Entscheidungsdatum
11.02.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs3Spruch
W282 2227566-1/35E
SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 26.01.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Florian KLICKA, BA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger des Kosovo, vertreten durch RAST & MUSLIU Rechtsanwälte gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2019, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.01.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise in Spruchpunk IV. des angefochtenen Bescheides drei Monate beträgt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Wesentliche Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der am XXXX 1982 geborene Beschwerdeführer (BF) ist Staatsangehöriger der Republik Kosovo und hält sich seit Juni 2015 im Bundesgebiet auf. Der BF reiste mit einer Aufenthaltsbewilligung „Student“, die von XXXX 2015 bis XXXX 2016 gültig war ins Bundesgebiet ein, um dem Studium der deutschen Philologie nachzugehen. Die Aufenthaltsbewilligung „Student“ wurde dem BF von der Magistratsabteilung 35 der Stadt Wien (MA 35) im Juli 2016 bis XXXX 2017 verlängert. Am 12.09.2016 hat der BF einen Zweckänderungsantrag auf eine Aufenthaltsbewilligung „Künstler“ gestellt. Die MA35 ersuchte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, RD Wien (Bundesamt) mehrmals über einen Zeitraum von zwei Jahren um eine entsprechende fremdenpolizeiliche Stellungnahme, ohne dass seitens des Bundeamtes eine Antwort erfolgte.
2. Erst Mitte 2018 teilte das Bundesamt schließlich der MA 35 mit, dass keine Bedenken bestünden. In Folge wurde von der MA 35 zuständigkeitshalber das Arbeitsmarktservice (AMS) mit dem Antrag des BF befasst. Mit Bescheid des AMS Wien von XXXX 2018 wurde der Antrag für die Aufenthaltsbewilligung „Künstler“ des BF abgewiesen. Hiergegen wurde vom BF eine Beschwerde eingebracht, die in einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung des AMS Wien vom XXXX 2018 mündete, welche in Folge über fristgerechten Vorlageantrag dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurde. Diese Beschwerde wurde jedoch in Folge am 05.03.2019 vom damaligen Rechtsvertreter der BF (RV) zurückgezogen.
3. Gleichzeitig hat der BF beim Bundesamt - ebenfalls am 05.03.2019 - einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005 gestellt. Zum Zeitpunkt der Antragstellung war aufgrund der Beschwerderückziehung hinsichtlich des Bescheides des AMS kein Verfahren nach dem NAG anhängig. Ohne dass ein erkennbares Ermittlungsverfahren - mit Ausnahme eines Aktenvermerks - seitens des damals verfahrensführenden Referenten des Bundesamtes erfolgte, wurde der BF für 19.04.2019 zur Ausfolgung des beantragten Aufenthaltstitels geladen. Aufgrund Entdeckung erheblicher „Unregelmäßigkeiten“ in gleichartigen Verfahren dieses Referenten durch die Leitung der Regionaldirektion Wien der belangten Behörde, wurde die Ausfolgung der Aufenthaltstitelkarte an den BF gestoppt, das Verfahren besagtem Referenten entzogen, dieser strafrechtlich wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs zur Anzeige gebracht und das Verfahren einem anderen Referenten zur Verfahrensführung zugewiesen. Gegen den BF wurde zu keinem Zeitpunkt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren in diesem Zusammenhang geführt.
4. Am 16.07.2019 wurde der BF in Anwesenheit seines zwischenzeitig gewechselten Rechtsvertreters zu seinem Antrag vor dem Bundesamt einvernommen. Mit angefochtenem Bescheid vom XXXX 2019, Zl.: XXXX , hat das Bundesamt den Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Kosovo zulässig ist (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
5. Der angefochtene Bescheid wurde dem (damaligen) RV des BF am 19.12.2019 zugestellt.
6. Der (damalige) RV des BF hat in dessen Vertretung am 13.01.2020 gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde erhoben. In der Beschwerde führt dieser aus, der Bescheid werde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts und Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten.
7. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 16.01.2020 vom Bundesamt vorgelegt. Mit Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses vom 04.03.2020 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung G307 abgenommen und der Gerichtabteilung W282 neu zugewiesen.
8. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25.08.2020 unter Verweis auf VwGH vom 30.06.2016, Ra 2016/11/0044 die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen, weil in der Beschwerde kein konkretes Begehren auf Sachentscheidung enthalten war. Über die gegen diesen Beschluss erhobene a.o. Revision vom 07.10.2020 hat der VwGH den in Revision gezogenen Beschluss mit Erkenntnis vom 21.10.2020, Zl. Ra 2020/21/0420 aufgehoben und ausgesprochen, dass in der in Rede stehenden Beschwerde ausreichende Anzeichen vorhanden sind, dass damit eine Sachentscheidung des Verwaltungsgerichts begehrt worden wäre.
9. Am 26.01.2020 fand im zweiten Rechtsgang eine mündliche Verhandlung statt, an der der BF, sein RV, sowie ein Vertreter des Bundesamtes teilnahm. Im Rahmen der Verhandlung wurden der BF als Partei sowie seine Schwester als Zeugin und sein Schwager als Zeuge einvernommen. Im Anschluss an die Verhandlung wurde das Erkenntnis zu W 282 2227566-1/33Z mündlich verkündet.
10. Am 08.02.2021 lange ein Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses ein.
II. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Aufenthalt
Der am XXXX 1982 geborene ledige und gesunde BF ist Staatsangehöriger der Republik Kosovo und hält sich seit Juni 2015 im Bundesgebiet auf. Der BF hat sich bis zu seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr im Kosovo aufgehalten, er hat dort seine Schulpflicht absolviert, eine Ausbildung zum Pianisten gemacht und war im Kosovo als Pianist, im Baugewerbe und als Schaffner berufstätig.
