TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/22 W115 2189940-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.01.2021
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Entscheidungsdatum

22.01.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W115 2189940-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer, Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Gemeinsam mit ihm reisten sein volljähriger Bruder, dessen minderjährige Söhne und dessen damalige (traditionell angetraute) Ehefrau in das Bundesgebiet ein und stellten am genannten Datum ebenso Anträge auf internationalen Schutz. Die Verfahren der genannten Angehörigen des Beschwerdeführers sind ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht unter den Geschäftszahlen XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX anhängig.

1.1.    Im Verlauf der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei in der Provinz Bamyan geboren und habe dort auch bis zu seiner Ausreise gelebt. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig sei. In Afghanistan verfüge er über keine Verwandte mehr. Sein Bruder lebe gemeinsam mit seiner Familie in Österreich. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan eine Koranschule besucht habe. Von klein auf bis zu seiner Ausreise im Jahr XXXX habe er seinem Bruder als Hirte geholfen. Er habe den Herkunftsstaat vor rund zwei Jahren in einem Kleinbus Richtung Iran verlassen, wo er mit der Familie seines Bruders bis einen Monat zuvor gelebt hätte. Vom Iran seien sie schlepperunterstützt über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn nach Österreich gereist.

Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass in Afghanistan ihr Leben in Gefahr gewesen sei. Die namentlich bezeichnete mächtigste Person in ihrem Ort sei kampfbereit gewesen und habe immer mit Gewalt gedroht. Der Bruder des Beschwerdeführers habe deshalb einmal mit jener Person gestritten. Zwei Tage später habe sein Bruder laut seinen Aussagen, als er mit den Tieren auf dem Berg gewesen sei, eine dort liegende blutende Person auf dem Esel mitgenommen, welche in der Folge gestorben sei. Bei der toten Person habe es sich um den Sohn des Machthabers gehandelt. Der Machthaber habe dem Bruder des Beschwerdeführers vorgeworfen, seinen Sohn getötet zu haben und er habe den Bruder daraufhin eingesperrt. Am nächsten Tag sei sein Bruder zu ihnen nach Hause gekommen und sie seien sehr schnell in Richtung Iran geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr würde der Machthaber sie töten.

1.2.    Eine EURODAC-Abfrage ergab keinen Treffer.

1.3.    Nach Zulassung des Verfahrens durch Ausfolgung einer Aufenthaltsberechtigungskarte wurde der zwischenzeitlich volljährige Beschwerdeführer am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, bislang wahrheitsgemäße Angaben erstattet zu haben, welche jedoch nicht rückübersetzt worden seien. Er sei gesund und habe bis zum Alter von vierzehn Jahren in der Provinz Daikundi gelebt, wo er zwei oder drei Jahre in der Moschee den Koran gelernt hätte. Ansonsten habe er keine Ausbildung absolviert und zuhause seinem Bruder und der Familie geholfen. Er habe keine Arbeit gehabt; er habe Holz für das Feuer besorgt und auf die Lämmer aufgepasst. Sein Bruder habe für den Lebensunterhalt gesorgt. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig und kinderlos sei. Über Verwandte in Afghanistan verfüge er nicht. Seine Eltern seien bereits verstorben. Er habe nur mehr seinen Bruder, der sich ebenfalls in Österreich aufhalte. Den Entschluss zur Ausreise habe er vor vier Jahren gegen Ende des Sommers gefasst, als sein Bruder zu ihnen gekommen wäre und gesagt hätte, dass sie das Land verlassen müssten. Auf Befragung durch die belangte Behörde gab der Beschwerdeführer an, in seinem Heimatland nie von Problemen mit den dortigen Behörden betroffen gewesen zu sein. Er sei nie inhaftiert gewesen und habe sich nie politisch betätigt. Er habe aber Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines Religionsbekenntnisses gehabt. Mit Privatpersonen habe er keine gröberen Probleme gehabt. Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Bruder Probleme mit einem namentlich bezeichneten Machthaber ihres Dorfes gehabt habe. Jener Machthaber habe seinen Bruder beschuldigt, seinen Sohn umgebracht zu haben. Daher würde er auch ihre Familie umbringen. Der Bruder des Beschwerdeführers hätte gesagt, dass auch ihr Leben in Gefahr sei und sie das Land verlassen müssten. In einem anderen Dorf hätten sie nicht leben können, da der Machthaber überall seine Kontakte gehabt hätte. In andere Städte Afghanistans hätten sie auch nicht gehen können, um sich ein Leben aufzubauen. Er selbst sei minderjährig gewesen und sein Bruder hätte es alleine nicht geschafft. Sein Bruder habe gemeint, dass sie im Iran arbeiten könnten und der Iran ein sicheres Land wäre, wo der Gegner sie nicht finden könnte.

