TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/8 W103 2219850-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.02.2021
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Entscheidungsdatum

08.02.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W103 2219850-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.12.2019, Zl. 733605205-180141571, zu Recht:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis VI. wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8, 10 Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wird gemäß §§ 28 Abs. 1 und 2 VwGVG iVm 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf sieben Jahre herabgesetzt wird.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Verfahren über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:

Dem Beschwerdeführer, einem damals minderjährigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 14.07.2004, Zahl 249262/0-XIV/08/04, nach den Bestimmungen des AsylG 1997 Asyl im Wege der Erstreckung zuerkannt.

Der Beschwerdeführer wurde in der Folge mehrfach wegen Vermögens- sowie Gewaltdelikten straffällig und strafgerichtlich verurteilt (vgl. dazu die Feststellungen).

2. Gegenständliches Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten:

2.1. Mit Aktenvermerk vom 29.01.2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten gegen den Beschwerdeführer aufgrund des Vorliegens eines Asylausschlussgrundes ein, wovon der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 20.03.2019 im Rahmen des Parteiengehörs in Kenntnis gesetzt worden ist. Der Beschwerdeführer wurde durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgefordert, binnen Frist u.a. bekannt zu geben, aus welchem Grund er zum Entscheidungszeitpunkt in der Russischen Föderation eine Gefährdung befürchte, außerdem wurde er zur Darstellung seiner privaten und familiären Situation sowie seines Gesundheitszustands aufgefordert.

Eine bezughandende Stellungnahme des Beschwerdeführers langte nicht ein.

2.2. Mit dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.05.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 03.05.2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend hielt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen fest, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsland einer Verfolgung oder sonstigen Gefährdungslage ausgesetzt sein würde. Dieser habe am Verfahren zur Feststellung, ob er internationalen Schutz noch benötige, nicht mitgewirkt und die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme nicht wahrgenommen. Er habe den Brief der Behörde zwar behoben, jedoch nicht auf diesen reagiert. Der Beschwerdeführer habe niemals eine asylrelevante Verfolgung vorgebracht, zumal er den Asylstatus nur im Familienverfahren erhalten hätte. Auf Grund der Länderberichte stehe fest, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt in Tschetschenien oder in einem anderen Teil der Russischen Föderation bestreiten können werde, zumal es sich beim Beschwerdeführer um einen jungen gesunden und arbeitsfähigen Mann handle, der die Sprache seines Herkunftsstaates spreche und mit der Kultur vertraut sei. Zudem könnte er seine familiären Bezugspersonen um Hilfe fragen. Es sei demnach nichts ersichtlich, das diesen in eine ausweglose Lage bringen würde. Der Beschwerdeführer sei mehrfach straffällig geworden und wegen Verbrechen und Vergehen zu mehreren Freiheitsstrafen verurteilt worden. Er stelle somit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit Österreichs dar, zumal er jeweils bereits nach kurzer Zeit rückfällig geworden wäre. Die Gesamtbeurteilung seines Verhaltens, seiner Lebensumstände sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte habe ergeben, dass die Erlassung des Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer gerechtfertigt und notwendig sei, die von ihm ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.

