TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/19 W186 2132203-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.01.2021
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Entscheidungsdatum

19.01.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W186 2132203-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Judith PUTZER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.07.2016, Zl. 1068526910-150508244, nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 28.08.2020 zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 14.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am folgenden Tag wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt:

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, sein Vater habe die Religion gewechselt und sei Christ geworden, weshalb er von den anderen Dorfbewohnern umgebracht worden sei. Deswegen habe er Afghanistan verlassen.

Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) vom 22.09.2015 wurde als spätestmögliches Geburtsdatum des BF der XXXX festgestellt.

Am 20.07.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen, wobei er im Wesentlichen seine Fluchtgründe bestätigte:

Nach Kunduz sei eine Organisation gekommen und habe versucht, die Leute zum christlichen Glauben zu überzeugen. Der Vater des BF habe die Religion gewechselt. Die Taliban und die anderen Dorfbewohner hätten dies erfahren und den BF sowie seine Familie töten wollen. Sie hätten der gesamten Familie vorgeworfen, die Religion gewechselt zu haben. Zuerst sei der Vater des BF ermordet worden. Der Onkel des BF habe sofort reagiert und den BF sowie seine Familie in den Iran gebracht.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 22.07.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 14.05.2015 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 wurde dem BF nicht erteilt, gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des BF wurde gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe aufgrund seiner vagen, detailarmen, widersprüchlichen und nicht schlüssigen Angaben keine drohende asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schriftsatz vom 08.08.2016 fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde, in welcher im Wesentlichen die inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden.

Am 11.08.2016 wurde die Beschwerde inklusive der mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsakte dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

4. Am 28.08.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie eines Sachverständigen statt, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Afghanistan bzw. Österreich befragt wurde. Das Bundesamt nahm durch einen Vertreter an der Verhandlung teil.

Im Zuge dieser Beschwerdeverhandlung wurde seitens des Sachverständigen ein Kurzgutachten zur Beurteilung des Fluchtvorbringens des BF, einer möglichen Gruppenverfolgung der Hazara sowie der Sicherheits- bzw. Versorgungslage in afghanischen Großstädten erstellt.

Die Verhandlung verlief im Wesentlichen wie folgt:

Gefragt gab der BF an, er stamme aus der Provinz Kunduz, dem Distrikt Imam Saheb und aus dem Dorf Shor Kol. Er sei Hazara und gehöre der Glaubensrichtung der Schiiten an. Er habe vier Jahre lang eine Schule besucht, es habe sich dabei um eine staatliche „Mittelschule“ gehandelt. Er könne lesen und schreiben.

Im 11. Lebensjahr des BF hätte der „Vorfall mit seinem Vater“ stattgefunden. Die Familie habe daraufhin Afghanistan verlassen und sei in den Iran gegangen. Der Vater sei ums Leben gekommen, als er etwa 39 Jahre alt gewesen sei.

Auf die Frage nach dem Beruf des Vaters gab der BF an: Der Vater sei Landwirt gewesen; er habe eigene Grundstücke gehabt.

In Afghanistan lebten noch ein Onkel mütterlicherseits mit seiner Familie; der BF habe seit längerem mehr keinen Kontakt mehr zu ihnen. Zu seiner Mutter und seinen Geschwistern habe der BF keinen Kontakt mehr; sie hätten „zuletzt“ im Iran gelebt.

Auf weitere Frage, was mit seinem Vater geschehen sei, brachte der BF vor:

„BF: Sie haben meinen Vater getötet, da er seine Religion gewechselt hat.

RI: Können Sie das genauer erzählen?

BF: Unser Distrikt war nicht sehr weit entfernt von Tadschikistan. Damals gab es eine Organisation, die Leuten versprochen hat, dass sie nach Kanada ziehen können, im Falle eines Religionswechsels. Mein Vater hat dies auch unterschrieben und ist Christ geworden und die Dorfleute haben ihn getötet.

RI: Wie hat diese Organisation geheißen?

BF: Ich war damals klein, ich weiß es nicht, aber mein Vater hatte diesbezüglich Informationen.

RI: Hat nur Ihr Vater bei dieser Organisation unterschrieben oder auch andere Leute?

BF: Nur mein Vater.

RI: Was wissen Sie über diese Organisation?

