TE OGH 2021/3/23 6Rs6/21f

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Veröffentlicht am 23.03.2021
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Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen hat durch den Senatspräsidenten Dr.Bott als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Dr.Kraschowetz-Kandolf und Maga.Fabsits (Senat gemäß § 11a Abs 2 Z 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *****, vertreten durch Maga.Athanasia Toursougas-Reif, Rechtsanwältin in Pöls-Oberkurzheim, gegen die beklagte Partei *****, im Berufungsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, aus Anlass der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 3.Dezember 2020, GZ 22 Cgs 83/19i-30, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Das angefochtene Urteil wird als nichtig aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung in einem Senat gemäß § 11 Abs 1 ASGG aufgetragen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

begründung:

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.April 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 21.Jänner 2019 auf Gewährung der Invaliditätspension ab und sprach aus, dass weder ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, noch auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 21.Jänner 2019 gerichteten Begehren. Begründend bringt die Klägerin zusammengefasst vor, dass sie infolge ihrer erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage sei, eine Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt auszuüben.

Die Beklagte beantragt Klagsabweisung und wendet ein, dass die Klägerin, die im Beobachtungszeitraum gemäß § 255 Abs 3 ASVG nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig gewesen sei, nicht invalid im Sinne des Gesetzes sei. Sie habe zum Stichtag zwar das 50.Lebensjahr vollendet, jedoch lägen die sonstigen in § 255 Abs 3a ASVG geforderten Anspruchsvoraussetzungen nicht vor.

Das Erstgericht holte Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen der Inneren Medizin, der Neurologie und Psychiatrie und der Orthopädie ein, die über Antrag der Klägerin auch schriftlich ergänzt wurden.

Nach Einlangen des berufskundlichen Sachverständigengutachtens beraumte das Erstgericht eine Tagsatzung für den 3.Dezember 2020 an, zu der es auch zwei Laienrichter lud.

Das Protokoll vom 3.Dezember 2020 (Seite 1 der ON 28) lautet im hier relevanten Bereich wie folgt:

Festgehalten wird, dass die heutige Verhandlung ohne Laienrichter geführt wird, dies, um der Ausbreitung des COVID-19 entgegenzuwirken, damit nicht zu viele Leute im Verhandlungssaal anwesend sind.

Die Parteienvertreter erklären ihr ausdrückliches Einverständnis, dass die Verhandlung heute nur von der Vorsitzenden Maga.Petra Mader geführt wird.“

Die Erstrichterin („Vorsitzende“) schloss nach weiteren Gutachtenserörterungen durch die bestellten Sachverständigen die Verhandlung und gab bekannt, dass die Entscheidung schriftlich ergeht.

Mit dem angefochtenen Urteil wies die Berufsrichterin das Klagebegehren ohne die Beiziehung von fachkundigen Laienrichtern ab.

Die Klägerin sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Zustellerin und Schulbuslenkerin tätig gewesen. Aufgrund ihres detailliert festgestellten Leistungskalküls sei sie zwar nicht mehr in der Lage, den Beruf einer Zustellerin auszuüben, sie sei jedoch weiterhin im Stande, allen Anforderungen, die an eine Schulbusfahrerin gestellt würden, gerecht zu werden. Sie sei daher nicht im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG invalid.

Da sie noch leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten könne und in der Lage sei, den Anforderungen, die an eine Portierin oder Aufseherin gestellt würden, zu entsprechen, seien auch die Voraussetzungen nach § 255 Abs 3a ASVG nicht erfüllt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahingehend abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, ohne eine Berufungsbeantwortung zu erstatten, der Berufung nicht Folge zu geben.

Aus Anlass der Berufung der Klägerin war aus nachstehenden Erwägungen von Amts wegen die Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung wahrzunehmen:

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 11 Abs 1 ASGG haben sich die Senate der Landesgerichte aus einem Richter und zwei fachkundigen Laienrichtern zusammenzusetzen. § 11 ASGG enthält allgemeine Bestimmungen über die Zusammensetzung der Senate. Die Zugehörigkeit von (Berufs-)Richtern zu einem bestimmten Senat wird durch die Geschäftsverteilung festgelegt, die Zugehörigkeit der fachkundigen Laienrichter im Wesentlichen durch die Ladung (Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 11 ASGG Rz 1).

