TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/1 W238 2193467-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.03.2021
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Entscheidungsdatum

01.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W238 2193467-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.03.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.02.2021 zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)       Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte am 15.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der damals 15-jährige Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und eines Rechtsberaters zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara schiitisch-muslimischen Glaubens sei. Er stamme aus Ghor. In Afghanistan habe er die Schule besucht und zuletzt als Landwirt gearbeitet. Seine Familie sei nach wie vor in Afghanistan aufhältig. Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass ihn sein Vater aufgrund der schlechten Sicherheitslage und Schwierigkeiten beim Schulbesuch nach Österreich geschickt habe.

3. Anlässlich der am 19.02.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, seiner Rechtsvertreterin und einer Vertrauensperson durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt (in der Folge: BFA), wiederholte bzw. präzisierte der – zu diesem Zeitpunkt 17-jährige – Beschwerdeführer seine Angaben hinsichtlich Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Herkunftsprovinz, Familienstand und Schulbesuch. Er gab weiters an, gesund zu sein. Seine Eltern und Geschwister würden mit Ausnahme eines im Iran aufhältigen Bruders in Afghanistan leben. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer mangelnde Zukunftsperspektiven in Afghanistan an. Zudem habe er Angst vor Taliban, weil diese viele Hazara töten würden. Der Beschwerdeführer habe allerdings weder persönlich Kontakt zu Taliban gehabt noch sei er von ihnen bedroht worden. Er gab weiters an, dass er die letzten drei Jahre im Iran gewesen sei und davon sechs Monate im Syrienkrieg als Wache gedient habe. Aus diesem Grund befürchte er im Falle der Rückkehr Probleme mit der afghanischen Regierung. Schließlich wurden Unterlagen zum Beweis der Integration des Beschwerdeführers vorgelegt.

4. Am 22.02.2018 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zur Lage im Herkunftsland.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 21.03.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin bekräftigte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen und gab zusammengefasst an, dass in seinem Fall mehrere Faktoren zusammentreffen würden, die im Falle seiner Rückkehr die Gefahr einer Verfolgung erhöhen würden. Ins Treffen geführt wurden hierbei die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers, sein Gesundheitszustand, die Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara sowie die erzwungene und öffentlich dokumentierte Teilnahme am Krieg in Syrien, wodurch ihm durch den afghanischen Staat oder regierungsfeindliche Gruppen eine feindliche Gesinnung unterstellt werden könnte. Weiters befürchte der Beschwerdeführer die Unterstellung einer westlichen Gesinnung aufgrund einer Tätowierung sowie seines mehrjährigen Aufenthalts im Iran und in Europa. Ihm stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, zumal er keinen Kontakt zu seinen Angehörigen in Afghanistan habe und daher nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen könne. Schließlich wurde vorgebacht, dass sich die Rückkehrentscheidung als unzulässig erweise, da der Beschwerdeführer in Österreich ein Familienleben mit seinem Cousin führe und weitere integrationsbestätigende Umstände aufgezeigt habe.

7. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt langten am 25.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

8. Am 24.07.2018 und am 11.06.2019 reichte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen nach.

9. Am 04.02.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der – inzwischen volljährige – Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die ordnungsgemäß geladene belangte Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem BFA im Anschluss an die Verhandlung übermittelt. Der Beschwerdeführer wurde vom Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Im Zuge der Verhandlung wurden vom Gericht auch die Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers eingebracht. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erstattete eine mündliche Stellungnahme. Der Beschwerdeführer legte weitere Unterlagen zum Beweis seiner Integration in Österreich vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person, Fluchtgründen, Rückkehrmöglichkeit und (Privat-)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch dieses Erkenntnisses enthaltenen Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara muslimisch-schiitischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Dari. Er verfügt auch über Sprachkenntnisse in Farsi, Englisch, Deutsch und Arabisch.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Afghanistan, Provinz Ghor, Bezirk XXXX , Dorf XXXX geboren und lebte dort bis zu seinem 12. Lebensjahr. Anschließend verbrachte er ca. drei Jahre im Iran und sechs Monate (mit Unterbrechungen) in Syrien. Nach seiner Rückkehr in den Iran Ende 2015 entschloss er sich, nach Europa zu gehen.