BF: Ich war klein als sie meinen Vater getötet haben…“

Und weiter:

„RI: Was wissen Sie über diese Organisation? Sie haben vorhin Tadschikistan erwähnt, was hat Tadschikistan damit zu tun?

BF: Ich habe Sie nicht verstanden.

RI wiederholt die Frage.

BF: Über die Organisation weiß ich nichts, aber ich denke, dass der Hauptsitz dieser Organisation sich in Tadschikistan befindet und man dort den Antrag stellt und so nach Kanada reist.

SV: Wofür war diese Organisation zuständig?

BF: Ich weiß es nicht, aber es war für jene die ihre Religion wechselten. Sie wurden dorthin gebracht und von dort aus nach Kanada.

RI: War diese Organisation öfter in Ihrem Ort?

BF: Nein, etwa ein Jahr lang waren sie dort. Mein Vater erzählte dies, aber ich habe keine Informationen darüber.

SV: In welchem Jahr war die Organisation da?

BF: Genau habe ich es nicht mehr in Erinnerung.

RI: Wer war in Ihrer Region, damals als Ihr Vater umgekommen ist, an der Macht?

BF: Ich weiß es nicht, ich war damals klein.

RI: Wissen Sie wer Ihren Vater getötet hat?

BF: Ich weiß es nicht genau, aber es sind die Dorfleute gewesen denke ich, denn bei uns haben hauptsächlich Taliban gelebt. Tagsüber waren sie normale Zivilisten und nachts Taliban.

RI: Woher haben die Dorfleute gewusst, dass Ihr Vater die Religion gewechselt hat? Zu welcher Religion hat Ihr Vater gewechselt?

BF: Etwa drei Nachbarn haben das erfahren, als mein Vater getauft worden ist und man ein Foto von ihm machte. Er ist zum Christentum konvertiert.

RI: Was war mit dem Rest Ihrer Familie?

BF: Man hat sie auch getötet, es war eine sehr große Sache.

RI: Wer ist noch getötet worden?

BF: Meine Nachbarn, die wir kannten.

RI: Die Nachbarn sind auch getötet worden?

BF: Ja, unsere Nachbarn sind auch getötet worden, die uns sehr nahestanden.

RI: Es hat vorhin so geklungen, als hätten die Nachbarn erfahren, dass Ihr Vater zum Christentum konvertiert ist und diese die Urheber des Umstandes waren, dass Ihr Vater getötet worden ist.

BF: Nein, diese zwei Nachbarn sind gemeinsam mit meinem Vater fotografiert worden. Dieses Foto hat sich dann verbreitet und sie sind getötet worden.

RI: Sie haben vorhin gesagt, dass nur Ihr Vater konvertiert ist und Sie haben ausdrücklich gesagt, dass nur Ihr Vater konvertiert ist. Was sagen Sie dazu?

BF: Nein, aus der Familie war er der einzige.

RI: Ich habe Sie vorhin gefragt, ob Ihr Vater der einzige aus Ihrem Dorf war, der Konvertiert ist und Sie haben dies bejaht.

BF: Ich habe Sie nicht verstanden, ich dachte Sie meinen meine Familie.

RI: Ich fragte Sie vorhin folgendes: ‚Hat nur Ihr Vater bei dieser Organisation unterschrieben oder auch andere Leute?‘ und Sie antworteten mit: ‚Nur mein Vater.‘.

BF: Ich weiß es nicht mehr, ich bin sehr durcheinander und habe auch Kopfschmerzen.

RI: Die Leute dieser Organisation, so haben Sie gesagt, hätten ein Jahr lang im Dorf gearbeitet oder gewirkt, ist diesen Leuten etwas zugestoßen?

BF: Ich bin mir nicht sicher wie lange sie genau dort waren, aber meine Mutter sagte ein Jahr. Ich weiß auch nicht, ob ihnen etwas zugestoßen ist oder nicht.

RI: Bei der Einvernahme vor dem BFA am 20.07.2016 haben Sie ausgesagt, dass diese Organisation mehrere Jahre an diesem Ort war und heute sagen Sie, es sei ein Jahr gewesen. Wie kommt es zu diesem Unterschied?

BF: Meine Mutter erzählte mir dies, ich war klein und habe es nicht in Erinnerung.

RI: Waren Sie dabei, als Ihr Vater getauft worden ist?

BF: Nein, ich war nicht dabei.

RI: Wissen Sie wo Ihr Vater getauft worden ist?