Der BF reiste mit einer Aufenthaltsbewilligung „Student“, die von XXXX 2015 bis XXXX 2016 gültig war ins Bundesgebiet ein, um dem Studium der deutschen Philologie nachzugehen. Die Aufenthaltsbewilligung „Student“ wurde dem BF von der Magistratsabteilung 35 der Stadt Wien (MA 35) im Juli 2016 bis XXXX 2017 verlängert. Der BF hat das Bachelorstudium der deutschen Philologie inskribiert aber keine Lehrveranstaltungen des Curriculums positiv abgeschlossen bzw. keinerlei Prüfungen absolviert. Der BF litt von September 2017 bis ungefähr April/Mai 2018 an erhöhten bzw. schlechten Schilddrüsenwerten. Er war in diesem Zeitraum von 06.10.2017 bis 31.12.2018 weiter in Teilzeit berufstätig.
Am 12.09.2016, somit nach 1,5 Jahren Aufenthalt im Bundegebiet, hat der BF bei der MA 35 einen Zweckänderungsantrag auf eine Aufenthaltsbewilligung „Künstler“ gestellt, um eine Vollzeitstelle als Pianist auszuüben. Das mit dem Antrag befasste Arbeitsmarktservice (AMS) hat diesen Antrag mit Bescheid vom XXXX 2018 mit der Begründung abgewiesen, der BF könne nicht ausreichend qualifizierte Berufserfahrung nachweisen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Beschwerdevorentscheidung des AMS vom XXXX 2018 abgewiesen und darin wiederholt ausgeführt, der BF habe keine Nachweise über seine Berufserfahrung und eine ausreichende Qualifikation als Pianist vorgelegt. Der BF habe u.a. nur Nachweise über eine Tätigkeit in einem kosovarischen Volksmusikverein vorgelegt, diese Tätigkeit sei aber nicht mit der angestrebten Tätigkeit im einem Orchester zu vergleichen.
Der BF hat durch seinen damaligen RV gegen diese Beschwerdevorentscheidung einen Vorlangeantrag an das BVwG gestellt. Mit Schriftsatz vom 05.03.2019 wurde diese Beschwerde vom RV zurückgezogen und ist noch am selben Tag vom BF persönhlich beim Bundesamt der ggst. Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. 55 AsylG 2005 eingebracht worden.
Im Bundesgebiet halten sich die Schwester des BF mit ihrem Ehemann und ihren 2 Kindern auf. Der BF pflegte zu seinen Neffen und seiner Schwester und seinem Schwager vor der Pandemiesituation mehrmals die Woche intensiven Kontakt und übernachtete an den Wochenenden in der Wohnung der Schwester. Ein gemeinsamer Haushalt besteht jedoch erst durch die Pandemiesituation, da der BF aus Sicherheitsgründen im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkungen überwiegend in der Wohnung der Schwester verbleiben möchte. Der BF verfügt über eine eigene Wohnung in Wien 3, diese wird ihm kostenfrei von Verwandten gestellt. Der BF passt auch ab und an auf die Kinder seiner Schwester auf, wenn seine Schwester und sein Schwager beschäftigt sind. Der BF bringt die Kinder seiner Schwester öfters ins Bett, wenn er in der Wohnung der Schwester übernachtet. Der BF wäscht seine Wäsche gelegentlich bei seiner Schwester, sonst in seiner Wohnung.
Weiters halten sich Cousins sowie Cousinen des BF im Bundesgebiet auf. Der Vater des BF und der Bruder des BF leben im Kosovo. Der BF hat zu seinem Bruder sporadischen Kontakt, zu seinem Vater hat er nach einem Familienstreit keinen Kontakt mehr.
Neben seiner Muttersprache Albanisch verfügt der BF über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau B2, er hat diese Kenntnisse im Rahmen eines Vorstudienlehrgangs für das Studium der deutschen Philologie erworben. Darüber hinaus ist der BF in sozialen sowie gesellschaftlichen Belangen durchschnittlich integriert. Der BF spielt in einem Fußballverein in der Seniorenmannschaft Fußball und ist dort auch als Trainer aktiv. In wirtschaftlicher Hinsicht ist der BF ebenfalls durchschnittlich integriert. Der BF w2ar von 22.10.2015 - 01.05.2017, von 06.10.2017 - 31.12.2018 und von 01.01.2019 - 22.02.2019 geringfügig als Ticketverkäufer bei demselben Unternehmen erwerbstätig. Von 15.04.2019 - 16.03.2020 war der BF dort Angestellter. Es liegt für den BF ein Dienstvorvertrag jenes Unternehmens vor, das dem BF die Vollzeitstelle im Jahr 2016 angeboten hatte, für die der BF aber keine Niederlassungsbewilligung erhielt.
Der BF ist im Juni 2015 Bundesgebiet mit der überwiegenden Absicht eingereist, sich in der Nähe seiner Schwester aufhalten zu können, sowie um im Bundesgebiet dauerhaft zu leben und zu arbeiten, das Studium war hingegen nicht der vorwiegende Einreisegrund. Der BF hatte somit bei seiner Einreise auch die Absicht sich dauerhaft im Bundesgebiet niederzulassen.
1.2 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Kosovo
Dem BF droht im Falle einer Rückkehr nach Kosovo weder asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) noch eine Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK.
1.3 Zur maßgeblichen Situation im Kosovo
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Kosovo vom 11.05.2020:
Sicherheitslage
Ethische Spannungen konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Beziehungen zwischen der serbischen Minderheit und der albanischen Mehrheit. Zu differenzieren sind dabei die Beziehungen zu den im Norden in einem zusammenhängenen Gebiet lebenden Serben und jenen Serben, die im restlichen Kosovo in kleineren versprengten Gemeinden wohnen. Letztere unterhalten relativ gute Beziehungen zu den kosovo-albanischen Autoritäten und beteiligen sich an der gesellschaftspolitischen Ausgestaltung im Rahmen der kosovarischen Institutionen. Ganz anders ist hingegen die Situation im Nordkosovo. Die hier lebenden Serben weigern sich, die Unabhängigkeit des Kosovo und zum Teil die Institutionen des neu geschaffenen Staates anzuerkennen. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Zusammenarbeit. Besonders problematisch sind speziell Fragen der Grenze zwischen dem Kosovo und Serbien, zumal diese von den im Norden lebenden Serben nicht anerkannt wird (GIZ 9.2018a). Somit bleibt die Lage im Norden des Kosovo (Gemeinden Zubin Potok, Leposavic, Zvecan und Nord-Mitrovica) angespannt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es auch künftig zu isolierten sicherheitsrelevanten Vorkommnissen kommt, die die allgemeine Bewegungsfreiheit einschränken (AA 2.5.2020).
