TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/25 W140 2139008-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.09.2020
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Entscheidungsdatum

25.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W140 2139008-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlicher Verhandlung am 16.06.2017, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 11.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am gleichen Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Am 07.09.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seiner Asylantragsstellung niederschriftlich einvernommen. Mit Bescheid vom 02.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als unbegründet ab und erkannte den BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II.). Unter einem erteilte das BFA dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 02.10.2017 (Spruchpunkt III.). Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.06.2017 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher für die Sprache Dari, und der Vertreter des BF teilnahmen. Das BFA blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

Die Verhandlung gestaltete sich u. a. wie folgt:

„R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

BF: Afghanistan.

R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?

BF: Aus Ghazni.

R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.

BF: Mein Name ist XXXX . Ich bin im Jahr XXXX in der Provinz Ghazni, im Disktrikt XXXX , geboren.

R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Hazara.

R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin schiitischer Moslem.

R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Ich bin ledig.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Nein.

R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen? Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?

BF: Ich war fünf Jahre alt, als ich gemeinsam mit meinem Bruder Afghanistan verlassen habe und in den Iran geflüchtet bin. Bis ich selbst im Iran gearbeitet habe, hat mein Bruder für mich gesorgt. Ich habe keine weiteren Familienmitglieder. Sie sind alle verstorben.

R: Ihr Bruder ist noch im Iran?

BF: Als ich noch im Iran gelebt habe, hatte mein Bruder Drogenprobleme. Aufgrund seiner Sucht hat er seine Arbeit verloren. Der Kontakt zu ihm wurde immer weniger, bis er eines Tages verschwunden ist. Ich weiß nicht, wo sich mein Bruder derzeit aufhält.

R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Wovon lebt ihre Familie?

Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: Nein. Wenn ich dort Familie gehabt hätte, hätte ich versucht den Kontakt zu dieser herzustellen.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?

BF: Nein.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

Ermittlungsermächtigung:

R: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja, ich bin einverstanden.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat/ Iran verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat/ Iran zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: Zum Zeitpunkt als ich Afghanistan verlassen habe, war ich ein Kleinkind. Mein Bruder und ich sind vor dem Krieg in Afghanistan geflüchtet. Ich konnte nicht mehr weiterhin im Iran bleiben, weil afghanische Flüchtlinge dort nicht das Recht haben in die Schule zu gehen, einen Beruf auszuüben oder legal einer Arbeit nachzugehen. Afghani müssen in Fabriken arbeiten und sie werden ausgebeutet und für sehr schwere Arbeit sehr gering bezahlt. Ich bin nach Österreich gekommen, weil hier gleiches Recht für alle herrscht. Ich kann nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil ich dort keine Angehörigen habe und ich nicht in der Lage bin dort alleine zu leben. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich nicht besonders strenggläubig bin. Ich trinke Alkohol, ich esse Schweinefleisch und meinen Arbeitsort teile ich auch mit Frauen. Aufgrund dieser Tatsache könnte ich in Afghanistan große Schwierigkeiten bekommen.

R: Wie sind Ihre Eltern verstorben?

BF: Mein Bruder hat mir erzählt, dass unsere Eltern getötet wurden. Er hat mir aber nichts Näheres dazu gesagt.

