TE Vwgh Beschluss 2021/4/22 Ra 2021/19/0088

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Veröffentlicht am 22.04.2021
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AVG §37
AVG §45 Abs3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des H R in S, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2021, W261 2177010-1/38E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, Afghanistan verlassen zu haben, weil sich in seinem Herkunftsort die Taliban und die al-Kaida aufhalten würden.

2        Mit Bescheid vom 12. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies mit dem angefochtenen Erkenntnis die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        In der Begründung führt das BVwG aus, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen habe oder nach einer allfälligen Rückkehr in diesen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Das BVwG stützte sich dabei auf die widersprüchlichen und unschlüssigen Angaben zum Fluchtvorbringen, das sich als nicht nachvollziehbar und unplausibel erwiesen hätte. Zwar sei dem Revisionswerber eine Rückkehr in seine volatile Herkunftsprovinz nicht möglich, allerdings stehe dem jungen und arbeitsfähigen Mann, der über eine dreijährige Schulbildung in einer Koranschule, einen nachgeholten Pflichtschulabschluss und Arbeitserfahrung als Kochlehrling verfüge, eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif offen, zumal er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, eine Landessprache seines Herkunftsstaates beherrsche und zumindest vorübergehend finanzielle Unterstützung von seiner Familie erhalten könne. Da ihm städtische Strukturen bereits aus Kabul bekannt seien, könne er sich in Mazar-e Sharif auch ohne dortige familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte zurechtfinden. Der Revisionswerber könne zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und sich jedenfalls durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten eine Existenzgrundlage sichern.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

6        Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zunächst vor, dem Revisionswerber sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht zumutbar.

7        Mit der Behauptung, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit den Länderinformationen von EASO und ACCORD auseinandergesetzt und sei deswegen zu Unrecht zu dem Schluss gekommen, dass dem Revisionswerber im Fall einer Rückkehr die „Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse“ möglich wäre, gelingt es der Revision jedoch nicht, eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, sowie aus jüngerer Zeit VwGH 10.2.2021, Ra 2020/19/0446, mwN).

9        Die Asylbehörden haben bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das BVwG hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 9.2.2021, Ra 2021/19/0021, mwN).

10       Das BVwG traf Feststellungen zu Sicherheitslage, Grundversorgung, Arbeitsmarkt, Wohnraum und zur Situation von Rückkehrern sowie ihrer Unterstützung durch internationale Organisationen in Mazar-e Sharif. Dabei stützte es sich unter anderem auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie auf Auszüge aus verschiedenen Berichten zu Afghanistan von ACCORD und dem EASO.

Indem die Revision Ausschnitte der EASO Country Guidance von Dezember 2020, dem EASO-Bericht „Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City“ von August 2020 und der ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 30. April 2020 zitiert, zeigt sie nicht konkret auf, inwieweit sich die von ihr zitierten Ausschnitte maßgeblich von den Feststellungen des BVwG unterscheiden würden.

11       Das BVwG prüfte konkret auf die persönlichen Umstände des Revisionswerbers bezogen die Sicherheitslage, die Erreichbarkeit, den Zugang zu Unterkunft und die Möglichkeit des Revisionswerbers, in Mazar-e Sharif wirtschaftlich zu überleben. Das BVwG ging davon aus, der junge, gesunde und arbeitsfähige Revisionswerber, der Dari spreche, den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht habe, mit den dortigen sozialen Normen und Gepflogenheiten vertraut sei, Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne und keinem Personenkreis angehöre, der besonders schutzbedürftig sei, könne sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in Mazar-e Sharif niederlassen und sich dort auch ohne soziales Netzwerk eine Existenz ohne unbillige Härten aufbauen.

Die Revision vermag nicht darzutun, dass diese Beurteilung fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmenden Mangelhaftigkeit belastet wäre, zumal nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 13.1.2021, Ra 2020/19/0200, mwN).

12       Vor diesem Hintergrund zeigt die Revision auch mit ihrem Vorbringen zu der durch die Covid-19-Pandemie bewirkten schwierigeren wirtschaftlichen Lage nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, wonach dem jungen und arbeitsfähigen Revisionswerber die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif (das auch nach dem Vorbringen der Revision nicht von einer Ausgangssperre betroffen ist) zumutbar sei, unvertretbar wäre (vgl. etwa VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0196, zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans auch ohne soziale und familiäre Kontakte siehe zudem VwGH 25.6.2020, Ra 2020/19/0182; 6.10.2020, Ra 2019/19/0332; jeweils mwN).

13       Soweit der Revisionswerber vorbringt, das BVwG habe sein Recht auf Parteiengehör verletzt, indem es ihn in der mündlichen Verhandlung nicht darauf aufmerksam gemacht habe, dass die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Betracht gezogen werde, ist ihm zu entgegnen, dass es sich bei den Erwägungen des BVwG, wonach dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe, um eine rechtliche Beurteilung handelt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das BVwG nicht gehalten, die Partei zu der von ihr vertretenen Rechtsansicht anzuhören, ihr also mitzuteilen, welche Vorgangsweise sie in rechtlicher Hinsicht auf Grund des als maßgeblich festgestellten Sachverhaltes ins Auge fasst (vgl. dazu bereits VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0636).

14       Wenn sich die Revision schließlich gegen die vom BVwG im Rahmen der Rückkehrentscheidung gemäß Art. 8 EMRK vorgenommene Interessenabwägung wendet, ist darauf zu verweisen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. VwGH 23.2.2021, Ra 2020/19/0406, mwN).

Die Revision vermag mit ihrem allgemeinen Vorbringen sowie dem Verweis auf die „besondere Schutzwürdigkeit des Privatlebens“ und auf die fünfjährige Aufenthaltsdauer nicht aufzuzeigen, dass die vorliegende Interessenabwägung unvertretbar wäre, zumal sich das BVwG mit den entscheidungswesentlichen, insbesondere auch den zu Gunsten des Revisionswerbers sprechenden Umständen auseinandergesetzt hat.

15       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 22. April 2021

Schlagworte

Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Rechtliche Beurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190088.L00

Im RIS seit

20.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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