Mit der Ausnahme des Nordkosovo gilt die Sicherheitslage allgemein als entspannt. Allerdings kann es zu punktuellen Spannungen kommen (GIZ 9.2018a).
In Pristina und anderen Städten des Landes kann es gelegentlich zu Demonstrationen und damit zu einer Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit kommen. In allen anderen Landesteilen Kosovos ist die Lage grundsätzlich ruhig und stabil. Teilweise gewalttätige Protestaktionen der Opposition gegen die Regierung haben sich seit dem ersten Halbjahr 2016 nicht mehr ereignet, das Potential für solche Proteste besteht aber weiterhin (AA 2.5.2020).
Eine Studie des angesehenen Kosovo Center for Security Studies zum Sicherheitsgefühl der Kosovaren aus dem Jahr 2018 ergab, dass sich 85,5% der Befragten in ihrem Zuhause (Wohnung, Haus), 78,8% in ihrer Stadt und 52,4% im Kosovo sicher fühlten. Albanische und nicht-serbische Minderheitenangehörige fühlen sich im Kosovo sicherer als Serben (KCSS 7.2019).
Grundversorgung
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Das Warenangebot entspricht in der Auswahl (nicht immer in der Qualität) westeuropäischen Standards. Die Sozialhilfe bewegt sich auf niedrigem Niveau. Sozialleistungen reichen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum aus. Das wirtschaftliche Überleben sichert in der Regel zum einen der Zusammenhalt der Familien, zum anderen die im Kosovo ausgeprägte zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft. Im Jahr 2017 erhielten 26.111 Familien bzw. 106.649 Personen Sozialhilfe (AA 21.3.2019).
Obwohl das Wirtschaftswachstum des Kosovo in den letzten zehn Jahren besser war als das seiner Nachbarn und weitgehend integrativ, reichte es nicht aus, um genügend formelle Arbeitsplätze, insbesondere für Frauen und Jugendliche, bereitzustellen oder die hohen Arbeitslosenquoten deutlich zu senken. Das Wachstumsmodell stützt sich in hohem Maße auf Überweisungen, um den Binnenkonsum anzukurbeln, hat sich aber in jüngster Zeit auf ein stärker investitions- und exportgetriebenes Wachstum verlagert (WB o.D.).
Die kosovarische Wirtschaft wuchs in der Zeit nach der globalen Finanzkrise beständig über dem Durchschnitt des Westbalkans, wenn auch von einer niedrigen Basis aus. Das Pro-Kopf-BIP stieg von 1.088 US-Dollar im Jahr 2000 auf 4.458 US-Dollar im Jahr 2019. Trotz dieses Anstiegs des Pro-Kopf-Einkommens in den letzten 20 Jahren ist das Kosovo gemessen am Pro-Kopf-BIP nach wie vor das drittteuerste Land in Europa. Das jährliche Wachstum wird auf vier Prozent geschätzt, angetrieben durch den Konsum, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich, und durch Dienstleistungsexporte. Das Leistungsbilanzdefizit fiel von 7,6% des BIP im Jahr 2018 auf 5,5% im Jahr 2019, da sich das Importwachstum verlangsamte. Die Erwerbsbeteiligung ist mit durchschnittlich 40,5% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Jahr 2019 nach wie vor chronisch niedrig. Die Arbeitslosenquote sank um 3,9 Prozentpunkte auf 25,7%. Die Staatsverschuldung ist gering, hat aber in den letzten Jahren rasch zugenommen. Die öffentliche und staatlich garantierte Verschuldung wird für Ende 2019 auf 17,7% des BIP geschätzt und ist damit die niedrigste auf dem Westbalkan, was dem Land Raum für die Aufnahme von Krediten zu Vorzugsbedingungen für produktive Investitionen mit einer hohen Rendite bietet. Der von den Banken dominierte Finanzsektor im Kosovo ist gesund und solide. Sowohl Kredite als auch Einlagen nahmen weiter zu (WB 2020).
Die kosovarische Wirtschaft leidet an einer unzureichenden Infrastruktur. Während es in den letzten Jahren zwar deutliche Verbesserungen hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur, v.a. beim Ausbau des Autobahnnetzes gegeben, hat, stellt die instabile Energieversorgung weiterhin ein schwerwiegendes Entwicklungsproblem dar. Problematisch ist auch die politische Instabilität mit häufigen Regierungswechseln und fehlender entwicklungsorientierter Wirtschaftspolitik. Das Wirtschaftssystem weist klare Charakteristika politischer Patronage auf, mit der Dominanz des öffentlichen Sektors. Dazu gehören einerseits die öffentliche Verwaltung, in der - basierend auf einer parteipolitisch motivierten Personalpolitik - extrem hohe Gehälter bezahlt werden, und andererseits ineffiziente, politisch kontrollierte öffentliche Unternehmen bei gleichzeitig schleppend voranschreitender Privatisierung. Hinzu kommt ein schwacher Rechtsstaat mit einer schwachen und politisierten Justiz und Polizei, teils kriegsbedingt noch immer unklaren Eigentumsverhältnissen, der mangelnden auch wirtschaftlichen Kontrolle über Teile des kosovarischen Territoriums, in erster Linie der vier mehrheitlich serbisch bewohnten Gemeinden im Norden, sowie das Problem grassierender, systematischer Korruption (GIZ 3.2020c). Vor diesem Hintergrund blüht weiterhin ein substantieller informeller Wirtschaftssektor, welcher marktwirtschaftliche Regeln unterläuft, Arbeiterrechte und den Sozialstaat aushöhlt. Die EU-Kommission schätzte 2019 den Anteil der Schattenwirtschaft am Bruttosozialprodukt auf 30%. Das extreme Handelsbilanzdefizit macht Kosovo in hohem Maße von ausländischer Hilfe und Überweisungen abhängig. Der Anteil der informellen Wirtschaftsleistung ist immens – schätzungsweise zwischen 27% und 45%. Weitere Probleme sind die unzureichende Infrastruktur (Energie, Wasser und Verkehr), ungelöste rechtliche Verhältnisse, mangelnde Transparenz, Korruption, Kriminalität, etc. (GIZ 3.2020c).