BFV: Zur Fluchtgeschichte kann ich auch nicht mehr angeben als der BF und werde vermutlich auch keine näheren Angaben machen können. Zur jetzigen Situation des BF. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, möchte ich angeben, dass der BF seit Jahren nicht in Afghanistan war und im Iran sozialisiert wurde. Wie schon bisher vorgebracht, hat er dort die strengen afghanischen Sitten und moralischen Vorstellungen nicht kennengelernt. In Österreich hat er erstmalig die Möglichkeit gehabt, Zugang zu Bildung und Ausbildung zu erlangen und lebt hier ein selbstbestimmtes Leben, abseits von traditionellen archaichischen Wertvorstellungen der afghanischen Gesellschaft. Dies zeigt sich, inbesondere durch sein alltägliches Verhalten, das an das österreichischer bzw. europäischer Wertvorstellungen angepasst ist, wie Missachtung der strengen islamischen Regeln, z.B. Fasten im Ramadan, Konsum von Alkohol und Schweinefleisch, legerer Umgang mit Angehörigen des anderen Geschlechts und moderne westliche Kleidung und Frisur. Dieses Auftreten und die Wertvorstellungen des BF würden ihm im Falle einer Rückkehr, als negative Einstellung zu den dort herrschenden Regeln vorgeworfen werden und gehe daher davon aus, dass man von einer oppositionellen politischen Gesinnung sprechen kann. Im Übrigen verweise ich auf das bisherige Vorbringen, insbesondere der Beschwerde und die dort genannte Judikatur zu Afghanistan und der Abweichung von den dortigen Moralvorstellungen. (…)

R gibt BFV die Möglichkeit, zu den bisherigen Angaben der Parteien eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.

BFV: Ich verweise nochmals auf die Beschwerde.

BF: Nein, es ist nichts mehr vorzubringen.“

Mit Beschluss vom 29.09.2017 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.

Am 24.04.2019 wurde dem BF die Möglichkeit gegeben mittels Parteiengehör neue Unterlagen binnen einer Frist von zwei Wochen vorzulegen.

Mit Eingabe vom 13.05.2019 legte der BF Unterlagen vor.

Mit Eingabe vom 25.08.2020 erstattete die Sachverständige nachstehendes Gutachten:

„1. Einleitung:

Der Rechercheauftrag bezieht sich auf die Angaben des Herrn XXXX , die er in seinem Asylverfahren getätigt hat. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem beauftragenden Bundesverwaltungsgericht werden die im Rahmen des Asylverfahrens getätigten Angaben des Herrn XXXX , zusammengefasst. Im Anschluss wird das Ergebnis der Recherche erläutert. Abschließend werden die gestellten Fragen des Gerichts beantwortet.

2. Der Recherche-Auftrag

Die in der Niederschrift vom 16.06.2017 gemachten Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen sind zu überprüfen.

3. Angaben des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer, XXXX gab in seinem Asylverfahren an, afghanischer Staatsangehöriger, sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der Glaubensgemeinschaft der Shiiten zu sein. Überdies führte Herr XXXX aus, in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX geboren zu sein. Der Beschwerdeführer gab außerdem an, im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit seinem Bruder in den Iran geflüchtet zu sein. Im Iran habe ihn zunächst sein Bruder versorgt, bis er später selber zu arbeiten begonnen habe und den Lebensunterhalt für sich bestritten habe. Weitere Familienangehörige habe er keine. Auch zu seinem Bruder habe Herr XXXX keinen Kontakt, zumal dieser aufgrund seiner Suchtmittelprobleme im Iran seine Arbeit verloren habe und später verschwunden sei.

Als Fluchtgrund aus Afghanistan gab Herr XXXX in seinem Asylverfahren vor dem BVwG an, dass er zum Zeitpunkt der Flucht aus Afghanistan ein Kleinkind gewesen sei und sein Heimatland gemeinsam mit seinem Bruder wegen des in Afghanistan herrschenden Krieges verlassen habe. Herr XXXX und sein Bruder seien sodann in den Iran geflüchtet und haben dort gelebt. Allerdings gab Herr XXXX in seiner mündlichen Verhandlung vor dem BVwG an, dass er nicht mehr im Iran habe bleiben können, da afghanische Flüchtlinge im Iran nicht das Recht hätten, eine Schule zu besuchen und legal einer Arbeit nachzugehen. Herr XXXX sei wegen der in Österreich herrschenden Gleichberechtigung für alle, nach Österreich gekommen.