Nach § 11b Abs 1 ASGG kann der Vorsitzende, wenn auch nur einer der geladenen fachkundigen Laienrichter zu einer Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung nicht erschienen ist und innerhalb kurzer Zeit auch kein anderer zur Stelle ist, diese Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung allein durchführen, wenn beide Parteien dem ausdrücklich zustimmen. In diesem Fall hat der Vorsitzende – vorbehaltlich des Abs 2 leg.cit – alle Befugnisse des Senats.

Nach Abs 2 dieser Bestimmung kann der Vorsitzende auch die Verhandlung für geschlossen erklären; er darf jedoch kein Urteil und keinen Endbeschluss fällen; seine Beweisaufnahmen sind solchen eines beauftragten Richters gleichzuhalten.

Diese der Vermeidung von Verfahrensverzögerungen dienenden, sachlich nicht unproblematischen Bestimmungen ermöglichen es, dass unter den angeführten Voraussetzungen, insbesondere nach Zustimmung der qualifiziert vertretenen oder qualifiziert belehrten Partei bei einzelnen Tagsatzungen ausnahmsweise ohne (an sich ordnungsgemäß geladene) fachkundige Laienrichter verhandelt wird. Die Zustimmung bezieht sich immer nur auf die jeweilige einzelne Tagsatzung. Zur Fällung der Entscheidung in der Sache durch Urteil oder Endbeschluss sind aber jedenfalls zwei fachkundige Laienrichter beizuziehen. In diesem Fall ist eine nichtöffentliche Sitzung anzusetzen, in der vom Berufsrichter insbesondere auch das Ergebnis von Beweisaufnahmen darzulegen ist.

Grundsätzlich kann zwar ein – erkennbarer – Verstoß gegen § 11b ASGG unter den Bedingungen des § 37 Abs 1 ASGG heilen; dies gilt aber nicht für die Entscheidung in der Sache ohne fachkundige Laienrichter (Neumayr aaO § 11b ASGG Rz 1 f mwN). Eine unrichtige Gerichtsbesetzung liegt im Falle des Verstoßes gegen § 11 ASGG immer dann vor, wenn die Senatsbesetzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Regelung nicht entspricht (vgl RIS-Justiz RS0085500).

Nach dem Ausgeführten ergibt sich, dass die „Vorsitzende“ – trotz der Zustimmung der qualifiziert vertretenen Parteien, die Verhandlung vom 3.Dezember 2020 (ON 28) alleine durchzuführen – jedenfalls nicht befugt war, die Entscheidung ohne Beiziehung von Laienrichtern zu fällen.

Das Charakteristikum der Nichtigkeitsgründe des § 477 ZPO ist, dass sie regelmäßig von Amts wegen, also auch ohne entsprechende Rüge in einem Rechtsmittel aufzugreifen sind (3 Ob 264/02y; RIS-Justiz RS0041901, RS0041940).

Die unterlassene Beiziehung von Laienrichtern im Rahmen der Urteilsfällung begründet einen – von Amts wegen aufzugreifenden – Nichtigkeitsgrund nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO (RIS-Justiz RS0036611, RS0085500); dieser ist einer Heilung nicht zugänglich. Dadurch, dass die mangelhafte Besetzung des Erstgerichts in der Berufung nicht gerügt wurde, ist demgemäß eine Heilung nach § 37 Abs 1 ASGG nicht eingetreten (vgl 10 ObS 7/18d, 10 ObS 69/11m; RIS-Justiz RS0042176, RS0040259, RS0113739).

Aus Anlass der Berufung der Klägerin ist daher der vorliegende Nichtigkeitsgrund von Amts wegen wahrzunehmen, das angefochtene Urteil als nichtig aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung unter Beiziehung von zwei fachkundigen Laienrichtern aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Oberlandesgericht Graz, Abteilung 6

Textnummer

EG00191

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0639:2021:0060RS00006.21F.0323.000

Im RIS seit

19.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.05.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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