Befragt nach weiteren Gründen für die Ausreise aus seinem Heimatland schilderte der Beschwerdeführer, dass er einmal mit seinem Bruder zum Einkaufen nach Ghazni habe gehen wollen und sie von den Taliban angehalten worden seien. Diejenigen, welche nicht den Koran lesen konnten, seien auf die Seite gestellt worden, ebenso die Leute, die eine neue Tazkira bei sich gehabt hätten. Sein Bruder habe die Tazkira seines Vaters gezeigt und habe den Koran lesen können. Sie hätten ihnen jedoch das Geld für den Einkauf und alles andere weggenommen. Die anderen Leute, welche die neue Tazkira dabeigehabt hätten oder den Koran nicht lesen konnten, seien vor seinen Augen geschlagen worden. Deswegen hätten sie immer in Angst gelebt. Die Taliban hätten ihnen gedroht, dass sie von ihnen umgebracht werden würden, sollten sie nochmals gesehen werden. Nach diesem Vorfall seien sie bis zum Verlassen des Landes nicht mehr nach Ghazni gefahren.

Für den Fall einer Rückkehr befürchte der Beschwerdeführer, dass der Machthaber sie finden und Rache für seinen Sohn nehmen würde. Er würde den Beschwerdeführer oder seinen Bruder umbringen. Persönlich bedroht sei er von dem vorhin erwähnten Machthaber nicht worden. Auch eine persönliche Verfolgung habe nicht stattgefunden. Zu den zuvor erwähnten Problemen wegen seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit gab der Beschwerdeführer an, die Taliban hätten Hazara und Schiiten immer allgemein bedroht. Persönliche Probleme habe der Beschwerdeführer mit niemandem gehabt.

Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er hier in die Schule gehen würde und auch schon viele Freunde gefunden habe. Zudem habe er eine Freundin. Er habe weiters bereits Deutschkurse besucht und sich ehrenamtlich in der Gemeinde engagiert.

Weiters wurden dem Beschwerdeführer von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer gab diesbezüglich an, dass er sich dazu nicht äußern wollen würde.

Vom Beschwerdeführer wurde ein Konvolut an integrationsbescheinigenden Unterlagen in Vorlage gebracht (darunter u.a. eine Schulbesuchsbestätigung, eine Bestätigung hinsichtlich einer von ihm ausgeübten ehrenamtlichen Tätigkeit sowie Prüfungszeugnisse über die bestandenen Deutschprüfungen auf dem Niveau A1, A2 und B1).

1.4.    Mit dem im Spruch genannten Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm unter Spruchpunkt III. gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Begründend wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe eine persönliche Bedrohung durch den lokalen Machthaber oder durch die Taliban nicht glaubhaft vorgebracht. Dieser habe sich auf das Vorbringen seines Bruders bezogen, aus welchem sich keine Verfolgung seiner eigenen Person ergebe. Auch durch die geschilderte Kontrolle und Anhaltung durch die Taliban im Zuge eines Einkaufes in Ghazni ergebe sich keine asylrelevante Verfolgung, da der Beschwerdeführer nie einer persönlichen Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer Verfolgung durch staatliche Organe oder einer solchen aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung unterliegen würde. Die Diskriminierung der schiitischen Hazara erreiche nach der Berichtslage nicht ein solches Ausmaß, welches eine Gruppenverfolgung begründen würde.