2.3. Gegen den oben angeführten Bescheid wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation mit Eingabe vom 29.05.2019 fristgerecht Beschwerde eingebracht, in welcher begründend zusammengefasst ausgeführt wurde, der Beschwerdeführer sei 2003 im Alter von zwei Jahren gemeinsam mit seiner Familie nach Österreich geflüchtet. Er sei in Österreich aufgewachsen, habe hier den Kindergarten und die Schule besucht und eine Lehre begonnen. Seine gesamte Familie lebe in Österreich. Über seinen Herkunftsstaat habe er keine Kenntnis, er habe dort weder familiäre noch soziale Anknüpfungspunkte. Der Beschwerdeführer pflege intensiven Kontakt mit seiner in Österreich aufhältigen Familie, welche ihn wöchentlich in der Justizanstalt besuche und ihn finanziell unterstütze. Der Beschwerdeführer spreche fließend Deutsch. Seine Straftaten würden aus jugendlichem Leichtsinn herrühren, zudem sei er suchtmittelabhängig gewesen. Er bemühe sich jedoch stets, sich zu bessern und habe daher bereits eine Anti-Aggressionstherapie und eine Entzugstherapie in Anspruch genommen. Er werde sich in Zukunft bemühen, einem geregelten Alltag nachzugehen und nicht mehr straffällig zu werden. Der Beschwerdeführer habe sich in Österreich ein soziales Umfeld aufgebaut und sei gut integriert. Eine Rückkehrentscheidung erweise sich daher als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 EMRK. Es könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen würde, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSd Art. 3 EMRK unterworfen zu werden. Bei einer Rückkehr würde dieser in eine aussichtslose und existenzbedrohende Notlage geraten. Die gegen den Beschwerdeführer erlassene Rückkehrentscheidung und das zehnjährige Einreiseverbot würden einen massiven Eingriff und eine schwere Verletzung des schützenswerten Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers darstellen.

2.4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 07.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.5. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.09.2019 wurde der dargestellte Bescheid vom 07.05.2019 gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei im gegenständlichen Verfahren im Vorfeld der Bescheiderlassung weder einvernommen worden, noch habe die Behörde (erkennbar) Einsicht in die ursprünglichen Gründe für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten genommen. Ebensowenig habe die Behörde hinreichende Ermittlungen zur konkreten privaten und familiären Situation sowie den vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten getroffen. Dem angefochtenen Bescheid fehle die Nachvollziehbarkeit dahingehend, aufgrund welchen konkreten Tatbestandes die Aberkennung des Status des Asylberechtigten erfolgt sei, wodurch eine nachprüfende gerichtliche Kontrolle verunmöglicht werde.

Ebensowenig seien im gegenständlichen Verfahren taugliche Ermittlungen zur aktuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers getroffen worden. Soweit die Behörde begründend darauf Bezug nehme, dass der Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten ursprünglich im Familienverfahren zuerkannt bekommen und demnach nie eine asylrelevante Gefährdung vorgebracht hätte, sei festzuhalten, dass der Bescheid über die Zuerkennung des Asylstatus an den Beschwerdeführer nicht im Verwaltungsakt einliege und auch im angefochtenen Bescheid nicht näher dargestellt werde, sodass es auch hier an Nachvollziehbarkeit über die Gründe, welche ursprünglich zur Asylgewährung geführt haben, fehle. Dem Bescheid ließe sich auch nicht entnehmen, von wem der Beschwerdeführer seinen Status ursprünglich abgeleitet hat und aus welchem Grund die Zuerkennung des Status an das Familienmitglied des Beschwerdeführers ursprünglich erfolgt sei. Demnach fehle es auch an einer Beurteilungsgrundlage für die Frage, ob dem Beschwerdeführer allenfalls in Zusammenhang mit den ursprünglichen Gründen der Zuerkennung des Asylstatus an seine Bezugsperson im Falle einer Rückkehr eine Gefährdung drohen könnte. Ebensowenig sei der Beschwerdeführer zu allfälligen neu entstandenen Rückkehrbefürchtungen einvernommen worden.

Die Behörde stütze das Vorliegen eines (nicht näher spezifizierten) Aberkennungstatbestandes sowie das Nichtvorliegen eines sonstigen Rückkehrhindernisses im Sinne von § 8 Abs. 1 AsylG 2005 im Wesentlichen auf ein vom Beschwerdeführer unbeantwortet gebliebenes schriftliches Parteiengehör des Bundesamtes. Dies könne jedoch als Ermittlungsgrundlage für eine Aberkennung des Status des Asylberechtigten und Erlassung einer mit einem zehnjährigen Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung gegen den seit seinem dritten Lebensjahr im Bundesgebiet aufhältig gewesenen Beschwerdeführer keinesfalls als ausreichend erachtet werden. Weder im Zuge der Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung, noch im Zuge der Bemessung des Einreiseverbotes sei von der Behörde eine Auseinandersetzung mit den konkreten Straftaten des Beschwerdeführers vorgenommen worden. Wenn auch eine amtswenige Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich ergeben habe, dass der Beschwerdeführer als Jugendlicher wiederholt straffällig geworden sei und die begangenen Taten ihrem Unrechtsgehalt nach nicht zu verharmlosen seien, entbinde dieser Umstand die Behörde nicht davon, einzelfallspezifische Feststellungen zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers zu treffen und aufzuzeigen, weshalb im konkreten Fall allenfalls ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung vorliege.