BF: Ich war damals klein, ich weiß es nicht.

RI: Was hat es mit diesem Foto auf sich, von dem Sie erzählt haben?

BF: Dieses Foto hatte meine Mutter und sie erzählte mir davon.

RI: Was war denn auf diesem Foto zu sehen?

BF: Ich sah nur die vier/fünf Personen, die mit meinem Vater auf dem Foto zu sehen waren. Sie trugen weiße Gewänder. Ich sah nur das.

RI: Wer hat das Foto gemacht?

BF: Ich weiß es nicht, aber meine Mutter zeigte es mir.

RI: Wissen Sie wann Ihr Vater getötet worden ist?

BF: Es ist schon sehr lange her, sehr lange, etwa 15 Tage nachdem mein Vater getötet worden ist, haben wir Kunduz verlassen und sind in den Iran gereist.

RI: Sie haben vorhin ausgesagt, dass Sie ungefähr 11 Jahre alt gewesen sind und wenn ich von Ihrem Alter ausgehe ( XXXX geboren), dann wäre es ungefähr im Jahr 2009 gewesen. Kann das sein?

BF: Das Jahr habe ich komplett vergessen.

RI: War es im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter?

BF: Es war warm.

RI: Wo ist Ihr Vater getötet worden?

BF: In unserem Heimatdorf.

RI: Wie ist Ihr Vater genau getötet worden?

BF: Die Dorfleute, die Taliban waren, haben ihn getötet. Als ich seinen Leichnam zu Hause sah, hatte er sechs Messerstiche.“

Auf Nachfrage, welcher Ethnie die Leute angört hätten, die den Vater getötet hätten, gab der BF an: „BF: Sie waren Paschtunen, sie waren Taliban. …] Sie waren Taliban, sie waren nachtsüber Taliban und sie haben Hazaras immer unterdrückt. …] Sie sprachen Paschtu …] In unserem Dorf leben nicht nur Hazaras. Auf der anderen Seite leben auch Paschtunen, nur in unserem näheren Umkreis befanden sich Hazaras. …] Etwas weiter oben haben Usbeken gelebt. …] Dort lebten auch andere Volksgruppen beispielsweiße Paschai, Usbeken, Paschtunen und in Kunduz haben mehrheitlich Paschtunen gelebt.“

In weiterer Folge wurde der BF zu genaueren lokalen Gegebenheiten seiner Herkunftsregion befragt.

Auf die Frage, was mit ihm geschehen würde, sollte er nach Afghanistan zurückkehren, antwortete der BF:

„BF: Sollte ich nach Afghanistan zurückkehren, werde ich wegen meinem Vater getötet. Die gesamte Familie wird getötet, man erkennt uns im Dorf.

RI: Warum werden Sie getötet?

BF: Da sein Foto sich verbreitet hat und jeder im Dorf ihn kennt und jeder weiß auch, dass ich sein Sohn bin. Woanders in Afghanistan könnte ich nicht hingehen, da ich nirgendwo einen Platz oder Bekannte habe.

RI: Sind Sie auch zum Christentum konvertiert?

BF: Nein.

RI: Die Leute im Dorf wissen ja wohl, dass Sie nicht konvertiert sind.

BF: Wenn ein Familienmitglied zum Christentum konvertiert ist, dann wird der ganzen Familie unterstellt, dass sie vom Islam abgefallen ist und sie müssen getötet werden.

RI: Ich habe Zweifel, dass das so weit geht, Ihr Vater hat ja niemand anderem einen Schaden zugefügt.

BF: Nein, mein Vater hat niemanden geschadet.

RI: Könnten Sie in Herat oder in Mazar-e Sharif leben?

BF: Nein.

RI: Warum nicht?

BF: Da ich dort keine Bekannten habe und meine Familie als eine christliche Familie bekannt ist, ist es auch für mich nicht einfach eine Unterkunft zu finden. Ich habe dort kein Haus.“

In Österreich lebe der BF in einer privaten Unterkunft. Früher habe er Geld vom Staat bekommen, mittlerweile arbeite er als Zeitungszusteller. Er verdiene zurzeit 352 Euro im Monat. Er zahle – variabel – 150 bis 200 Euro Miete. Er habe Deutschkurse bis zur Stufe B1 besucht, aber keine Prüfung abgelegt. Die Prüfungsgebühr sei mit 150 Euro zu hoch. Er habe beim Fußballspielen einige junge Männer kennengelernt. Nachts arbeite er, dann schlafe ich bis ca. 12 Uhr. Danach gehe er Fußballspielen oder auch manchmal laufen. Er wolle, wenn er in Österreich bleiben könne, eine Ausbildung machen, je nachdem, was sich ergebe.