Am 15.01.2016 stellte er den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

1.1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz im Zuge der Erstbefragung damit, dass ihn sein Vater wegen der schlechten Sicherheitslage und Schwierigkeiten beim Schulbesuch nach Österreich geschickt habe. Beim BFA gab er als Ausreisegrund erneut mangelnde Zukunftsperspektiven in Afghanistan an. Weiters äußerte er Furcht vor Verfolgung seitens der afghanischen Regierung, weil er am Krieg in Syrien teilgenommen habe. In der Beschwerde und in der Verhandlung ergänzte er sein Vorbringen dahingehend, dass ihm eine „westliche“ Gesinnung aufgrund einer Tätowierung sowie seines mehrjährigen Aufenthalts im Iran und in Europa sowie wegen Nichteinhaltung sämtlicher religiöser Vorschriften unterstellt werden könnte. Schließlich machte er eine ihm drohende Verfolgungsgefahr wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit sowie wegen drohender Zwangsrekrutierung mit Blick auf sein Alter geltend.

Zu den vorgebrachten Fluchtgründen wird vom Bundesverwaltungsgericht Folgendes festgestellt:

Weder war der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung durch staatliche oder private Akteure ausgesetzt noch wäre er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt.

Während seines Aufenthalts im Iran wurde der damals minderjährige Beschwerdeführer von der iranischen Regierung für einen Einsatz in Syrien rekrutiert, indem ihm die Erteilung eines Aufenthaltstitels und eine finanzielle Entschädigung versprochen und im Fall seiner Ablehnung die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurden. Der Beschwerdeführer entschied sich für eine Teilnahme am Krieg in Syrien. Er erhielt zunächst im Iran eine einmonatige Ausbildung in einer Militärkaserne. Sodann reiste er im Jahr 2015 dreimal für insgesamt sechs Monate nach Syrien aus. Bei seinem ersten Einsatz war er für ca. zwei Monate in XXXX stationiert. Danach durfte er die freie Dienstzeit im Iran verbringen. Beim zweiten Einsatz war er ca. zwei Monate in der Provinz XXXX stationiert. Nach einem einmonatigen Aufenthalt im Iran verbrachte er beim dritten Einsatz zwei Monate in XXXX . Der Beschwerdeführer nahm nie an Kampfhandlungen teil. Er war ca. 30 bis 40 Kilometer von der Front entfernt ausschließlich im Logistikbereich (Küchendienst, Versorgung der Soldaten mit Kleidung etc.) tätig. Nach der Rückkehr in den Iran während der dienstfreien Zeit entschloss sich der Beschwerdeführer, nach Europa zu gehen. Er erzählte nur seinen Familienangehörigen von seiner Teilnahme am Krieg in Syrien. Es wird nicht festgestellt, dass weitere Personen – etwa Bewohner seines Heimatdorfes – oder die Behörden seines Herkunftsstaates Kenntnis von seiner Teilnahme am Krieg in Syrien erlangten oder mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit erlangen würden. Insbesondere konnte auch nicht festgestellt werden, dass Fotos des Beschwerdeführers vom Syrien-Einsatz im Internet oder sonstigen Medien veröffentlicht wurden.

Weiters wird nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er sich von 2013 bis 2015 (mit Unterbrechungen) im Iran aufhielt und seit Jänner 2016 in Europa lebt, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre. Er hat insbesondere keine „westliche Lebenseinstellung“ als wesentlichen Bestandteil seiner Identität angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan steht. Eine solche würde ihm auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit – etwa wegen Nichteinhaltung sämtlicher religiöser Vorgaben oder seiner Tätowierung – unterstellt werden.

Der Beschwerdeführer wuchs in einem islamisch geprägten Land eingebettet in den afghanischen Familienverband als Angehöriger der muslimischen Religion auf, ist allerdings derzeit nicht religiös interessiert. Er betet nicht und hält sich gegenwärtig nicht an alle Vorgaben der islamischen Religion. Er hat sich jedoch weder aus tiefer innerer Überzeugung vom Islam abgewendet noch ist er aus tiefer innerer Überzeugung Atheist oder Anhänger einer anderen religiösen Überzeugung geworden. Er wäre in Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer hat eine Tätowierung am linken Oberarm in verblasster schwarzer Farbe. Sie zeigt ein Schwert, das ca. sechs cm lang und ca. zwei cm breit ist, wobei die Querseite sehr weit unten an der Längsseite angebracht ist und eine Art Säbelgriff andeutet. Durch die Tätowierung, welche im Übrigen durch das Tragen eines Hemdes leicht abgedeckt werden kann, besteht für den Beschwerdeführer insbesondere bei Rückkehr in die urbanen Gebiete Afghanistans keine maßgebliche Verfolgungsgefahr.