Kosovos Arbeitslosenquote belief sich laut nationalem Statistikamt im Jahr 2019 auf 25,70% (gegenüber 29,60% im Jahr 2018). Dies ist der geringste Wert, der seit zwanzig Jahren gemessen wurde (CEIC 2.4.2020; vgl. WB 2020). Trotzdem bleibt die Arbeitslosigkeit mit einer Zahl von ca. 130.000 Unbeschäftigten Ende 2019 eines der zentralen Probleme. Der Arbeitsmarkt im Kosovo ist geprägt durch eine niedrige Erwerbsbeteiligung (Beschäftigungsqoute Ende 2019: 30,7%), ein hohes Maß an langfristiger Arbeitslosigkeit (über 70% aller Arbeitslosen) und Jugendarbeitslosigkeit (Jugendarbeitslosigkeitsquote 2019, Q4: 49,1%) sowie durch erhebliche Genderdisparitäten (Frauenbeschäftigungsquote 2016, Q4: 22,4%, gegenüber einer Männerbeschäftigungsquote von 60,2%). Im Kosovo existiert allerdings ein sehr ausgedehnter informeller, nicht von der Statistik erfasster Sektor, welcher z. B. einen Großteil der Frauen umfasst, die in Subsistenzwirtschaften Leistungen im Agrarsektor erbringen. Folgen der Informalität sind Einnahmeeinbußen bei den Sozialabgaben sowie ein Mangel an sozialer und arbeitsrechtlicher Absicherung der Arbeitnehmer. Eine staatliche Arbeitslosenversicherung existiert im Kosovo nicht. Jährlich drängen ungefähr 36.000 junge Arbeitssuchende neu auf den Arbeitsmarkt, von denen nur ein geringer Teil absorbiert werden kann. Für die überwiegende Mehrheit bleibt daher eine der folgenden Optionen: (weiterführende) Aus- und Weiterbildung, Studium, Arbeitslosigkeit, informelle Beschäftigung oder Migration. Etwa ein Drittel aller jungen Kosovaren geht weder einer Schulbildung, Ausbildung oder Beschäftigung nach. Die Arbeitgeber bemängeln, dass der Ausbildungsstand der jungen Kosovaren nicht den Bedürfnissen der Unternehmen nach qualifizierten Arbeitskräfte entspricht. Hieraus resultiert das Paradoxon der Gleichzeitigkeit von hoher Arbeitslosigkeit und unbesetzter Arbeitsstellen. Ein weiteres Problem ist, dass die ökonomischen und sozialen Statistikdaten immer noch unvollständig und Teils von mangelnder Qualität sind, was sowohl die Bewertung der effektiven Wirtschaftsentwicklung beeinträchtigt als auch die wirtschafts- und sozialpolitische Planung (GIZ 3.2020c).
Etwa 18% der kosovarischen Bevölkerung leben in absoluter Armut (täglich verfügbares Einkommen geringer als € 1,72) und 5,2% in extremer Armut (€ 1,20). Obwohl die einzelnen Studien und Armutsberichte nicht direkt vergleichbar sind, gibt es Hinweise dafür, dass sich das Ausmaß der Armut im Kosovo in den letzten zehn Jahren leicht reduziert hat. Armutsgefährdung korreliert stark mit Ethnizität (insbesondere die Gruppen der RAE (Roma, Ashkali, Ägypter) – Minderheiten sind von Armut überproportional stark betroffen), Alter (Kinder), Bildung (Geringqualifizierte), Geographie und Haushaltsgröße (große Familien, sowie Familien mit weiblichem Haushaltsvorstand). Der Lebensstandard ist im Kosovo sehr ungleich verteilt, mit Unterschieden in der durchschnittlichen Lebenserwartung von bis zu 10 Jahren zwischen einzelnen Gemeinden. Ein konsistentes geographisches Muster lässt sich jedoch nicht feststellen. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft ist als mehrdimensional arm zu bezeichnen: Neben dem Mangel an pekuniären Ressourcen ist der Zugang zu sozialer Infrastruktur bzw. die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, wie z. B. fließendes Wasser, für viele Menschen begrenzt. Der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel und der Ausgaben für Wohnraum an den gesamten Konsumausgaben eines Haushalts liegt im Kosovo im Durchschnitt bei 73%, die Ausgaben für Bildung und Gesundheit entsprechen 4% der gesamten Konsumausgaben. Der Human Development Index für Kosovo liegt laut dem Human Development Report Kosovo 2016 bei 0.741 (2015), was eine deutliche Steigerung gegenüber 2011 (0.713) bedeutet, jedoch einen der niedrigsten Werte in der Region darstellt (GIZ 3.2020b).
Sozialbeihilfen
Die Leistungsgewährung von staatlichen Sozialhilfeleistungen für bedürftige Personen erfolgt auf Grundlage des Gesetzes No. 2003/15. Jede Gemeinde verfügt über ein Zentrum für Soziales. Angehörige der Minderheiten werden zusätzlich von den in jeder Gemeinde eingerichteten Büros für Gemeinschaften und Rückkehrer (Municipal Office for Communities and Return, MOCR) betreut. Die Freizügigkeit wird für Sozialhilfeempfänger nicht eingeschränkt. Für den weiteren Sozialhilfebezug ist in der Kommune des neuen Wohnortes ein entsprechender Antrag zu stellen. Die Sozialhilfe bewegt sich auf niedrigem Niveau. Sozialleistungen reichen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse kaum aus. Das wirtschaftliche Überleben sichert in der Regel zum einen der Zusammenhalt der Familien, zum anderen die in Kosovo ausgeprägte zivilgesellschaftliche Solidargemeinschaft. Im Jahr 2017 erhielten 26.111 Familien bzw. 106.649 Personen Sozialhilfe (AA 21.3.2019).