Die Rechtsvertretung des BF brachte zu diesem Themenbereich – Integration des BF in Österreich – Folgendes vor: „In der Rechtsprechung wird es so gesehen, dass der Aufenthalt mit einem unsicheren Status als weniger gewichtig angesehen wird. Allerdings ist es so, dass der BF als Minderjähriger nach Österreich gekommen ist und einem Minderjährigen ist ein unsicherer Aufenthaltsstatus nicht dem geleichenen Maße vorzuwerfen, wie einem Erwachsenen. Ich beziehe mich da gerade auf den VfGH auf die Entscheidung vom 07.10.2014, U2459/2012. Ich möchte auch für den Fall, dass Spruchpunkte I und II negativ entschieden werden Daraufhinweisen, dass es sich in keinem Fall um einen von vornherein offensichtlich unbegründeten Asylantrag handelt. Der BF war bei der Antragstellung Minderjährig und die Rechtsprechung ist auch heute noch so, dass Minderjährige afghanische alleinstehende ‚Männer‘ grundsätzlich subsidiären Schutz erhalten und keine IFA haben. Ich könnte entsprechende Judikatur dazu noch vorlegen.“

Auf die Fragen, wie sich die machtpolitische Situation und die ethnische Zusammensetzung in der Herkunftsregion des BF darstelle, sowohl zum damaligen, als auch zum jetzigen Zeitpunkt; und wie das geschilderte Wirken einer ausländischen Organisation in Kunduz zu beurteilen sei, erstattet der Sachverständige folgendes Gutachten:

„Zur Identität des BF: Die heutigen Angaben des BF entsprachen Großteils mit der Realität der Provinz Kunduz und einer deren Distrikte Imam Saheb nicht überein. Das Dorf Shor Kol gibt es in Imam Saheb, allerdings konnte er die Entfernung von Shor Kol bis zur Stadt Imam Saheb nicht angeben, obwohl er die Entfernung des Stadtzentrums Imam Saheb vom Schrein (Rahu Saa) gewusst hat. Ich gehe davon aus, dass die Großeltern oder Eltern noch in Shor Kol gelebt haben, aber der BF war wahrscheinlich nicht in Shor Kol und wie er immer wieder betont, es nur aus Erzählungen der Mutter und möglicherweise auch von Personen aus Imam Saheb kennt.

Ich gehe davon aus, dass der BF in Afghanistan viele Städte bereist hat, einschließlich der Stadt Imam Saheb, aber er war nicht in Shor Kol, sonst hätte er die Entfernung von Shor Kol bis in die Stadt Imam Saheb ungefähr angeben können. …]

Zur ‚Organisation‘: Nach meinen eigenen Kenntnissen als SV gab es Süd-Koreanische Organisationen in Imam Saheb, die versucht haben, auch zu missionieren. Sie mussten spätestens 2007 dieses Gebiet verlassen, weil die Taliban 2007 einen Autobus angehalten und die Reisenden Koreaner in diesem Autobus entführt haben. Das hat dazu geführt, dass Korea seine Organisation und seine Armee aus Afghanistan abgezogen hat.

Zu den ‚kanadischen Missionaren‘: Weder ich noch meine Mitarbeiter haben zu hören bekommen, dass kanadische Missionare in Imam Saheb gewesen seien und Menschen vor allem die Hazaras missionieren. Kanadier waren zwar in Afghanistan, aber in Imam Saheb waren sie nicht, vor allem auch nicht wegen der Missionierung. Es ist auch nicht bekannt geworden, dass ein Hazara, der von dem Kanadier konvertiert worden wäre, von den Taliban getötet worden wäre. Zur Zeit die der BF angibt, wann sein Vater ungefähr getötet worden wäre, war die Sicherheitslage noch ruhig. Ich persönlich bin bis 2013 nach Imam Saheb und Umgebung gereist. Mir ist auch nicht zu Ohren gekommen, dass ein Hazara oder ein Schiite aus Shor Kol von den Taliban getötet worden wäre.