Der angefochtene Bescheid der belangten Behörde und das diesem zugrunde liegende Aberkennungsverfahren seien im Ergebnis daher so mangelhaft, dass die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde geboten erscheine, wobei sich im konkreten Fall erst nach einem nachvollziehbaren Ermittlungsverfahren ergeben werde, ob im vom Bundesamt eingeleiteten Aberkennungsverfahren die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 AsylG 2005 tatsächlich vorliegen und die (allfällige) Erlassung eines neuen Bescheides zulassen.

2.6. Am 26.09.2019 wurde der Beschwerdeführer im fortgesetzten Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab zusammengefasst an, seine Muttersprache sei Tschetschenisch, außerdem spreche er fließend Deutsch und recht gut Englisch. Er befinde sich in der Suchtberatung und mache eine Anti-Aggressionstherapie, ansonsten sei er gesund. Der Beschwerdeführer sei in XXXX geboren worden und wisse nicht mehr genau, wann er nach Österreich gekommen sei, es sei etwa im Jahr 2003 gewesen. Er habe in Österreich den Kindergarten, die Volksschule, die Hauptschule sowie ein Polytechnikum besucht. Nach der Pflichtschulzeit sei er lange, etwa bis August 2018, arbeitslos gewesen. Von Dezember 2017 bis Juli 2018 habe er sich in Haft befunden. Danach habe er als Hilfsarbeiter/Tellerwäscher gearbeitet, bis er eine Lehrstelle als Maurer gefunden habe. Dann sei leider wieder eine Haftstrafe dazwischengekommen. Im Heimatland würden sich noch seine Großmutter, zwei Onkeln und eine Tante väterlicherseits sowie diverse Verwandte mütterlicherseits aufhalten, mit denen er ab und zu Kontakt habe. Über die Situation im Heimatland hätte er mit seinen Angehörigen nicht gesprochen. Zu seinen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in sein Heimatland führte der Beschwerdeführer aus, er müsse sich dort eine neue Zukunft aufbauen. Der Beschwerdeführer sei seit 17 Jahren in Österreich und sehe seine Zukunft hier. Er könne zwar gut Tschetschenisch, aber nicht fließend. Seine größte Angst wäre, dass er komplett von vorne eine Zukunft aufbauen müsse. Ob er nach einer Rückkehr konkrete Verfolgungshandlungen zu befürchten hätte, könne er nicht sagen, er wisse nicht viel über Tschetschenien. Von einer konkreten Gefahr wisse er nicht. Soweit er wisse, habe er im Heimatland auch sonst keine Gefährdungslage zu erwarten.

In Österreich habe er erfolgreich die Pflichtschule absolviert, später habe er eine Lehrstelle gefunden, sei jedoch drei Wochen nach deren Beginn abermals wegen Körperverletzungsdelikten verhaftet worden. Vor seiner Lehre sei er wegen Suchtgiftdelikten im Gefängnis gewesen. Seine Eltern, seine beiden Brüder und seine Schwester würden in Österreich leben. Der Beschwerdeführer wohne noch bei seinen Eltern und habe sonst keine Verwandten oder besondere private Anbindungen. Seine gesamte Familie besitze den Asylstatus. Der Beschwerdeführer habe sieben Jahre lang Fußball in einem Verein gespielt. Das Wichtigste sei für ihn, bei seiner Familie bleiben zu können. Er wolle sich bessern, die Suchtberatung und Antiaggressionstherapie wieder fortsetzen und seine Zukunft besser angehen. Seine Taten bereue er.