Wegen des Fehlens familiärer Anknüpfungspunkte in Afghanistan lägen jedoch subjektive Umstände vor, aufgrund derer nicht auszuschließen sei, dass der Beschwerdeführer selbst bei Niederlassung in einer relativ sicheren Provinz in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, sodass ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.

1.5.    Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.6.    Gegen Spruchpunkt I. des im Spruch genannten Bescheides wurde mit einem für den Beschwerdeführer, dessen Bruder, der damaligen Ehegattin seines Bruders sowie dessen Söhne gleichlautenden Schriftsatz vom XXXX durch die damals bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben, in welcher - betreffend die Person des Beschwerdeführers - im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass sich der Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter befinde, der religiösen Minderheit der Schiiten sowie der ethnischen Minderheit der Hazara angehöre, lange im Ausland gelebt und sich den dortigen westlichen Werten angepasst habe, sodass dieser unter näher angeführte Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien fiele. Es liege daher eine asylrelevante Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur religiösen und ethnischen Gruppe der schiitischen Hazara sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Afghanen, die lange im Ausland gelebt hätten und welchen dadurch eine talibanfeindliche politische Gesinnung unterstellt werden würde, sowie durch die erkannte Verfolgung durch den Machthaber, welcher gute Kontakte zu den Taliban hätte, vor.

2.       Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakt langte der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.1.    Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer, sein damals bevollmächtigter Vertreter und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde hatte mit Schreiben vom XXXX mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten.

Im Rahmen der Verhandlung brachte der Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an, sei schiitischer Moslem und spreche muttersprachlich die Sprache Dari. In dieser Sprache könne er auch lesen und schreiben. Weiters spreche er Deutsch, ein bisschen Französisch und Englisch und lerne zudem Türkisch. Im Herkunftsstaat habe er einen Koranunterricht besucht, ansonsten jedoch keine Schul- oder Berufsausbildung absolviert. Er sei in der Provinz Daikundi geboren. Von dort seien sie zunächst in den Iran geflüchtet, wo sie sich zwei bis drei Jahre lang aufgehalten hätten. Er sei gemeinsam mit seiner Mutter, seinem Bruder und dessen Familie in den Iran gereist. Seine Mutter sei im Iran gestorben; sein Vater bereits in Afghanistan. Sein Bruder und dessen Familie würden sich ebenfalls in Österreich aufhalten. In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr. In Österreich lebe der Beschwerdeführer in einer Lebensgemeinschaft und habe mit seiner Partnerin ein drei Monate altes Kind. Er habe einen B1-Deutschkurs absolviert, zwei Jahre lang ein Gymnasium besucht und arbeite in einem Restaurant als Pizzabäcker.

Zum Grund seiner Flucht schilderte der Beschwerdeführer, er habe in der Provinz Daikundi mit seiner Mutter, seinem Bruder, dessen Frau und dessen Kindern zusammengelebt. Sein Bruder sei Hirte gewesen und habe Schafe auf die Berge zu den Hütten gebracht. Er sei dann mit einer Leiche zurückgekommen, die er dort gefunden hätte. Es habe sich herausgestellt, dass es sich dabei um den Sohn des Dorfältesten gehandelt habe. Da sein Bruder zuvor schon einmal mit den Dorfältesten diskutiert hätte, sei er sofort verdächtigt worden. Er sei mitgenommen worden und erst am nächsten Morgen wieder nachhause zurückgekehrt. Sein Bruder habe Verletzungen aufgewiesen, als er nachhause zurückgekehrt sei. So sei sein Gesicht voller Blut gewesen und er habe eine Wunde am Kopf gehabt. Weiters habe sein Bruder nicht normal gehen können. Sein Bruder habe gesagt, dass ihr Leben in Gefahr sei und sie so schnell wie möglich flüchten müssten. Den Grund habe sein Bruder ihm erst im Iran erzählt. Befragt, ob auch er persönlich von diesem Dorfältesten bedroht worden wäre, gab der Beschwerdeführer an, so wie sein Bruder es ihm erzählt hätte, sei die gesamte Familie bedroht worden. Zu Angriffen gegen seine Person durch den Dorfältesten sei es nicht gekommen.