Aufgrund der Feindschaften, unter der Bevölkerung, durch welche der Krieg verursacht worden ist, sind auch in diesem Jahr Menschen ums Leben gekommen, ohne das sie konvertiert sind.

…]

RI: Trifft es zu, dass – wie vom BF befürchtet – im Fall, dass ein Familienmitglied zum Christentum konvertiert, die gesamte Familie Verfolgung zu befürchten hat?

SV: Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass in den dörflichen Verhältnissen einzelne Personen sich nicht trauen sich konvertieren zu lassen und dann auch dies der Bevölkerung bekannt zu geben. Selbstverständlich werden die Konvertiten von der muslimischen Bevölkerung verfolgt und bei der Regierung angezeigt. Sie werden von der Behörde festgenommen. Die Familien dieser Personen entfernen sich aus der Region, damit ihnen die Leute nicht ständig vorwerfen, Angehöriger einer ungläubigen Person zu sein. Wenn die Familie sich von dem Konvertiten abwendet und sich der Bevölkerung solidarisch zeigt, passiert der Familie nichts. Es gibt unzählige Menschen in Kabul, deren Familienmitglieder als Christen im Ausland, auch in Afghanistan, bekannt geworden sind, die keine Sanktionen von ihren Nachbarn oder von der Regierung erfahren haben. Das prominenteste Beispiel dafür ist der Fall von Abdurrahman, der im Ausland konvertiert war und er reiste zwecks Abholung seiner Familie, aus Afghanistan, nach Kabul. Er wurde von seinem eigenen Vater angezeigt, die Behörde hat ihn festgenommen und durch Intervention des Vatikans ist er nach Italien gebracht worden. Das höchst Gericht hat für ihn ein Todesurteil verlangt. Seine Familie blieb verschont und sie lebten damals noch in Kabul.

RI an BF: Wollen Sie dazu eine Stellungnahme abgeben?

BF: Ja. Es entsprich nicht der Wahrheit, wenn eine Person aus der gesamten Familie konvertiert, wird die gesamte Familie getötet. Dort kann die Polizei nicht intervenieren und die Regierung kann nichts machen. Man muss jemanden bestechen, um eine Anzeige zu erstatten. Alles läuft über Bestechungen.

RI: Zu den afghanischen Großstädten: Wie sieht die Lage in Kabul, in Herat und in Mazar-e Sharif aus, insbesondere für Hazaras?

SV: Über die Situation der Hazaras vor dem Beginn des 40-jährigen Krieges habe ich zur Genüge hier vor Gericht Stellung genommen. Damals waren sie diskriminiert und Großteils entrechtet. Im Zuge des 40-jährigen Krieges haben die Hazaras Möglichkeiten erlangt, die sie dazu befähigen, soweit es ihnen möglich ist, sich gegen die Angriffe von außen, vor allem von Seiten der Taliban, zu verteidigen. Sie stellen fast 1/3 der Regierung Afghanistans. Sie kontrollieren ihre Wohngebiete außerhalb der drei genannten Großstädte, aber es kommt vor, dass die Taliban immer wieder die Hazara-kontrollierten Gebiete angreifen. Die Angriffe der Taliban haben viele Opfer gefordert. Trotzdem konnten die Hazaras ihre Gebiete erfolgreich gegen die Taliban soweit verteidigen, dass die Taliban ihre Herrschaftsgebiete nicht langfristig unter ihre Kontrolle bringen konnten, damit meine ich nicht mehr als 24 bis 48 Stunden. In Großstädten sind die Hazaras stark präsent. In Kabul gemeint: Provinz] werden mehrere Gebiete westlich von der Stadt Kabul von ihnen bewohnt und kontrolliert, in Mazar-e Sharif ebenfalls wie auch in Herat. Die Diskriminierung und diskriminierende Behandlung der Hazaras in der Vergangenheit] gehört in die Vergangenheit. Die Hazaras lassen sich heute nicht mehr beleidigen, erniedrigen oder auch benachteiligen. Die politischen Differenzen in der Regierung und im Staat Afghanistans, die die Minderheiten teilweise benachteiligen, haben mit der Ethnie der Hazaras alleine nichts zu tun, sondern das ist ein Machtkampf innerhalb der afghanischen Elite, aber die Hazaras haben bei diesem ‚Kuchen‘ einen überproportionalen Anteil für sich erlangt.

Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist derzeit, besonders wegen COVID-19 prekär. Mehr als 70% der Afghanen sind arbeitslos und aus allen Teilen Afghanistans wandern tausende Menschen von einem Ort zum anderen Ort bzw. in die Großstädte und ins Ausland aus. Das ist nicht eine Ausnahmesituation für Hazaras, sondern betrifft alle Teile der afghanischen Bevölkerung.

Die Sicherheitslage außerhalb der Großstädte ist weiterhin prekär. Die Taliban haben die meisten Provinzen außerhalb der Großstädte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif unterwandert und ca. die Hälfte der afghanischen Distrikte sind direkt unter der Kontrolle der Taliban. Die Taliban greifen die Reisenden auf den Hauptstraßen, vor allem in den Gebieten im Westen, wo sich die Reiseroute der Hazaras befindet, an. In den Großstädten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat besteht noch nicht die Gefahr, dass die Taliban einmarschieren könnten, um bestimmte Bezirke unter ihre Kontrolle zu bringen. Allerdings gelingt es den Taliban immer wieder Bombenanschläge auf ausländische Konvoys, Regierungsstellen, bestimmte Politiker und auf bestimmte Zeremonien in den heiligen Städten der Schiiten zu verüben (Selbstmordanschläge). Die einfachen Zivilisten sind nicht Ziel eines Anschlags der Taliban, allerdings kommt es vor, dass bei einem Selbstmordanschlag der Taliban auf eine Regierungsstelle oder auf eine Bank dutzende Zivilisten, die dort herumstehen oder dort zu tun haben, ums Leben kommen.

Da die Arbeitslosenrate auch in Großstädten sehr hoch ist und auch dort fast 70% der Menschen ohne Arbeit sind, können Rückkehrer ohne Erschwernis sich niederlassen, wenn sie im Ausland fachliche Ausbildung erworben bzw. durch Arbeit fachliches Wissen erworben bzw. durch praktische Arbeit sich für bestimmte fachliche Tätigkeiten qualifizieren konnten. Diese Personen können selber, das heißt durch eigene Initiative, wenn sie Mittel dafür haben, eine eigene Existenz aufbauen. Es gibt verschiedene NGOs in Kabul, einschließlich IOM, die Mittel besitzen, Rückkehrer zu betreuen. Nach meiner Information gehen die meisten Rückkehrer leer aus, da auch innerhalb der IOM-Mitarbeiter in Kabul Korruption herrscht und die Rückkehrer nicht die genügende Unterstützung haben, zu ihrem Recht zu gelangen und IOM dazu zu bringen, ihnen ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Wohnung finanzieren können und eine Ausbildung machen können oder eine Werkstatt zu gründen, mit der sie überleben könnten. Aber ich habe auf meiner Reise vor zwei Jahren ein bis zwei Leute kennengelernt und mit ihnen gesprochen, dass sie am Flughafen in Kabul von IOM jeweils 500,- Euro bekommen haben und sie haben jeweils Adressen bekommen, wo sie sich melden sollten, wenn sie bereit sind, in Kabul eine Existenz zu gründen. In diesem Fall würden sie bis zu 2.800,- Euro Unterstützung bekommen. Nach meiner derzeitigen Information ist diese Versprechung der IOM nicht realitätsnah.

Eine einzelne Person könnte in Kabul eine Unterkunft, ein Zimmer, zwischen 50,- und 100,- Dollar im Monat außerhalb des Zentrums der Stadt Kabul finden. Diese Zimmer sind vorhanden, wenn man das entsprechende Geld hat. Für eine Werkstattgründung braucht ein Automechaniker oder Schweißer nach meiner Schätzung ca. 2.000,- Dollar, um damit seinen weiteren Lebensunterhalt zu bestreiten. Allerdings braucht er für die Gründung dieser Werkstadt diese Summe und wenn er kein Geld hat, kann er auch keine Werkstadt gründen. Mikrokredite gibt es in den Städten nicht. Mikrokredite hat es in den bäuerlichen Gesellschaften gegeben, aber die Taliban haben durch ihre starke Präsenz dieses Programm zum Scheitern gebracht. Auf dem Papier gibt es alles, Mikrokredite sowohl in den Städten als auch in den Dörfern, aber was auf dem Papier steht, entspricht in diesem Punkt nicht der Realität Afghanistans. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass viele Rückkehrer auch Familie in Afghanistan haben, die sie beim Aufbau einer Existenz unterstützen oder sie aufnehmen.