2.7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.12.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 03.05.2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, der Beschwerdeführer sei strafgerichtlich angefallen sei und unter anderem wegen Nötigung, schwerer Nötigung, Raub, Raufhandel, Betrug, Diebstahl, unbefugtem Gebrauch von Fahrzeugen, Sachbeschädigung, schwerer Sachbeschädigung, Diebstahl durch Einbruch oder mit Waffen, Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, absichtlicher schwerer Körperverletzung und Suchtgifthandel rechtskräftig verurteilt worden. Der Beschwerdeführer hätte im Fall seiner Rückkehr keine Gefährdungslage zu befürchten. Eine aktuelle oder individuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen können, zumal er im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt diesbezüglich nur angeführt hätte, dass er sich im Heimatland eine neue Zukunft aufbauen müsste. Eine seine Person betreffende Gefährdungslage habe er hingegen nicht vorgebracht. Dem Aberkennungsbescheid seines Vaters vom 24.09.2019 ließe sich entnehmen, dass auch dieser keiner Gefährdung mehr im Heimatland unterliege, zumal eine Verfolgung ehemaliger Widerstandskämpfer nicht mehr stattfände. Dem Beschwerdeführer sei der Status des Asylberechtigten demnach gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 abzuerkennen gewesen, da die Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden wäre, nicht mehr bestehen würden und sohin ein in der GFK genannter Endigungsgrund eingetreten sei.

Dieser könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Der Beschwerdeführer sei jung, gesund und könnte den Lebensunterhalt zunächst durch Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten bestreiten, umso mehr er die tschetschenische Sprache beherrsche und mit der dortigen Kultur vertraut sei. Der Beschwerdeführer hätte noch Verwandte im Heimatland und könnte zudem durch seine in Österreich lebende Familie unterstützt werden. Der Beschwerdeführer leide an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und es lägen in der Russischen Föderation keine derart exzeptionellen Umstände vor, die auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage hindeuten würden.

Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 hätten sich im Verfahren nicht ergeben. Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dieser spreche Deutsch, ginge derzeit keiner Arbeit nach und habe Verwandtschaft in Österreich. Eine maßgebliche Einbindung in die österreichische Gesellschaft habe dieser nicht ersichtlich gemacht und eine Abwägung führe zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Beendigung seines Aufenthaltes aufgrund seiner kontinuierlichen schwerwiegenden Straffälligkeit dessen persönliche Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Das Verhalten des Beschwerdeführers stelle eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.

Zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbotes wurde auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers verwiesen, welche klar zeigen würden, dass dieser nicht gewillt sei, sich an die österreichischen Gesetze zu halten und ein weiterer Aufenthalt mit einer schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einherginge.

2.8. Mit handschriftlicher Eingabe vom 20.12.2019 brachte der Beschwerdeführer die verfahrensgegenständliche Beschwerde ein, in welcher er begründend ausführte, er hätte im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Angst um sich und um seinen Vater. Der Beschwerdeführer sei in Österreich wegen Drogendelikten im Gefängnis gesessen; Drogen seien in Tschetschenien strengstens verboten und es käme in diesem Zusammenhang auch zu Folter von Personen. Der Beschwerdeführer habe sich in Österreich eine Zukunft aufgebaut, er habe hier die Pflichtschule absolviert, als Tellerwäscher gearbeitet und eine Lehre als Maurer begonnen, welche er wegen der Haft nicht beenden konnte. Der Beschwerdeführer sei 18 Jahre alt und werde eine Suchtberatung und Antiaggressionstherapie absolvieren, um nicht mehr rückfällig zu werden. Der Beschwerdeführer bitte darum, von einer Abschiebung abzusehen, da er in Tschetschenien nichts hätte und dort eine neue Zukunft aufbauen müsste. Der Beschwerdeführer beherrsche seine Muttersprache nicht fließend und könne auch kein Russisch. Der Beschwerdeführer bereue seine Taten und werde sich bessern. Er ersuche um eine weitere Chance und um eine Anhörung.