Befragt, ob es darüber hinausgehende Gründe für das Verlassen Afghanistans gegeben hätte, gab der Beschwerdeführer an, es habe einen weiteren Vorfall gegeben, als sein Bruder und er eines Tages unterwegs gewesen wären, um Schafe zu kaufen. Unterwegs seien sie von den Taliban angehalten worden. Jene Personen, welche das gewisse islamische Alter erreicht hätten, mussten beweisen, dass sie sunnitische Muslime seien. Sie hätten den Koran lesen und auf sunnitische Art beten müssen. Sein Bruder habe dies getan, das Problem sei aber gewesen, dass dieser keinen langen Bart getragen hätte. Die Taliban hätten ihnen ihr Geld weggenommen und sie alle bedroht. Persönliche Bedrohungen seitens der Taliban habe es nach diesem Vorfall aber nicht gegeben.

Befragt, was er bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab der Beschwerdeführer an, seine Kindheit im Iran und seine Jugend in Österreich verbracht zu haben. Er sei im Alter von 16 Jahren nach Österreich gekommen und wüsste nicht, wie er in Afghanistan zurechtkommen sollte. Er wisse nicht, ob der zuvor erwähnte Dorfälteste noch am Leben sei. Auch wenn dem nicht so wäre, hätte dieser genug Leute gehabt, die für ihn gearbeitet hätten und die sicher Rache ausüben wollen würden. Der Beschwerdeführer lebe seit vier bis fünf Jahren in Österreich und habe jetzt eine Familie. Sein Leben habe sich komplett verändert. Früher sei es sein Ziel gewesen, sich weiter zu bilden, jetzt aber sei es sein Ziel, zu arbeiten und finanziell stabil zu sein sowie gut für seine Familie zu sorgen. Anfangs sei er ein bisschen religiös gewesen, aber jetzt denke er gar nicht mehr an Religion. Befragt, weshalb er diesfalls zu Beginn der Verhandlung angegeben hätte, schiitischer Moslem zu sein, erwiderte der Beschwerdeführer, dies stünde in seinen Dokumenten. Wenn notwendig, könne er dies ändern. Er könne auch ohne Religionsbekenntnis leben. Denn alles, was im Islam verboten wäre, mache er. Er sei tätowiert, habe eine Freundin sowie ein uneheliches Kind und trinke Alkohol. Der Beschwerdeführer bestätigte auf richterliche Befragung, dass er nicht vom Islam abgefallen sei, sondern den islamischen Glauben in Österreich lediglich nicht ausübe. Er denke einfach nicht mehr an die Religion. Er habe sich die Buchstaben des Namens seines Sohnes auf die Finger seiner linken Hand tätowieren lassen.

Die Frage des bevollmächtigten Vertreters, ob er befürchte, aufgrund des geschilderten Äußeren und seiner Lebensweise im Fall einer Rückkehr einem erhöhten Risiko ausgesetzt zu sein, wieder in derartige Kontrollen oder sonstige Bedrohungshandlungen islamistischer Gruppierungen zu geraten, bejahte der Beschwerdeführer und erklärte, sich mit der Religion und den Gesetzen dort nicht gut auszukennen. Abgesehen davon, habe er ein uneheliches Kind, was bei Bekanntwerden eine große Gefahr für ihn darstellen würde.