Herr XXXX gab weiters an, dass er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, da er dort keine Angehörige habe und nicht in Lage sei, dort zu leben. Überdies sei er nicht mehr strenggläubig. Er esse Schweinefleisch, trinke Alkohol und teile seinen Arbeitsplatz mit Frauen. Aus diesen Gründen befürchte er, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, Schwierigkeiten zu bekommen.

4. Ergebnis der Recherche

Zur Durchführung der Recherchen in Afghanistan, kontaktierte ich meine in Afghanistan lebenden Kontaktpersonen und bat diese, Informationen zu den Angaben des Herrn XXXX in Afghanistan, insbesondere in der Heimatregion des Beschwerdeführers einzuholen. Auch bat ich meine Kontaktpersonen bezüglich der Rückkehrbefürchtung des Herrn XXXX im Zusammenhang mit seinen Angaben, nicht sehr strenggläubig zu sein, Alkohol zu trinken, Schweinefleisch zu essen und den Arbeitsplatz mit Frauen zu teilen und aus diesen Gründen Schwierigkeiten in Afghanistan zu erwarten, zu recherchieren.

Die Recherchen wurden im Zeitraum von mehreren Monaten in der Provinz Ghazni im Distrikt XXXX sowohl im Distriktzentrum, als ich in einigen Dörfern wie auch in den Großstädten durchgeführt.

Befragt wurden mehrere Personen im Distriktzentrum XXXX , sowie Passanten in den Dörfern, aber auch einige Verkäufer auf einem Gemüse- und Obstmarkt zum vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgrund, nämlich zum Krieg im Heimatort des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt, als Herr XXXX gemeinsam mit seinem Bruder Afghanistan verlassen und in den Iran geflüchtet ist. Den eigenen Angaben nach sei der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Flucht in den Iran fünf Jahre alt gewesen. Demnach muss die Flucht des Herrn XXXX und dessen Bruder in den Iran etwa im Jahr 2001 erfolgt sein.

Die Bewohner des Distriktes XXXX teilten meinen Kontaktpersonen mit, dass in ganz Afghanistan, insbesondere in ihrer Region seit 2001 Krieg mit US-führender Intervention herrsche. Darum soll die Sicherheitslage in weiten Gebieten sehr präker gewesen sein, was einen Großteil der Bevölkerung dazu bewogen habe, ihre Heimatregionen zu verlassen und in den Nachbarländern Pakistan und Iran Schutz zu suchen. Laut den Einheimischen war das Ziel dieses Krieges, die regierungsfeindliche, radikalislamische Gruppierung der Taliban, welche Afghanistan jahrelang kontrolliert haben, zu stürzen. Befragt wurden weitere Personen, die selber der Volksgruppe der Hazara und Glaubensgemeinschaft der Shiiten angehören. Bei diesen Personen handelte es sich um Großhändler, Schuh- und Lebensmittelhändler und Schneider. Aus ihrer Sicht habe sich die Situation der Hazara seit dem Sturz der Taliban verbessert. Kinder sowie junge Männer und Frauen haben Zugang zu Bildung und schließen Studien an Universitäten ab. Sie haben auch Zugang zu Arbeit. Die befragten Personen sagten übereinstimmend, dass alle Volksgruppen von Armut, Benachteiligung und Diskriminierung betroffen seien. Sie hätten alle nur in den eigenen Regionen Chancen, aufzusteigen. Auch die Korruption spiele in Afghanistan eine große Rolle, die dazu führt, dass wohlhabende Menschen immer reicher werden würden und die arme Bevölkerungsschicht weiterhin in Armut leben würde. Die politische Lage wird von den Einheimischen als instabil eingestuft und sie äußerten sich besorgt über die Zukunft der jungen Generation in Afghanistan.