2.9. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 07.01.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.10. Am 04.02.2021 langte ein Abschlussbericht das Stadtpolizeikommandos XXXX an die STA XXXX ein, woraus hervorgeht, das der BF am 13.01.2021 in der JA XXXX einen Mithäftling zwei Faustschläge versetzt hat und Anzeige wegen des Verdacht auf Körperverletzung erstattet wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2003 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzliche Vertreterin am 11.02.2003 einen Antrag auf Asylerstreckung, dem mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 03.05.2004, rechtskräftig am 14.07.2004 stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung (bezogen auf das Verfahren seines Vaters) in Österreich Asyl gewährt wurde.

Der Status des Asylberechtigten des Vaters des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.10.2020 aberkannt, nachdem die Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden war, nicht mehr bestehen und dieser ebenfalls wiederholt straffällig wurde. Der Vater des Beschwerdeführers unterliegt zum Entscheidungszeitpunkt keiner Gefährdung mehr im Herkunftsstaat.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist aufgrund der Angehörigeneigenschaft zu seinem Vater keiner Verfolgung durch die Behörden seines Herkunftsstaates ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat den Herkunftsstaat im Kindesalter verlassen, war nie einer individuellen Verfolgung ausgesetzt und hat im nunmehrigen Verfahren keine substantiierten Befürchtungen für den Fall seiner Rückkehr geäußert.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau und hat nach wie vor familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, von deren Seite er im Bedarfsfall Unterstützung erfahren könnte. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter von zwei Jahren verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen.

1.3. Der Beschwerdeführer weist die folgenden rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen auf:

XXXX § 15 StGB §§ 105 (1), 106 (1) Z1 StGB

§ 142 (1) StGB

§ 91 (2) StGB

§ 146 StGB

§ 127 StGB

Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Geldstrafe von 360 Tags zu je 4,00 EUR (1.440,00 EUR) im NEF 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Anordnung der Bewährungshilfe

Jugendstraftat

2.        XXXX

§ 136 (1) StGB

§§ 125, 126 (1) Z 1 StGB

Geldstrafe von 150 Tags zu je 4,00 EUR (600,00 EUR) im NEF 75 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Jugendstraftat

XXXX §§ 127, 129 (1) Z 1 und 2 StGB, § 15 StGB

Geldstrafe von 210 Tags zu je 4,00 EUR (840,00 EUR) im NEF 105 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Jugendstraftat

XXXX § 127 StGB

….

Keine Zusatzstrafe

XXXX §28a (1) 5. Fall SMG

Freiheitsstrafe 3 Monate

Jugendstraftat

XXXX § 83 (1) StGB

§ 15 StGB §§ 83 (1), 84 (2) StGB

§ 87 (1) StGB

Freiheitsstrafe 20 Monate

Jugendstraftat

XXXX § 28a Abs. 1 SMG

Freiheitsstrafe 3 Monate

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Gebiet der Mitgliedstaaten würde eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen, zumal auf Grundlage seines bisher gesetzten Verhaltens die Gefahr einer neuerlichen Straffälligkeit zu prognostizieren ist.

1.4. Der ledige und kinderlose Beschwerdeführer hat sich während seines langjährigen Aufenthaltes Deutschkenntnisse angeeignet und hier die Pflichtschule absolviert. Nach Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Strafhaft, hat der Beschwerdeführer im September 2018 einige Tage als Tellerwäscher gearbeitet und im Oktober 2018 eine Lehre als Maurer begonnen, die er aufgrund einer neuerlichen Haftstrafe nach etwa drei Wochen abbrach. Eine nachhaltige Integration am österreichischen Arbeitsmarkt ist nicht erfolgt. Der Beschwerdeführer hat außerhalb seiner Herkunftsfamilie keine engen Bindungen zur österreichischen Gesellschaft aufgebaut und auch sonst keine maßgebliche Bemühung um eine Integration erkennen lassen. Der Beschwerdeführer befand sich von 14.12.2017 bis XXXX in Strafhaft und ist seit 19.10.2018 neuerlich in Justizhaft.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

-        BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

-        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

-        US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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