Nach Erörterung jener Länderberichte, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden, gab der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers dazu an, dass der Beschwerdeführer zusätzlich zu den bereits in der Beschwerde vorgebrachten Berichten ein Risikoprofil der UNHCR-Richtlinien erfülle. Aufgrund einer westlichen Lebensweise und seines Äußeren wäre dieser im Fall einer Rückkehr einer asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt. Der Beschwerdeführer gab abschließend an, dass in Afghanistan seit ca. 40 Jahren Krieg herrsche und es ständig Anschläge geben würde. In Österreich habe er viel über Afghanistan gelesen und gehört und sei zum Entschluss gekommen, dass dies kein Land sei in dem er leben könnte.

2.2.    Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

2.3.    Mit Schreiben vom XXXX wurde vom bevollmächtigten Vertreter mitgeteilt, dass die erteilte Vollmacht per 31.12.2020 zurückgelegt wird.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen und ist am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und wurde als schiitischer Moslem erzogen. Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Daikundi geboren und aufgewachsen. Er spricht muttersprachlich Dari, lebte bis zum Alter von 14 Jahren in Afghanistan, ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und mit den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Er unterstützte seit seiner Kindheit seinen Bruder bei dessen Tätigkeit als Hirte sowie in der Landwirtschaft und hat im Herkunftsstaat mit Ausnahme der Teilnahme am Koranunterricht, in welchem er Lesen und Schreiben grundlegend erlernte, keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt.

Im Jahr XXXX verließ der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter, seinem älteren Bruder (dem nunmehrigen Beschwerdeführer zu Geschäftszahl XXXX ) und dessen Familie (Ehefrau sowie Kinder) Afghanistan und zog in den Iran, wo er in den folgenden Jahren lebte. Die Mutter des Beschwerdeführers verstarb im Iran. Sein Vater ist bereits vor der Ausreise in Afghanistan verstorben. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keine Angehörigen mehr.

Der Beschwerdeführer hat im Jahr XXXX den Iran gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Familie verlassen und reiste schlepperunterstützt nach Österreich ein. Er gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet und hat dort am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.). Diese wurde zuletzt von der belangten Behörde bis zum XXXX verlängert.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Er führt in Österreich eine Lebensgemeinschaft und hat mit seiner Partnerin einen wenige Monate alten Sohn. An den Fingern der linken Hand besitzt er eine Tätowierung der Buchstaben des Namens seines Sohnes. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich Deutschkenntnisse angeeignet, er hat zwei Jahre lang ein Gymnasium besucht und geht einer Erwerbstätigkeit als Pizzabäcker nach.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hat seinen Herkunftsstaat seinen Angaben zufolge im Jahr XXXX wegen eines Konflikts seines älteren Bruders mit dem Dorfältesten seines Heimatortes verlassen. Laut Aussagen des Beschwerdeführers sei sein Bruder durch den Dorfältesten, nachdem er im Zuge seiner Tätigkeit als Hirte den Sohn des Dorfältesten verletzt vorgefunden und zu seinem Vater gebracht hätte, beschuldigt worden, am in der Folge eingetretenen Tod des Sohnes Schuld zu tragen. Der Bruder des Beschwerdeführers sei sodann vom Dorfältesten bzw. seinen Mitarbeitern gefangen genommen und geschlagen worden. Nachdem dem Bruder des Beschwerdeführers einige Stunden später die Flucht gelungen sei, habe dieser den Heimatort gemeinsam mit dem Beschwerdeführer und den weiteren Familienmitgliedern sogleich in Richtung Iran verlassen.

Der Beschwerdeführer ist im Vorfeld der Ausreise keiner persönlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen und war in den geschilderten Konflikt seines Bruders mit dem Dorfältesten nicht involviert.

Die Beschwerde des Bruders des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten ist mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Datum zu Zahl XXXX als unbegründet abgewiesen worden.

Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ist der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung durch den Dorfältesten oder die Taliban ausgesetzt.

Dem Beschwerdeführer droht auch wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams keine konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Glaubensrichtung des Islams in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer „Verwestlichung“ psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer wurde als schiitischer Moslem erzogen. Es kann nicht festgestellt werden, dass er vom muslimischen Glauben abgefallen ist und er dies im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aktiv nach außen zur Schau tragen wird. Das vom Beschwerdeführer zuletzt angegebene Desinteresse am islamischen Glauben ist niemandem in Afghanistan bekannt.