RI an BF: Wollen Sie dazu eine Stellungnahme abgeben?

BF: Dazu habe ich auch etwas zu sagen. Unsere Volksgruppe kann dort nirgendwo arbeiten. Sie sind auch in der Regierung nicht vertreten, wenn man dort arbeiten möchte, dann sagen sie zu einem sofort, dass man ein Hazara ist und man kann dort nicht arbeiten. Es gibt dort Diskriminierung.“

SV ergänzt sein Gutachten, er habe jetzt telefonische Informationen erhalten:

„Shor Kol ist 4-5km von der Stadt Imam Saheb entfernt. Meine Leute haben in Deutschland eine Art Bürgermeister von Imam Saheb erreicht, der sich mit ganz Imam Saheb ausgekannt hat. Er hat bestätigt, dass es Shor Kol gibt und es dort eine große Community von Hazaras gibt, unter denen es Sunniten, als auch Schiiten gibt. Entgegen meinen Angaben von vorhin ist die Rolle der schiitischen Hazaras dort bedeutsam. Das ist zurückzuführen, weil die Führung der Hazaras in Afghanistan Schiiten sind, sie sind in der Regierung vertreten und sie versuchen in ganz Afghanistan von ihrer Macht Gebrauch zu machen und das Schiitentum zu fördern. Daher stellt sich die folgende Frage an den BF: Was haben die Hazaras in Shor Kol an Sehenswürdigkeiten, Institutionen oder wichtigen Stellen?

BF: Die Moschee Pir Saheb befindet sich in Khatun Qala.

SV: Khatun Qala ist nicht in Shor Kol, ich möchte wissen, was es in Shor Kol gibt.

BF: Ich war damals sehr klein, ich bin nicht so oft irgendwohin gegangen. Ich habe nur die Schule besucht und war arbeiten.

SV: Wo haben Sie gebetet?

BF: Ich habe zu Hause gebetet.

SV: Wo hat Ihr Vater gebetet?

BF: Ebenfalls zu Hause.

SV: Ihre Angaben stimmen nicht mit den Gegebenheiten in Shor Kol überein, es gibt dort eine sehr alte Moschee. Die Schiiten nennen ihre Moschee Takia Khana, dort wird gebetet, aber auch diskutiert oder politische Veranstaltungen abgehalten; dies m Gegensatz zu sunnitischen Moscheen, davon weiß der BF offensichtlich nichts. Die Antwort des BF wäre meiner Ansicht nach spontan, sie haben dort die Takia Khana.

BF: Takia Khana besucht man nur an bestimmten Tagen und zwar vom 07. Bis 11. im Monat Moharam.“

…]

„RI an RV: Wollen Sie eine Stellungnahme abgeben?

RV an SV: Sie haben ausgeführt, dass sich Rückkehrer ohne Erschwernis in den Großstädten niederlassen können, wenn sie eine fachliche Ausbildung oder besondere Qualifikationen haben. Was ist mit Rückkehrern, auf die das nicht zutrifft?

SV: Sie kommen entweder bei ihren Familien unter oder sie landen auf der Straße oder sie kehren zurück in Nachbarländer oder sie suchen innerhalb des Landes eine Möglichkeit zu überleben. Es ist keine Hilfe seitens der Regierung zu erwarten oder von verschiedenen islamischen Institutionen. Früher war es gang und gebe, dass die Menschen die auf der Straße waren von der afghanischen Bevölkerung empfangen und bewirtschaftet wurden, das war aber vor 30 Jahren so.

RV an SV: Wie ist die Möglichkeit als Tagelöhner ein ausreichendes Einkommen zu erreichen?

SV: Wenn sie eine Arbeit finden, einen Markt auf dem sie stehen, können sie für den Tag ihr Auskommen finden. Sie verdienen zwischen 100-200 Afghani am Tag. Wenn aber jemand eine Fachausbildung hat verdient er 500-600 Afghani am Tag. Tagelöhner verdienen sehr wenig, aber damit kommen sie diesen Tag aus. Ein Dollar ist ca. 70 Afghani.

RI an BehV: Wollen Sie noch Fragen an den BF stellen oder eine Stellungnahme abgeben?