Das Gesetz über die soziale Grundsicherung umfasst zwei Kategorien von Leistungsempfängern. Kategorie I definiert Familien als Leistungsempfänger, in denen alle Familienmitglieder temporär oder dauerhaft dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, z.B. Kinder bis 14 Jahre, Jugendliche bis 18 Jahren, sofern diese in das Bildungssystem integriert sind, Alleinerziehende mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren, Personen mit schwerer und dauerhafter Behinderungen über 18 Jahre, ältere Personen über 65 Jahre. Kategorie II umfasst jene Familien, in denen mindestens ein Familienmitglied dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und in denen mindestens ein Kind jünger als 5 Jahre bzw. ein/e Waise jünger als 15 Jahre versorgt wird. Die Leistungen aus beiden Kategorien sind an strenge Bedürftigkeitsprüfungen gebunden. Die monatliche Unterstützungsleistung variiert von € 50 für eine einzelne Person bis zu maximal € 150 für eine Familie mit sieben oder mehr Mitgliedern, was einer Lohnersatzquote von 11.2% (Einzelperson) entspricht. 2018 empfingen ca. 25.300 Familien mit ca. 103.409 Familienmitgliedern Sozialhilfe, ein Bevölkerungsanteil von 6%. Die Gesamtaufwendungen sind mit ca. € 32.9 Mio. bzw. einem Anteil von 0.5% des BIPs gering. Im Kosovo gibt es zwei spezielle Institutionen, die sich auf die Versorgung von Erwachsene mit psychischen Erkrankungen (in Shtime) bzw. auf die Versorgung älterer Menschen (in Prishtina) spezialisiert haben. Daneben wurden jüngst fünf kommunale Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung sowie Einrichtungen für ältere Menschen eröffnet. Die Institutionen in Shtime und Prishtina wurden in der Vergangenheit wiederholt mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht (GIZ 3.2020b).
Medizinische Versorgung
Die mangels eines öffentlichen Krankenversicherungssystems weiterhin staatlich finanzierte medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ist auf drei Ebenen organisiert: Die erste Ebene umfasst die hausärztliche Grundversorgung, insgesamt 422 Praxen und regionale Gesundheitszentren (GIZ 3.2020b; vgl. AA 21.3.2019). In letzteren werden Patienten durch Ärzte für Allgemeinmedizin sowie durch weitere Fachärzte, wie Ärzte für Pädiatrie, Dermatologie, Ophthalmologen, Gynäkologen und Zahnärzte behandelt. Zur Beseitigung des Personalmangels wurde im Jahr 2017 das Personal der primären Erstversorgung umfangreich aufgestockt. Die ambulante Grundversorgung durch Allgemeinmediziner und andere Fachärzte sowie medizinisches Assistenzpersonal erfolgt in sogenannten Familien-Gesundheitszentren. Diese Gesundheitszentren werden in Verantwortung der jeweiligen Gemeinden betrieben; die Finanzierung der erforderlichen Sachmittel erfolgt durch die Gemeinden, jene der Personalkosten aus staatlichen Mitteln des Gesundheitsministeriums (AA 21.3.2019).
Die staatliche sekundäre Versorgung beinhaltet die ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung in den Regionalkrankenhäusern in Ferizaj/Urosevac, Gjakova/Djakovica, Gjilan/Gnjilane, Mitrovica-Nord und -Süd, Peja/Pec, Prizren und Vushtrri/Vucitrn (GIZ 3.2020b; vgl. AA 21.3.2019). Die tertiäre Gesundheitsversorgung wird durch die Universitätsklinik Pristina sowie staatliche Institute gewährleistet, die umfassende, auch komplexe medizinische Dienstleistungen anbieten. Gleichzeitig ist die Universitätsklinik für die sekundäre Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung der Region Pristina zuständig und wird dementsprechend stark frequentiert. Die Bettenkapazität zur stationären Behandlung von Patienten in den Krankenhäusern ist ausreichend (AA 21.3.2019).
Die Zahl der lizenzierten privaten Krankenhäuser in Kosovo belief sich 2019 auf 23. Die Nachfrage nach (lebenswichtigen) Medikamenten kann, trotz Verbesserungen in den letzten Jahren, nicht vollständig befriedigt werden, was einen Nährboden für die Entwicklung schwarzer und grauer Märkte bietet. Kosovo und Albanien besitzen die höchste Rate an intra-Krankenhaus-Infektionen im europäischen Vergleich, was insbesondere auf hygienische Probleme zurückzuführen ist. Die medizinische Infrastruktur im Kosovo bleibt trotz erheblicher Investitionen lückenhaft. Zusammen mit dem Mangel an medizinischem Fachwissen führt dies zum Problem, dass bestimmte Krankheiten (z. B. Leukämie, Nierenversagen) im Kosovo nicht behandelt werden können. Ein effizientes Informationsverarbeitungssystem fehlt gänzlich. Die Doppelfunktion von medizinischem Personal, welches gleichzeitig in öffentlichen und privaten Institutionen beschäftigt ist, führt zu substantiellen Interessenkonflikten. Entscheidungen über die Budgetverteilung scheinen zuweilen klar politisch motiviert zu sein und sind kaum evidenzbasiert. Schließlich erschweren die finanziellen Barrieren den Zugang zum Gesundheitssystem, was gravierende Ungleichheiten zur Folge hat. Wohlhabende Patienten fragen in zunehmendem Maße Leistungen privater Anbieter nach und/oder nutzen das Angebot (privater) medizinischer Akteure im Ausland (GIZ 3.2020b).
Bereits im Dezember 2012 wurde ein Gesetz zur Reform des Gesundheitssystems verabschiedet, im April 2014 ergänzend das Gesetz über die Krankenversicherung. Das Krankenversicherungsgesetz sieht eine staatliche, für alle kosovarischen Bürger obligatorische Krankenversicherung vor. Viele Einzelheiten sind aber nach wie vor ungeklärt. Die Implementierung der Krankenversicherung wird deshalb immer wieder verschoben. Eine sofortige Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung nach Einführung des öffentlichen Krankenversicherungssystems wird derzeit als nicht realistisch eingestuft (AA 21.3.2019).