Zu den Angaben des Herrn XXXX bezüglich seines Alkoholkonsums, des Verzehrens von Schweinefleisch und Kontakt mit Frauen an seinem Arbeitsplatz, führten die befragten Personen folgendes aus:

In Afghanistan bildet die islamische Sharia die Grundlage für die dort herrschenden Gesetze. Die Bevölkerung sei zu 99% muslimisch und sei demnach verpflichtet, die Sharia einzuhalten. Gemäß der Sharia sei der Konsum von Alkohol und Schweinefleisch verboten. Ergänzend wurde ausgeführt, dass in den Großstädten sehr wohl Alkohol konsumiert werde, jedoch nicht öffentlich. Sie erzählten, dass es in gewissen Bezirken einige wenige Geschäftsläden und Restaurant gebe, in denen Alkohol verkauft und ausgeschenkt werde. Die Besitzer dieser Läden und Restaurant haben, laut Angaben der befragten Personen, enge Verbindungen zu den lokalen Polizeisprengeln. Die Polizei ermögliche diesen durch an sie getätigte Schmiergeldzahlungen, die illegalen Geschäfte fortzuführen. Ergänzend führten die Einheimischen aus, dass mittlerweile viele Menschen in Afghanistan die Grundsätze des Islam nicht mehr so streng einhalten. Die Menschen halten es jedoch geheim und sprechen nicht in der Öffentlichkeit darüber, weil ihnen bewusst ist, dass sie dadurch Schwierigkeiten bekommen können. Meine Kontaktpersonen konnten überdies in Erfahrung bringen, dass Menschen, die Alkohol oder Schweinefleisch konsumiert haben, es jedoch verheimlichen, nicht mit Problemen rechnen müssen. Es wird nicht immer und überall und von jedem Rückkehrer automatisch angekommen, dass dieser während seines Aufenthaltes im Ausland die Grundsätze des Islam verletzt haben muss. Demnach seien Rückkehrer nicht von solchen Unterstellungen betroffen.“

Mit Parteiengehör vom 02.09.2020 wurde dem BF und der belangten Behörde das Gutachten mit der Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.

Seitens des BFA wurde hierzu am 04.09.2020 nachstehende Stellungnahme abgegeben:

„Zu gegenständlicher Beschwerde wird seitens des zuständigen Sachbearbeiters Folgendes festgehalten: Das Ergebnis der beauftragten Recherche in Afghanistan, nach welchem der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr aufgrund seiner derzeitigen Lebensweise mit keinerlei ernsthaften Problemen zu rechnen hätte, erscheinen dem Bundesamt nachvollziehbar und schlüssig und stehen mit den bekannten Informationen im Einklang. Nach Ansicht des Bundesamtes handelt es sich dabei lediglich um allgemeine Behauptungen, um die Wahrscheinlichkeit einer Schutzgewährung zu erhöhen und dadurch ein Aufenthaltsrecht zu erzwingen. Dem Bundesamt gelangten, nach der Erlassung des angefochtenen Bescheides, keine weiteren entscheidungsrelevanten Umstände zur Kenntnis, deshalb hält das Bundesamt seine getroffene Entscheidung weiterhin aufrecht. Seitens des BFA wird daher aufgrund der gegebenen Aktenlage die Abweisung gegenständlicher Beschwerde beantragt und um Übersendung eines allfällig aufgenommenen Verhandlungsprotokolls ersucht.“


Mit Schreiben vom 04.09.2020 übermittelte der BF durch seine Vertretung eine Stellungnahme zum Sachverständigengutachten. Auszugsweise wurde Nachstehendes vorgebracht:

„ (…) Zusammenfassend stellt sich die Situation für den gegenständlichen Fall so dar, dass der BF zu gerade dieser als vulnerabel geltenden Personengruppe der Iran-Rückkehrer gehört:

Er ist im Alter von ca. 5 in den Iran ausgewandert und dort aufgewachsen, sodass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan schon durch seine sprachliche Färbung auffällt. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist durch seinen langen Aufenthalt in Österreich eindeutig als verwestlicht anzusehen. In einer Gesamtschau tritt dies zu seinen persönlichen Voraussetzungen hinzu und mindert angesichts der immer noch bestehenden Diskriminierungen gegenüber Hazara zusätzlich seine Chancen, etwa am Arbeits- oder Wohnungsmarkt. Zudem werden Rückkehrer aus Europa häufig misstrauisch wahrgenommen.