Ebensowenig ist der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Österreich Vater eines unehelichen Kindes geworden ist, jemandem in Afghanistan bekannt.

Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

1.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aufgrund der mit dem Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erörterten Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

1.3.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, in der Fassung vom 21.07.2020:

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle - ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Sicherheitslage im Jahr 2019:

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer:

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs):

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten:

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban:

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Daikundi:

Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat und grenzt an Ghor im Norden und Westen, Bamyan im Osten, Ghazni im Südosten, Uruzgan im Süden und Helmand im Südwesten (UNOCHA 4.2014). Daikundi gehörte früher zur Provinz Uruzgan und ist mittlerweile eine eigenständige Provinz (PAJ 1.2.2014; vgl. UNDP 5.2.2017). Neben der Provinzhauptstadt Nili besteht Daikundi aus den folgenden Distrikten: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht und Shahristan (CSO 2019; vgl. IEC 2018). Der Distrikt Gizab/Pato wechselte in der Vergangenheit zwischen Uruzgan und Daikundi (AAN 31.10.2011). Im Juni 2018 wurde Pato ein eigenständiger Distrikt (AAN 27.1.2019). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) führte Pato 2019 als „temporären“ Distrikt von Daikundi (CSO 2019). „Temporäre“ Distrikte sind Distrikte, die nach Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2004 vom Präsidenten aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, jedoch (noch) nicht vom Parlament bestätigt wurden (AAN 16.8.2018). Der von Hazara dominierte Distrikt Nawamish wurde auf Anordnung des Präsidenten im März 2016 vom mehrheitlich paschtunischen Distrikt Baghran in der Provinz Helmand abgespalten. Im Juni 2017 wurden die administrativen Angelegenheiten von Nawamish Daikundi zugeordnet (AAN 16.8.2018), bzw. beschloss die Regierung 2018, dass Nawamish Teil von Daikundi werden würde (Mobasher 2019). Zeitungsberichte vom Mai und Juli 2019 zählten Nawamish wieder zu Daikundi (RY 11.7.2019; vgl. PAJ 10.5.2019). Eine Quelle berichtet, dass es sich hierbei um einen Konflikt entlang ethnischer Grenzen handelt: Während Paschtunen fordern, dass Nawamish Teil von Daikundi sein soll, sprechen sich Hazara für eine Zugehörigkeit zu Helmand aus (Mobasher 2019).

Im November 2018 erkannte Präsident Ashraf Ghani die Beförderung von Daikundi zu einer Provinz zweiter Klasse an, was eine höhere Mittelvergabe an die Provinz ermöglicht (MENA FN 10.11.2018).

Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-20 leben 507.610 Menschen in Daikundi (CSO 2019). Als Teil des Hazarajats (UNOCHA 4.2014) wird Daikundi mehrheitlich von Hazara bewohnt, wobei es eine Minderheit an Paschtunen, Belutschen und Sayeds/Sadats gibt (NPS o.D.).

In Daikundi gibt es nur eine gepflasterte Straße, einen Flughafen, der jedoch nach Angaben des Provinzgouverneurs keine Standards erfüllt und nur von kleinen Flugzeugen angeflogen werden kann (TN 6.4.2018). Von und nach Daikundi gibt es keinen Linienflugbetrieb (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

[…]

Daikundi wird als eine relativ sichere Provinz erachtet (AAN 27.1.2019; vgl. KP 29.7.2018; TN 6.4.2018), wobei der Mangel an Infrastruktur ein großes Problem für die Bevölkerung darstellt (TN 6.4.2018; vgl. TN 15.11.2016). Im Juli 2018 wurde von einer Zunahme an Fällen von Gewalt gegen Frauen berichtet (KP 29.7.2018).