BehV: Fragen habe ich keine. Eine Stellungnahme erfolgt allenfalls schriftlich.

BF: Wir sind Hazaras, wir werden dort von allen anderen unterdrückt, in Kunduz erlaubt man uns nicht einmal zu reden. Sie sagen, dass wir die Nachfolger der Chinesen seien und wir bekommen auch nirgendwo Arbeit, beispielsweise bei Behörden usw. …“

Es wurde dem BF eine Frist von drei Wochen für die Abgabe einer Stellungnahme gewährt.

Diese Stellungnahme langte beim Bundesverwaltungsgericht am 18.09.2020 ein:

Eine Rückkehr nach Kunduz scheine aufgrund der volatilen Sicherheitslage ausgeschlossen. Die Einschätzungen von UNHCR und EASO, dass junge, gesunde, erwerbsfähige Männer ohne soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte in Mazar-e Sharif oder Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorfinden können, seien aufgrund der aktuellen Pandemie und der damit verbundenen Konsequenzen als veraltet anzusehen. Der BF würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan seine grundlegendsten Bedürfnisse nicht befriedigen können.

Zudem halte sich der BF seit mehr als fünf Jahren in Österreich auf und sei so gut wie möglich integriert, was bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ebenso wie die schwierige Situation im Herkunftsstaat zu berücksichtigen sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren und ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Neben seiner Muttersprache Dari verfügt er über Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Der BF verfügt jedoch über keine zertifizierten Deutschkenntnisse.

Der BF stammt aus der Provinz Kunduz. Seine genauere Identität steht nicht fest. Seine Mutter sowie seine Geschwister haben im Iran gelebt, der BF unterhält jedoch keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ein Onkel mütterlicherseits lebt mit seiner Familie nach wie vor in Afghanistan.

Der BF verfügt in Österreich weder über Familienmitglieder noch über sonstige nahe Angehörige.

Der BF hat in Afghanistan 4 Jahre die Schule besucht.

Der BF arbeitet in Österreich als Werbemittelverteiler.

Der BF ist kein Mitglied in einem Verein und geht keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nach.

Der BF ist gesund und nimmt keine Medikamente.

Der BF hat im Zuge des Verfahrens falsche Angaben hinsichtlich seines Geburtsdatums gemacht und sich als Minderjähriger ausgegeben.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen

Die vom BF vorgebrachten Fluchtgründe - sein Vater sei am Heimatort mit einer ausländischen Organisation in Kontakt gelangt, sei dort in der Hoffnung auf einen Umzug nach Kanada zum christlichen Glauben konvertiert, sei deshalb getötet worden und es solle daher die gesamte Familie des BF getötet werden – sind als nicht glaubhaft einzustufen und werden dem Verfahren nicht zugrunde gelegt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan

Eine Rückkehr des BF in seine Heimatprovinz Kunduz würde für ihn aufgrund der im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan aufgezeigten volatilen Sicherheitslage eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 bzw. 3 EMRK darstellen, weshalb eine Rückkehr unzulässig ist.

Eine Rückkehr und Ansiedelung in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat ist dem BF, obwohl in diesen beiden Städten eine angespannte Situation vorherrscht, jedoch möglich und aufgrund seiner individuellen Umstände - er ist ein junger, gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter -, trotz der erschwerten wirtschaftlichen Lage durch die COVID-19 Pandemie, auch zumutbar.

In beiden Städten besteht für den BF keine unmittelbar drohende Gefahr für sein Leben bzw. seine körperliche Unversehrtheit. Es ist ihm ohne Gefahr möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben.

Es ist dem BF somit möglich, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif oder der Stadt Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Die Städte Mazar-e-Sharif und Herat sind von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug zu erreichen.

Der BF hat zudem keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation eine Gewährung von subsidiärem Schutz auch bei einem niedrigeren Grad von willkürlicher Gewalt angezeigt hätten.

Aus diesen Gründen steht ihm eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif offen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 16.12.2020 (Anmerkung: Das LIB Dezember 2020 entspricht inhaltlich den vorangegangenen Berichten aus 2019 und – spezifisch zu COVID-19 - aus 2020 und bringt die älteren Berichte in eine systematische Anordnung):

COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020).

Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020). Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020).

UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020). Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti- Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID- 19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden.

Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020). Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani- Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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