Der BF verfügt in Afghanistan über kein soziales Netzwerk und ist aufgrund der derzeitig herrschenden Pandemie damit zu rechnen, dass der BF in Afghanistan nicht Fuß fassen könnte. Der BF würde somit im Falle einer Rückkehr ins Heimatland in eine ausweglose Situation kommen und wäre es für islamistische Extremisten wie zB den Taliban ein Leichtes den BF ausfindig zu machen. Aufgrund seines langen Aufenthalts in Österreich, würde dem BF von Extremisten vorgeworfen werden, verwestlicht zu sein und würde ihn dies asylrelevanter Verfolgung aussetzen. Der afghanische Staat ist nicht in der Lage, den BF von seinen Verfolgern zu schützen und sollte dem BF daher der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden.“

Mit Bescheid des BFA vom 27.09.2017 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung - als subsidiär Schutzberechtigter - bis zum 02.10.2019 verlängert.

Mit Bescheid des BFA vom 03.10.2019 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung - als subsidiär Schutzberechtigter - bis zum 02.10.2021 verlängert.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF, ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Er stammt aus der Provinz Ghazni, Distrikt XXXX . Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Im Alter von 5 Jahren verließ der BF mit seinem Bruder Afghanistan und flüchtete in den Iran, wo er sich bis zu seiner Ausreise nach Europa aufhielt. Der BF hat keine Schul- oder Berufsausbildung absolviert. Der BF arbeitete im Iran in einer Fabrik. Der BF hat keine Familienangehörigen in Afghanistan. Im Iran befand sich der Bruder des BF, zu dem er keinen Kontakt mehr hat. Der BF ist gesund und leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Der BF ist unbescholten.

Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde zuletzt am 03.10.2019 erteilt und ist bis zum 02.10.2021 gültig.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden. Weiters kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell physische oder psychische Gewalt in Afghanistan droht. Ebenso wenig konnte festgestellt werden, dass Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind.

Festgestellt wird, dass der BF weiterhin der islamischen Glaubensgemeinschaft angehört. Dem BF droht aufgrund seines in Österreich/Europa ausgeübten "westlichen" Lebensstils in Afghanistan keine Verfolgung von asylrelevanter Intensität. Es wird nicht von jedem Rückkehrer automatisch angenommen, dass dieser während seines Aufenthaltes im Ausland die Grundsätze des Islam verletzt hat. Rückkehrer sind nicht automatisch von solchen Unterstellungen betroffen. Weiters wird festgestellt, dass der BF aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus dem Iran keiner Verfolgung von asylrelevantem Ausmaß ausgesetzt ist.


1.3. Zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Laut Angaben der WHO COVID-19 Homepage gab es in Afghanistan (mit Stichtag 24.09.2020) 39.170 bestätigte Fälle sowie 1451 Todesfälle (https://covid19.who.int/region/emro/country/af), abgerufen am 24.09.2020).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung. Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren. Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 16.4).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (LIB, Kapitel 16.5).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (LIB, Kapitel 16.5).

Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (LIB, Kapitel 16.5).


Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Christen - Konvertiten:

Ausländische Christen und die wenigen Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (LIB, Kapitel 15.2).

Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum der Abtrünnigen konfiszieren und deren Erbrecht einschränken. Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden. Missionierungen sind illegal. Die öffentliche Meinung stehe Christen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (LIB, Kapitel 15.2).

Apostaten (Abfall vom Islam):

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).

Rekrutierung durch die Taliban:

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuw

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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