütze sich das angefochtene Erkenntnis betreffend die Situation in der Russischen Föderation auf unzureichende Feststellungen und veraltete Länderberichte.

9        Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11       Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

12       Zu I.

13       Sofern die Revision ins Treffen führt, das BVwG habe seine Begründungspflicht verletzt, da die Feststellungen betreffend die Situation in der Russischen Föderation unzureichend und das herangezogene Berichtsmaterial veraltet sei, legt sie weder dar, welche Feststellungen das Erkenntnis vermissen lässt, noch welche aktuelleren Länderberichte vom BVwG konkret heranzuziehen gewesen wären und inwiefern deren Berücksichtigung zu einem anderen - für den Revisionswerber günstigeren - Verfahrensergebnis hätte führen können (vgl. zur erforderlichen Relevanzdarlegung bezüglich Verfahrensmängel etwa VwGH 27.1.2021, Ra 2020/18/0428, mwN).

14       Die Revision war daher hinsichtlich des Abspruchs des BVwG über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, den Entzug der Aufenthaltsberechtigung und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG zurückzuweisen.

15       Zu II.

16       Zulässig und begründet erweist sich die Revision in Bezug auf die Bekämpfung der Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses.

17       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG.

18       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. zum Ganzen VwGH 11.9.2020, Ra 2020/18/0306, mwN).

19       Es ist weiters ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 6.4.2020, Ra 2020/20/0055, mwN).

20       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt allerdings auch ein mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend zu einem Überwiegen des persönlichen Interesses, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

21       In diesem Sinne begründete das BVwG das Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung insbesondere mit dem strafrechtlichen Fehlverhalten des Revisionswerbers.

22       Allerdings zeigt die Revision zu Recht auf, dass das BVwG die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers im Bundesgebiet von über zwölf Jahren, in denen sich der Revisionswerber ein schützenswertes Familienleben aufgebaut hat, sowie die Frage des Kindeswohls der vier Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren in seiner Gesamtabwägung unzureichend beachtet hat.

23       Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0456, mwN).

24       In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof schon ausgesprochen, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind, wie den jüngeren Kindern des Revisionswerbers, kaum möglich ist und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (vgl. VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN). Der bloße Verweis auf die Möglichkeit, den Kontakt telefonisch, über das Internet oder Besuche in Drittstaaten aufrechtzuerhalten, ist fallbezogen demnach nicht geeignet, um ausreichend zu begründen, dass sich die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl nicht als derart schwerwiegend darstellen, als dass sie eine Rückkehrentscheidung unzulässig erscheinen ließen.

25       Die Annahme des BVwG, wonach den Kindern zugemutet werden könne, den Revisionswerber in den Herkunftsstaat zu begleiten, weil ihnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht aufgrund einer individuellen Gefährdungslage, sondern nach den Bestimmungen des Familienverfahrens zuerkannt worden sei vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil die Kinder alle in Österreich geboren wurden, sodass unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls dazu die Auswirkungen einer Übersiedelung in die Russische Föderation für die vier Kinder zu prüfen gewesen wären.

26       Im Ergebnis hat das BVwG seine Entscheidung mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG nach näherer fallbezogener Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl und der langen rechtmäßigen Aufenthaltsdauer zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass das persönliche Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts überwiegt.

27       Eine den hg. Anforderungen entsprechende Auseinandersetzung wird hierbei der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedürfen, da gegenständlich kein solch eindeutiger Fall vorliegt, der ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen würde (zur erforderlichen Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2019/18/0270, mwN).

28       Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die gegen den Revisionswerber erlassene Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

29       Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

30       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. April 2021

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180288.L00

Im RIS seit

17.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.05.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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