Der Beschwerdeführer ist mittlerweile 20 Jahre alt. Er wäre im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen seines Alters oder einer drohenden Zwangsrekrutierung (durch regierungsfeindliche Gruppierungen) ausgesetzt.

Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer ohne Hinzutreten weiterer wesentlicher individueller Merkmale mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder (von staatlichen Organen geduldet:) durch Private, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit (Hazara), seiner Religion (schiitischer Islam), Nationalität (Afghanistan), Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung zu erwarten hätte.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Es gibt insgesamt keinen stichhaltigen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer (asylrelevanten) Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.1.3. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers wird festgestellt, dass er an keinen (lebensbedrohenden) Krankheiten leidet. Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – auch in Afghanistan aufgetretene – Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer leidet – wie bereits ausgeführt – an keinen lebensbedrohenden Krankheiten und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen maßgeblicher physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer (intensivmedizinischen) Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan zwei Jahre eine Schule. Er kann in seiner Muttersprache hinreichend lesen und schreiben.

In Afghanistan arbeitete er in der familieneigenen Landwirtschaft. Im Iran war er im Baubereich als Fliesenleger tätig.

Die Eltern und der jüngste Bruder des Beschwerdeführers verließen Afghanistan vor ungefähr einem Jahr aus wirtschaftlichen Gründen und leben seitdem im Iran. Zwei weitere Brüder und ein Onkel mütterlicherseits befinden sich ebenfalls im Iran. Ein Bruder und vier Schwestern des Beschwerdeführers sowie zwei Onkel väterlicherseits leben nach wie vor im Heimatdorf in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Eltern und kann über diese auch den Kontakt zu den übrigen Verwandten (in Afghanistan) herstellen.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Ghor scheidet aus, weil ihm dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem Beschwerdeführer ist es jedoch möglich und zumutbar, sich stattdessen in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der Beschwerdeführer lebte zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner schulischen Ausbildung, seiner hinreichenden Schreib- und Lesekompetenz, seiner vielfältigen Sprachkenntnisse, seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit, der im Zuge der Mithilfe in der familieneigenen Landwirtschaft in Afghanistan und im Baubereich (als Fliesenleger) im Iran erworbenen Erfahrungen sowie der in Österreich gewonnenen Kenntnisse und Fähigkeiten könnte sich der Beschwerdeführer dennoch in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer ist selbsterhaltungsfähig. Er hat weiters die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg (via Kabul) sicher erreichen.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Seine Verwandten leben in Afghanistan und im Iran.

In Österreich leben zwei entfernte Verwandte. Es handelt sich um den Cousin seiner Mutter, der als Asylwerber in Linz aufhältig ist, und um einen (zusammen mit dem Beschwerdeführer eingereisten) Cousin mütterlicherseits, der subsidiär schutzberechtigt ist und in Wien lebt. Es bestehen weder ein gemeinsamer Haushalt noch spezifische Abhängigkeiten zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Verwandten. Der Beschwerdeführer trifft seine Verwandten einmal im Jahr. Telefonischer Kontakt besteht maximal einmal im Monat.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse und bestand Deutschprüfungen auf Niveau A1 und A2. Zuletzt machte er einen B1-Deutschkurs. Er besuchte von 2016 bis 2018 eine Polytechnische Schule. Er absolvierte einen Brückenkurs sowie den Kurs Basisbildung UMF (Deutsch, Mathematik, Englisch) und nahm an einer Gewaltpräventionsveranstaltung teil. Er arbeitete einmalig ehrenamtlich im Zuge der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag. Zudem ist er Mitglied in einem Fußballverein.

Die Bindung des Beschwerdeführers zu Afghanistan ist angesichts seiner Aufenthaltsdauer im Herkunftsstaat in den (prägenden) ersten 12 Lebensjahren – insbesondere auch unter dem Aspekt seiner Sozialisierung in einem afghanischen Familienverband, seiner Muttersprache Dari und der daraus abgeleiteten Verbundenheit mit der afghanischen Kultur – deutlich intensiver als jene zu Österreich, zumal noch Verwandte – darunter ein Bruder – im Herkunftsstaat leben.

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung am 15.01.2016 im Bundesgebiet auf.

Er ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.

1.2.1. Zur Lage in Afghanistan:

Betreffend die Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 16.12.2020, die in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die in Berichten von EASO – EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2018 und Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von August 2020 – enthaltenen Informationen wie folgt auszugsweise festgestellt:

Politische Lage (LIB Stand 16.12.2020, S. 16 f.):

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben.