Die Taliban waren 2018 und im ersten Halbjahr 2019 in der Provinz aktiv, wobei ACLED in diesem Zeitraum insgesamt 21 bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Aufständischen und regierungsfreundlichen Kräften zählte. Die Vorfälle fanden hauptsächlich in den Distrikten Kejran, Gizab bzw. Pato und Nili statt (ACLED 12.7.2019). Gemäß einem Bericht vom März 2019 werden manche Gegenden in Pato von den Taliban kontrolliert (PAJ 30.3.2019).

Bewohner von Daikundi machten im April 2019 politische Parteien, bzw. „ungesunden“ Wettbewerb zwischen diesen größtenteils für die Unsicherheit in der Provinz verantwortlich. Politische Gruppierungen, welche Teil von Jihadistengruppen seien, versuchten demnach, schwächere Rivalen zu unterdrücken (PAJ 14.4.2019).

Ghani ordnete im Herbst 2018 die Errichtung eines militärischen Bataillons in Daikundi an (MENA FN 10.11.2018). Daikundi liegt im Verantwortungsbereich des 205. ANA Atal Corps (USDOD 6.2019; KP 3.8.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - South (TAAC-S) untersteht, welches von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

[…]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 70 zivile Opfer (44 Tote und 26 Verletzte) in der Provinz Daikundi. Dies entspricht einer Steigerung von 71% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von Kämpfen am Boden und Luftoperationen (UNAMA 2.2020).

Die Regierungskräfte führten 2018 und 2019 Operationen in Daikundi durch (z.B. KP 3.8.2019; MOD 29.6.2019; PAJ 27.12.2018). Die Taliban griffen beispielsweise Kontrollposten der Regierung im Distrikt Kejran an (AAN 27.1.2019; XI 28.6.2019; vgl. PAJ 28.6.2019).

Im Oktober 2018 kam es zu sicherheitsrelevanten Vorfällen; unter anderem interpretierten Beamte Taliban-Angriffe auf Kontrollposten im Distrikt Kejran und den Bombenanschlag Mitte Oktober 2018 als Versuch, die Anwohner von einer Beteiligung an der Parlamentswahl abzuhalten. Größere Angriffe dürften nach diesen Vorfällen nicht zustande gekommen sein, da die Taliban in Kejran erhebliche Verluste erlitten hatten (AAN 27.1.2019). Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2018 blieben Wahllokale in den Distrikten Kejran und Pato, die an Helmand und Uruzgan grenzen, angeblich aufgrund von Sicherheitsrisiken und einer möglichen Talibanpräsenz geschlossen (AAN 27.1.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind (Casolino 2011). In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten (USDOS 29.5.2018). Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht (REU 24.11.2018; vgl. USDOS 29.5.2018).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (APE 3.2017). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (APE 3.2017; vgl. UNAMA 22.2.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden (APE 3.2017).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht (USIP 3.2015).

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen (AA 2.9.2019). Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Was oft zu einer Diskriminierung von Frauen führte. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren (USDOS 11.3.2020). Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen (CR 11.2018). Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019, FH 4.2.2019). Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent (AA 2.9.2019).

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Obwohl die Verfassung das Recht auf öffentliche Prozesse vorsieht, finden nur in einigen Provinzen solche öffentlichen Prozesse statt. Auch verlangt das Gesetz von Richter/innen eine Vorankündigung von fünf Tagen vor einer Verhandlung. Nicht alle Richter/innen folgen diesen Vorgaben und viele Bürger beschwerten sich über Gerichtsverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten rechtzeitig über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt - sofern es die Ressourcen erlauben - sich auf öffentliche Kosten von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert (USDOS 11.3.2019).

Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten; weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden (USDOS 11.3.2020). Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land (CR 11.8.2018).

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzen (FH 4.2.2019). Ein Mangel an Richterinnen - insbesondere außerhalb von Kabul - schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019). Nichtsdestotrotz sind in Afghanistan 257 Richterinnen tätig (13% - insgesamt 2.029 Richterinnen und Richter) (USODS 13.3.2020). Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan (FMF 18.4.2019).