Als Folgen der andauernden Unterfinanzierung der Budgets sind staatlich finanzierte Basismedikamente der Essential Drug List sowie Zytostatika zur Behandlung von Tumorerkrankungen für berechtigte Empfänger nur selten kostenlos erhältlich. In der Realität können staatlicherseits Basis-Medikamente der Essential Drug List nicht regelmäßig und im benötigten Umfang zur Verfügung gestellt werden. Deshalb haben es insbesondere Neuerkrankte schwer, in den Genuss eines kostenlosen Bezugs staatlich finanzierter Medikamente zu kommen. Für Betroffene bleibt in einer solchen Situation nur die Möglichkeit, benötigte Medikamente privat finanziert zu beschaffen. Patienten erhalten vom behandelnden Arzt eine Liste mit benötigten Medikamenten und Verbrauchsmaterialien, die der Patient bzw. ein ihn betreuender Verwandter in einer der vielen Apotheken privat kaufen muss. Lediglich Medikamente für die Behandlung von an TBC oder AIDS erkrankten Patienten gehören wie Insulin zu den regelmäßig kostenlos vom Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellten Medikamenten (AA 21.3.2019).
Trotz kontinuierlicher Verbesserungen der meisten Gesundheitsindikatoren bleibt die Gesundheitssituation insgesamt alarmierend. Die Säuglings- und Müttersterblichkeit gehört jeweils zu den höchsten in ganz Europa. Die Immunisierungsrate hat sich jüngst auf über 90% erhöht, bleibt allerdings niedrig unter den RAE-Minderheiten. Das Ausmaß der Umweltverschmutzung sowie der Umgang mit suchtgefährdenden Substanzen, insbesondere Tabak, stellen ein enormes Risiko für die Gesundheit der kosovarischen Bevölkerung dar (GIZ 3.2020b). In Ermangelung einer universellen Gesundheitsversorgung sind Gemeinschaften von Roma und Ashkali, aufgrund ihrer schwierigen sozio-ökonomischen Lage, besonderen Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ausgesetzt. Nur der Zugang zu sehr grundlegenden Dienstleistungen ist kostenlos (EC 29.5.2019).
Rückkehr
Die meisten europäischen Staaten haben mit Kosovo bilaterale Rückübernahmeabkommen abgeschlossen (AA 21.3.2019). Diese Rückübernahmeabkommen werden problemlos implementiert. Asylanträge kosovarischer Bürger in der EU sinken seit 2015, dementsprechend sinken auch die Rückführungen. Die Zahl der aus den EU-Staaten in den Kosovo zurückgeführten Personen ist von 18.789 im Jahr 2015, 11.030 im Jahr 2016 und 4.509 im Jahr 2017 auf 2.395 im Jahr 2018 gefallen (1.668 zwangsweise und 727 freiwillig). Im Jahr 2017 betrug die Rückkehrrate der in der EU aufhältigen kosovarischen Bürger, die seitens der Gastländer zum Verlassen des Territoriums angehalten wurden, in den Kosovo 85,9% (EC 29.5.2019).
Das kosovarische Innenministerium prüft vor seiner Zustimmung zu einer Rückführung aus Drittstaaten anhand von Dokumenten, bestehenden Registereinträgen und/oder Zeugenaussagen die Herkunft einer Person aus Kosovo und das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 32 des kosovarischen Staatsangehörigkeitsgesetzes für die kosovarische Staatsangehörigkeit. Daher ist davon auszugehen, dass in Rückführungsfällen die formellen Voraussetzungen für die Registrierung als „Resident of Kosovo“ erfüllt werden. Probleme entstehen für Eltern bei der Registrierung von im Ausland geborenen Kindern, wenn lediglich Geburtsanzeigen vorgelegt werden können, weil Standesämter mangels fehlender Identitätsdokumente der Eltern keine Geburtsurkunden ausstellen können. Seit Mai 2010 hat die kosovarische Regierung Strategien für die Reintegration von Rückkehrern verabschiedet (AA 21.3.2019).
Geleitet wird der gesamte Reintegrationsprozess von der Abteilung für die Reintegration von Rückkehrern im kosovarischen Innenministerium. Für diese Abteilung arbeiten u.a. sechs sogenannte Regionalkoordinatoren, die dezentral in den größeren Gemeinden des Kosovo (auch Nord-Mitrovica) tätig sind und als Ansprechpartner für die in jeder Gemeinde eingerichteten Büros für Gemeinschaften und Rückkehrer (Municipal Office for Communities and Return, MOCR) fungieren sollen sowie auch Mitglieder der kommunalen Ausschüsse für Reintegration (Municipal Committees for Reintegration, MCR) sind. Zu den Aufgaben der Regionalkoordinatoren gehört auch ein Monitoring der MOCR und der MCR. Zudem können sie im Bereich der Wohnraumbeschaffung eigenständig tätig werden. Die erste Kontaktaufnahme zu den Rückkehrern findet bereits unmittelbar nach deren Ankunft in einem eigenen Büro der „Abteilung für die Reintegration von Rückkehrern“ [DRRP - Department for Reintegration of Repatriated Persons] im Flughafen Pristina statt. Falls erforderlich, werden Transport in die Heimatgemeinde oder eine befristete Unterkunft in einer Einrichtung in Pristina angeboten sowie Ansprechpartner in den Kommunen benannt. Im Bedarfsfall können individuelle medizinische Versorgungsmöglichkeiten über die Abteilung für die Reintegration von Rückkehrern in Zusammenarbeit mit den kosovarischen Behörden organisiert werden (AA 21.3.2019).
1.4. Zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 11.01.2021 28.673 bestätigte Fälle von aktuell mit dem Corona-Virus infizierten Personen, 381.035 laborbestätigte Fälle, 345.660 genesene Fälle und 6.702 bestätigte Todesfälle; in Serbien wurden zu diesem Zeitpunkt 359.689 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 3.582 diesbezügliche Todesfalle bestätigt wurden.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
III. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen hinsichtlich des Namens des BF, seines Geburtsdatums, seiner Staatsangehörigkeit und seiner Muttersprache werden anhand seiner glaubhaften, gleichbleibenden Angaben im Verfahren getroffen, die Feststellung hinsichtlich seiner Deutschkenntnisse erfolgt anhand des im Zuge des Verfahrens vorgelegten Zertifikates.