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt. Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu, und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt.

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt.

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (LIB Stand 16.12.2020, S. 17 f.)

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt. Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt.

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa 4 Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig. Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen. Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“.

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt. Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte. Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig. CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52%. Nach monatelangem erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern. Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an, und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen. Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt. Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert. Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen.

Friedens- und Versöhnungsprozess (LIB Stand 16.12.2020, S. 19 f.)

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 600.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida, keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen.

Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind. Doch bisher hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen.

Sicherheitslage (LIB Stand 16.12.2020, S. 22 f.):

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 01.01.2020 - 30.09.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonalen Trends gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück.

Die Sicherheitslage im Jahr 2019 (LIB Stand 16.12.2020, S. 23)

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht. Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion.

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018.

Zivile Opfer (LIB Stand 16.12.2020, S. 23 f.)

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand.

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuss (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall.

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020.

High-Profile Angriffe (HPAs) (LIB Stand 16.12.2020, S. 25)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein.

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten (LIB Stand 16.12.2020, S. 25 f.)

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt.

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt.

Regierungsfeindliche Gruppierungen (LIB Stand 16.12.2020, S. 26)

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:

Taliban (LIB Stand 16.12.2020, S. 26 f.)

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können.

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar. Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk.

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte.

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind.

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Haqqani-Netzwerk (LIB Stand 16.12.2020, S. 28)

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban, Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani].

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht. Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika und Khost aktiv. Sie verfügen jetzt über mehr Macht als in den Vorjahren und führen mehr Operationen durch. Es gibt keine größeren Gegenmaßnahmen der afghanischen Regierung oder der Sicherheitskräfte gegen das Netzwerk.

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausches im November 2019. Das Haqqani-Netzwerk ist an den aktuellen Friedensverhandlungen beteiligt.

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (LIB Stand 16.12.2020, S. 28 f.)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Es ist aber nicht erwiesen, ob er mit dem IS im Irak und in Syrien verbunden ist oder nicht. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren.

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck, da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region. So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen. Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen, wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfer reduziert.

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert.

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt.

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten.

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche. Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen.

Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan, und laut NDS wurde das Hauptführungs- und Koordinierungsgremium des islamischen Staates eliminiert, aber die Teilnetzwerke existieren noch immer in verschiedenen Bereichen. Die Gruppe ist immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch.

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen (LIB Stand 16.12.2020, S. 29 f.)

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv. Einer Quelle zufolge hat Al-Qaida weniger Macht als in den letzten Jahren. Gemäß UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in zwölf Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv.

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder.

Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren.

Kabul (LIB Stand 16.12.2020, S. 33 f.):

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans.

Kabul-Stadt (LIB Stand 16.12.2020, S. 33 f.)

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21. Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu möglichen 6,5 Millionen Einwohnern. Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus.

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes, inklusive der Ring Road (Highway 1) welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad miteinander verbindet.

Der Highway zwischen Kabul und Kandahar gilt als unsicher. Aufständische sind auf dem Highway aktiv und kontrollieren Teile der Straße, und es wurde von Straßenblockaden und Kontrollen durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten.

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind.

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen, und Berichten zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen.

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand November 2020 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist.

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen.

Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, BalaChawk und Alli Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar, aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansäßig; Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure (LIB Stand 16.12.2020, S. 35 f.)

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle, dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt, wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel im März sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020, für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm. Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich, wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten. Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt.

Das USDOD beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch, internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben. Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt.

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an. So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem Hilfsorganisationen und internationale Organisationen sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind. Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht. Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen - und der von hohen Mauern umgeben ist.

Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßen-Kriminalität in Kabul ein Problem.

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet. Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung. Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen. Im Juli wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet.

Es wird berichtet, dass der Islamische Staat in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen. Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staates zu stören, zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung (LIB Stand 16.12.2020, S. 37 f.)

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen.

Im letzten Quartal des Jahres 2019 sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen.

Selbstmordanschläge und IEDs finden statt, und es wurde von gezielten Tötungen und Angriff auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte sowohl in Kabul-Stadt als auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen.

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind. Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde, ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen und kriminelle Banden sowie Luftschläge durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten.

Balkh (LIB Stand 16.12.2020, S. 58 f.):

Balkh liegt im Norden Afghanistans.

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan.

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen. In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari, Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher.

In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure (LIB Stand 16.12.2020, S. 59 f.)

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen. Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten.

Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskrä

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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