Sowohl Angeklagte, als auch deren Rechtsanwälte haben das Recht, vor den Verhandlungen Beweise und Dokumente im Zusammenhang mit den Verfahren zu prüfen. Nichtsdestotrotz sind Gerichtsdokumente trotz des Ersuchens der Verteidiger vor der Verhandlung oft nicht zur Prüfung verfügbar (USDOS 11.3.2020). Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen (FH 4.2.2019). Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive (USDOS 11.3.2020). Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürlichen Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden (FH 4.2.2019).

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (AA 2.9.2019). Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes (FH 4.2.2019; vgl. AA 2.9.2019). Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen (AJO 10.10.2017). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (ATL 9.3.2017; vgl. TN 22.4.2019). Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken (TN 22.4.2019). Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates (USDOD 6.2019).

Alternative Rechtsprechungssysteme:

Das formelle Justizsystem ist in urbanen Zentren stärker ausgeprägt, wo es näher an der Zentralregierung ist, jedoch schwächer in ländlichen Gebieten (USDOS 11.3.2020). In den Großstädten entschieden die Gerichte in Strafverfahren auch weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Zivilrechtsfälle werden oft durch informelle Systeme wie beispielsweise staatliche Mediation über das Huquq-Büro des Justizministeriums oder durch Verhandlungen zwischen den Streitparteien beigelegt: diese Mediationen werden von Gerichtspersonal oder privaten Rechtsanwälten geführt. Nachdem das formelle Rechtssystem in ländlichen Gebieten oft nicht vorhanden ist (USDOS 13.3.2019), nutzen Bewohner des ländlichen Raumes lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras (beratschlagende Versammlungen, normalerweise von Männern, die von der Gemeinde nominiert werden) und Jirgas häufiger als die städtische Bevölkerung (AF 4.12.2018; vgl. USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.2.2019). Diese Streitschlichtungsmechanismen werden sowohl bei kriminellen Vergehen, als auch bei zivilen Disputen, einberufen (USDOS 11.3.2020). In diesen Shuras oder Jirgas werden eine Mischung aus Varianten des staatlichen Rechts und der Scharia (islamisches Recht) angewandt (FH 4.2.2019). Es kommt insbesondere in paschtunischen Siedlungsräumen weiter auch zu traditionellen Formen privater Strafjustiz, bis hin zu Blutfehden (AA 2.9.2019).

Informelle Justizmechanismen werden von vielen Personen auch wegen ihrer schnelleren und meist weniger kostenintensiven Tätigkeit bevorzugt (AF 4.12.2018). Der Großteil der Bevölkerung hat unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe kein Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und die Justizorgane. Sie werden als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen, weshalb ihre Hilfe in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird (AA 2.9.2019; vgl. AF 4.12.2018). In entlegenen Gebieten Afghanistans macht es die zunehmende Kontrolle der Taliban der afghanischen Regierung beinahe unmöglich, Gerichte in Distrikten zu betreiben, in welchen die Taliban stark präsent sind (DW 15.3.2017).

Die Taliban haben ihr eigenes Rechtswesen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle eingerichtet (FH 4.2.2019). Die Parallelregierung der Taliban ist bei einigen Afghanen beliebt. So berichteten Bewohner in Logar über das Gerichtssystem der Gruppierung, dass es eine bessere, schnellere und weniger korrupte Justiz bietet als staatliche Gerichte. In zunehmendem Maße wenden sich Menschen an die Taliban, um Eigentums- und Familienstreitigkeiten beizulegen, da Richter und Staatsanwälte oft Bestechungsgelder verlangen (CBC 24.12.2018). Zusätzlich berichten Betroffene in Einzelfällen von unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Parallelsystem der Taliban; wie -z.B. im Falle eines Landdisputes in Helmand, in denen beide Seiten vor dem Taliban-Gericht angehört wurden und erst danach eine Entscheidung getroffen wurde (DW 15.3.20

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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