Die Feststellungen hinsichtlich seines Hauptwohnsitzes und seines Aufenthaltstitels ergeben sich anhand der im Verwaltungsakt einliegenden unzweifelhaften Auszüge und Kopien sowie aus der Einsichtnahme in das zentrale Fremdenregister
Die Feststellungen hinsichtlich der familiären Situation des BF in Österreich und dem Aufenthaltsort seiner Verwandten gründen sich auf seine eigenen Angaben bei seiner Einvernahme im März 2019 vor dem Bundesamt sowie auf seine Angaben und die Angaben der Zeugen im Rahmen der Verhandlung am 26.01.2021.
Die Feststellungen zur sozialen und gesellschaftlichen Integration des basieren auf seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 26.01.2021 und dem dort vom BF gewonnenen persönlichen Eindruck. Dabei ist hervorzuheben, dass der BF zwar durchaus den Eindruck macht Integrationsbestrebungen zu haben. Im Kontext der Tatsache, dass der BF schon knapp nach einem Jahr seines Aufenthalts, der aufgrund seiner Aufenthaltsbewilligung „Student“ rein Studienzwecken dienen sollte, nachhaltig versuchte eine Niederlassungsbewilligung zur Ausübung einer Vollzeitstelle zu erreichen, werden diese Bestrebungen jedoch in ihrem Gewicht maßgeblich gemindert, wie im Folgenden zu zeigen ist:
Es ist für das Verwaltungsgericht erwiesen, dass das Studium des BF im Bundesgebiet nicht der maßgebliche Grund für seine Einreise war, sondern hatte der BF vielmehr von Anfang an einen erheblichen initialen Niederlassungswillen im Bundesgebiet; er hatte also vor in der Nähe seiner Schwester zu leben und vor allem im Bundesgebiet letztlich Vollzeitarbeit als Künstler zu finden. Das Studium war dabei ein Sprungbrett, da Aufenthaltsbewilligungen als Student nach dem NAG wesentlich weniger strengere Erteilungsvorrausetzungen aufweisen, als tatsächliche Aufenthaltstitel bzw. Niederlassungsbewilligungen.
Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass die Stelle wegen derer der BF die (ihm letztlich verwehrte) Niederlassungsbewilligung beantragt hat, aufgrund deren Vollzeitumfang mit dem Studium des BF gar nicht kompatibel gewesen wäre. Der BF wirkte bei der Befragung durch den erkennen Richter zur diesem Thema auch sichtlich nervös und beantworte die Frage, welche Lehrveranstaltungen er in dem von ihm inskribierten Studium erfolgreich absolviert hatte, mit sich wiederholenden Ausflüchten. Dies änderte sich auch bei Wiederholung der Frage und Übersetzung durch den anwesenden Dolmetscher nicht, bis schließlich der RV nach nochmaliger Wiederholung der Frage stellvertretend für den BF angab, der BF habe keine einzige Lehrveranstaltung des Studiums der deutschen Philologie positiv abgeschlossen. Auch konnte der BF nicht nachvollziehbar erklären, warum er bereits 1,5 Jahre nach seiner Einreise als Student eine mit diesem Studium inkompatible Vollzeitstelle annehmen wollte. Verstärkt wird dieser Eindruck auch maßgeblich dadurch, dass der BF zuerst angab, es sei sein Traum gewesen in Österreich zu studieren und deine gute Ausbildung zu erhalten, jedoch bei der erstbesten Gelegenheit auf einen Vollzeitarbeitsplatz dieses Studium - ohne nennenswerten Studienerfolg bis zu diesem Zeitpunkt - „an den Nagel hängen“ wollte.
Auch hat der BF nach Rückziehung der Beschwerde gegen den Bescheid des AMS sein Studium nicht wiederaufgenommen und auch gar nicht erst versucht, erneut seine Aufenthaltsbewilligung als Student verlängern zu lassen, sondern sofort den ggst. Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach § 55 AslyG 2005 gestellt. Der BF konnte dem erkennenden Richter im persönlichen Eindruck somit nicht glaubwürdig darlegen, dass er nicht schon bei seiner Einreise tatsächlich einen dauerhaften Niederlassungswillen hatte und tatsächlich nur zum Zweck des Studiums eingereist ist.
Auch gibt der BF an, ein Studium in Österreich sei immer sein großer Traum gewesen, dennoch hat er dieses während der Zeit des zweijährigen Verfahrens über seine Niederlassungsbewilligung nicht weiter betrieben und kann auch derzeit keinerlei Studienerfolg vorweisen. Es ist dem BF zwar zuzugestehen, dass er von Sept. 2017 bis ca. April/Mai 2018 aufgrund gesundheitlicher Problematiken mit seinen Schilddrüsenwerte sein Studium nicht vorantreiben hätte können, wobei jedoch festzuhalten ist, das der BF in dieser Zeit arbeitsfähig und (Teilzeit) berufstätig war. Jedoch sind auch vor und nach diesem Zeitraum absolut keine ernsthaften Studienambitionen des BF erkennbar. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher davon überzeugt, dass der BF schon bei seiner Einreise einen entsprechenden Migrations- bzw. Niederlassungswillen hatte und nach Scheitern seines Antrags auf eine Niederlassungsbewilligung Künstler unter Umgehung der anwendbaren Bestimmungen des NAG dies nun mit dem ggst. Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AslyG 2005 zu realisieren sucht. Dies passt auch im Hinblick auf die Aussage des BF ins Bild, die er bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt im März 2019 getätigt hat. So gab er an, er habe im Kosovo zahlreiche verschieden Berufstätigkeiten ausgeübt, u.a. im Baugewerbe und als Schaffner, „es gab aber keine Jobsicherheit dort“. Auch hierdurch wird deutlich, dass die Einreise des BF ins Bundesgebiet nicht vorwiegend zum Zweck eines Studiums erfolgt ist, sondern auch überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen, da im Kosovo eine hohe Arbeitslosigkeit und eine sehr schwierige Arbeitsmarktsituation herrscht und der BF im Bundesgebiet in der Nähe seiner Schwester wohnen und arbeiten wollte.
2.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kosovo
Die Feststellung, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Kosovo weder asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK noch eine Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK droht, erfolgen einerseits anhand den Ausführungen im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Kosovo, andererseits anhand des Umstandes, dass Kosovo als sicherer Herkunftsstaat im Sinne der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV) angesehen wird.
Zudem sind anhand des Länderinformationsblattes keine Anzeichen erkennbar, dass die Grundversorgung bzw. medizinische Versorgung im Kosovo generell nicht gegeben wäre oder sich der BF in einer schlechteren Situation als die übrige Bevölkerung befindet. Der BF hat bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 im Kosovo gelebt, ist dort aufgewachsen, hat dort die Schule besucht und war im Kosovo bereits berufstätig. weshalb ihm jedenfalls zugemutet werden kann, wieder in diesem Staat zu leben und sich eine Existenz aufzubauen. Andere Hinweise die auf eine Verfolgung im Sinne der GFK oder eine Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK hindeuten würden sind nicht hervorgekommen und wurden vom BF auch nicht vorgebracht.
2.4. Zur maßgeblichen Situation im Kosovo
Die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation im Kosovo ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
2.5. Zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus
Die unter getroffenen unstrittigen Feststellungen zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus ergeben sich aus den unbedenklichen tagesaktuellen Berichten und Informationen, vgl. etwa:
https://covid19-dashboard.ages.at/dashboard.html
https://covid19.who.int/region/euro/country/xk
https://orf.at/corona/daten/oesterreich
https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/
(Zugriff jeweils am 18.01.2021)
III. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
3.1 Anzuwendende Rechtsvorschriften:
3.1. Rechtsgrundlagen:
Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK“ betitelte § 55 AsylG 2005 lautet wie folgt:
„(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“
Der mit „Rückkehrentscheidung“ betitelte § 52 FPG lautet wie folgt:
„(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre,
1a. nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 1 wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Liegt ein Fall des § 55a vor, so wird die Rückkehrentscheidung mit dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise durchsetzbar. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.“
Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG lautet wie folgt:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
Der mit Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ betitelte §41a Abs. 10 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz lautete wie folgt:
„(10) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 bis 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zu erteilen, wenn es sich um einen unbegleiteten minderjährigen Fremden handelt und sich der Minderjährige auf Grund eines Gerichtsbeschlusses, kraft Gesetzes oder einer Vereinbarung der leiblichen Eltern mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger zum Schutz des Kindeswohles nicht bloß vorübergehend in Obhut von Pflegeeltern oder des Kinder- und Jugendhilfeträgers befindet. Die Pflegeeltern gelten diesfalls als gesetzliche Vertreter im Sinne des § 19. Dieser Aufenthaltstitel ist gebührenfrei zu erteilen.“
3.2. Zu den Spruchpunkten I. und II. des angefochtenen Bescheides
Entsprechend der Bestimmungen des § 55 AsylG 2005 ist eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Zur Prüfung der inhaltlichen Berechtigung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005 ist eine Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG vorzunehmen. Dafür ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Daraus und aus der Eingliederung dieses Aufenthaltstitels nach § 55 AslyG 2005 unter jene aus berücksichtigungswürdige (humanitäre) Gründen“ ergibt sich, dass die Erteilung letztlich an eine humanitäre Notlage des Aufenthaltstitelwerbers anknüpfen, weil ein Aufenthaltstitel auf Basis des die Zuwanderung und die Migration regelnden NAG nicht möglich ist.
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Eine generelle Aussage, bis zu welchem Verwandtschaftsgrad der grundrechtliche Schutz reicht, lässt sich – soweit ersichtlich – der Straßburger Rechtsprechung nicht entnehmen (Baumgartner, ÖJZ 1998, 761). Ob eine Familie iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR nicht allein vom Verwandtschaftsgrad ab, sondern auch von einer Reihe anderer Umstände, wie etwa der Intensität und Dauer des Zusammenlebens. Nach dieser Rechtsprechung kann auch jemand, der nicht blutsverwandt ist, zur Familie zählen (vgl. VfGH 15.10.2004, G 237/03, mwN).
In der Rechtssache des EGMR Labassee v. Frankreich, Beschwerde Nr. 65941/11, in der sich der Gerichtshof mit Fragen zur Leihmutterschaft beschäftigt hat, erinnert er daran, dass Art. 8 EMRK mit der Zusicherung des Rechts auf Achtung des Familienlebens die tatsächliche Existenz einer Familie voraussetzt. Ferner weist er auf die Rechtssache X, Y und Z v. Vereinigtes Königreich (22.04.1997, Abs. 36-37, Recueil des arrêts et décisions 1997 – II) hin, in der er auf die Existenz von „de facto-Verwandtschaftsbeziehungen“ zwischen einem Kind, das durch künstliche Befruchtung mit einem Samenspender gezeugt wurde, dem transsexuellen Lebensgefährten der Kindesmutter, der sich seit Geburt des Kindes wie ein Vater verhielt, und der Mutter selbst geschlossen habe, sodass Art. 8 anwendbar sei. Er habe ebenso die Existenz eines de facto-Familienlebens in der Angelegenheit Wagner und J.M.W.L. zwischen einem Kind und seiner Adoptivmutter anerkannt, obwohl die Adoption nach innerstaatlichem Recht nicht anerkannt worden sei. Ausschlaggebend in diesen Situationen sei die konkrete Realität des Verhältnisses zwischen den Betroffenen. In dem dem Gerichtshof in der Rechtssache Labassee v. Frankreich zugrundeliegenden Fall kümmerten sich die ersten Beschwerdeführer wie Eltern um die dritte Beschwerdeführerin seit ihrer Geburt und lebten alle drei in einer Art und Weise zusammen, die sich in keiner Weise vom „Familienleben“ in seiner üblichen Form unterscheide. Dies reiche nach Ansicht des Gerichtshofes aus, um festzustellen, dass Art. 8 im Hinblick auf seine Formulierung „Familienleben“ anwendbar sei (vgl. EGMR 26.06.2014, Labassee v. Frankreich, Beschwerde Nr. 65941/11, Rz 37).
Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. „legitimate family“ bzw. „famille légitime“) oder einer unehelichen Familie („illegitimate family“ bzw. „famille naturelle“), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, Serife Yigit, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewähru