TE Bvwg Erkenntnis 2021/3/2 W175 1424571-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.03.2021
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Entscheidungsdatum

02.03.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W175 1424571-2/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Neumann als Einzelrichter über die Beschwerde XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.07.2020, Zl. 811121606-200393587, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.09.2020 zu Recht:

A)

I.

Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

II.      

Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 25.05.2020 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß
§ 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 16.06.2022 erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 26.09.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 27.09.2011 statt, die Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 24.01.2012.

2. Mit Bescheid vom 25.01.2012 wies das Bundesasylamt den Antrag des BF sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I. und II.) und wies den BF gemäß
§ 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan aus (Spruchpunkt III).

In der Begründung des angefochtenen Bescheides stellte das Bundesasylamt im Wesentlichen fest, dass der BF Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen sei. Er sei Sunnit und habe seinen Lebensmittelpunkt in Nangarhar. Dort habe er bis zu seiner Ausreise gelebt und gearbeitet. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er sein Herkunftsland aus wohlbegründeter Furcht verlassen habe. Es sei nicht möglich gewesen, eine zur Asylgewährung führende Bedrohungssituation im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland festzustellen.

3. Der BF erhob fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er glaubwürdig ausgeführt habe, dass er den Taliban Essen zubereitet habe und könne dazu auch Details angeben. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könne er nicht auf ein soziales Netz zurückgreifen und würde er nach aller Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Lage geraten.

4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.06.2015, GZ. W187 1424571-1/13E, wurde die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides als unbegründet abgewiesen. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde der Beschwerde stattgegeben und dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiären Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 16.06.2016 erteilt (Spruchpunkte II. und III.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der BF eine asylrechtlich relevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der BF einer realen Gefahr iSd § 8 AsylG ausgesetzt. Hinsichtlich der in Afghanistan vorherrschenden Versorgungslage und der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung wurde ausgeführt, dass die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei. Die soziale Absicherung liege traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, würden auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehren würden, da jenen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die erforderlichen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen würde. Der BF würde im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatort Familienmitglieder antreffen, doch könne nicht sicher davon ausgegangen werden, dass eine erfolgreiche Eingliederung in den Familienverband nach einer mehrjährigen Abwesenheit gelingt. Angesichts der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan sei zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des BF, Nangarhar, sei sehr schlecht. Dem BF stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative, etwa in der Hauptstadt Kabul, zu Verfügung, da nicht mit ausreichender Gewissheit vom Bestehen eines familiären Netzwerkes ausgegangen werden könne. Der BF verfüge zwar über etwas Arbeitserfahrung als Landwirt, habe jedoch keinerlei Schul- und sonstige Ausbildung, die für eine Neuansiedlung in einer Stadt jedenfalls von Nöten wäre. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich der BF sofort in Kabul integrieren könne, dies vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner mangelnden Ausbildung sowie auch der vor Ort ständig stattfindenden Veränderungen.

5. Mit Schreiben vom 13.05.2016 brachte der BF erstmals einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 08.06.2016 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.06.2018 erteilt.

Mit Schreiben vom 04.04.2018 brachte der BF wiederrum einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.

Mit Bescheid des BFA vom 04.06.2018 wurde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung zuletzt bis zum 16.06.2020 erteilt.

6. Der Mitteilung der LPD vom 12.02.2020 sowie den Kopien seines Fremdenpasses kann entnommen werden, dass der BF seit der Statuszuerkennung mehrmals nach Pakistan gereist ist.

7. Mit Schreiben vom 12.05.2020 wurde dem BF seitens des BFA mitgeteilt, dass eine Reisebewegung von 14.11.2019 bis 12.02.2020 nach Pakistan festgestellt worden sei. Der BF wurde aufgefordert, näher ausgeführte Fragen innerhalb von 14 Tagen zu beantworten.

8. In seiner Stellungnahme vom 15.05.2020 teilte der BF mit, dass er seine Frau in Pakistan besucht habe. Er habe sich drei Monate in Peshawar aufgehalten; er sei nicht in Afghanistan gewesen.

9. Mit Aktenvermerk vom 18.05.2020 hielt das BFA fest, dass die Vorprüfung für etwaige Aberkennungsgründe des Status des BF ergeben habe, dass die Voraussetzungen zur Statusaberkennung nicht vorlägen, da nicht habe festgestellt werden können, dass sich der BF unter den Schutz seines Heimatlandes gestellt habe und auch keine sonstigen Aberkennungsgründe vorlägen.

10. Mit Schreiben vom 20.05.2020 brachte der BF letztmals einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ein.

11. Mit Schreiben vom 27.05.2020 wurde dem BF Parteiengehör zu seinem Antrag bei gleichzeitiger Prüfung eines Aberkennungsverfahren gewährt und ihm die Beantwortung mehrere Fragen aufgetragen.

12. Der BF brachte am 03.06.2020 eine diesbezügliche Stellungnahme ein. Er brachte im Wesentlichen vor, gesund zu sein, in Österreich Bezüge des AMS zu beziehen und derzeit nicht erwerbstätig zu sein. Er habe Berufserfahrung in der Landwirtschaft. Seine Angehörigen würden in Afghanistan (Eltern, sieben Geschwister, zwei Onkel) und in Pakistan (Ehefrau und Kinder) leben. Er habe zu seinen Angehörigen und auch zu Freunden in Afghanistan Kontakt. In Österreich wohne er in einer Wohngemeinschaft. Er sei verheiratet und habe zwei Töchter. Es bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis zu einer in Österreich lebenden Person und er sei nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Er besuche Integrations- und Deutschkurse, habe auch österreichische Freunde, schreibe Bewerbungen und passe sich gut an.

13. Mit Aktenvermerk vom 06.07.2020 hielt das BFA fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht beziehungsweise nicht mehr vorliegen würden, dies infolge geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat sowie infolge geänderter persönlicher Umstände. Es sei eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif und Herat zumutbar und habe der BF Unterstützungsmöglichkeiten durch das familiäre Netzwerk, in Form seiner Eltern, sieben Geschwister und zwei Onkel, in Afghanistan. Der BF sei jung, gesund, arbeitsfähig und habe sich in Österreich wertvolle Kenntnisse aneignen können, welche ihm bei einer Rückkehr von Nutzen sein könnten. Es sei von der Erfüllung des Tatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG auszugehen.

14. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.). Es wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte IV. bis VI.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das BFA aus, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der damals vorherrschenden Versorgungslage, der allgemeinen Lebensbedingungen, der eingeschränkten Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, des fehlenden sozialen und familiären Netzwerks und der schlechten Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz zuerkannt worden sei. Nunmehr bestehe für den BF als junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann die Möglichkeit einer Rückkehr nach Afghanistan. Er habe sich in Österreich wertvolle Berufskenntnisse und anderes lebensnotwendiges Wissen aneignen können, welche ihm bei der Rückkehr von Vorteil sein könnten. Im Vergleich zum Zeitpunkt der Statuszuerkennung sei der BF erfahrener und selbstständiger geworden. Ihm sei einer innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif zumutbar. Er verfüge über Familienangehörige in Afghanistan und könnten ihn diese finanziell unterstützen. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen sei eine weitere soziale Unterstützung gegeben. Er habe ebenso die Möglichkeit, sich an diverse Hilfsorganisationen zu wenden und Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

15. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Er führte im Wesentlichen aus, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei der Prüfung der Änderung des maßgeblichen Sachverhaltes nicht die erstmalige Erteilung, sondern die letzte Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als Vergleichsentscheidung heranzuziehen sei. In Ansehung der Situation zum Zeitpunkt der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung im Juni 2018 könne keine nachhaltige Änderung, weder in der Person des BF, noch betreffend die Lage in Afghanistan erkannt werden, da der BF schon damals jung, gesund und arbeitsfähig gewesen sei und auch schon damals in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative erkannt worden sei. Der BF sei seit knapp neun Jahren in Österreich aufhältig, sei privat untergebracht, spreche Deutsch auf Niveau A2, sei strafgerichtlich unbescholten, seit 2016 erwerbstätig gewesen und derzeit aufgrund der COVID-19 Pandemie arbeitslos. Es bestehe ein schützenswertes Privatleben iSd Art. 8 EMRK.

16. Im Rahmen der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme des Bundesverwaltungsgerichtes wurde das Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Aktualisierung vom 21.07.2020, die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und der EASO-Bericht – Sozioökonomische Kennzahlen vom 20.04.2019 in das Verfahren eingebracht.

In seiner Stellungnahme vom 29.09.2020 zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 und den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 sowie EASO führte der BF zusammengefasst aus, dass es zu keiner Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan gekommen sei. Die Situation habe sich auch aufgrund der COVID-19 Pandemie erheblich verschlechtert. Die zugewonnene Erfahrung des BF in gewissen Arbeitsbereichen würde ihm im Vergleich zu 2015 beziehungsweise 2018 keinen Vorteil am afghanischen Arbeitsmarkt bringen. Der BF habe sich in Österreich beruflich und sozial integriert. Er habe gearbeitet, sei derzeit als Hilfskraft in einem Restaurant beschäftigt, habe die Integrationsprüfung auf Niveau A2 bestanden und habe sich ehrenamtlich in der Gemeinde engagiert.

17. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.09.2020 eine mündliche Verhandlung durch. Der BF gab an, er habe im Jahr 2017 oder 2018 acht Monate lang in Österreich bei einer Leasingfirma gearbeitet. Im Jahr 2016 sei er in einer Alkoholfabrik tätig gewesen. Seit 07.09.2020 arbeite er in einem Restaurant. Davor habe er etwa drei oder vier Monate Arbeitslosengeld bezogen. Er habe den Deutschkurs auf Niveau A1 bestanden und einen Deutschkurs auf Niveau A2 besucht. Seine Ehefrau und Kinder seien seit drei Monaten in Peshawar, Pakistan, aufhältig. Seine Eltern und Geschwister seien in der Heimatprovinz wohnhaft. Er habe Kontakt zu seinen Familienangehörigen. Manchmal schicke er seiner Ehefrau EUR 100,- oder EUR 200,-, manchmal erhalte sie Unterstützung vom Vater und Bruder des BF. Der Vater und die Brüder würden Einkommen aus der Bewirtschaftung der Felder der Familie beziehen. In Österreich seien keine Verwandten aufhältig. Er habe in Österreich Flüchtlinge als Freunde. In Zukunft wolle er in Österreich einen fixen Job bekommen und seine Familie nach Österreich holen. Er habe bereits zwei Mal eine Familienzusammenführung beantragt. Der BF legte einen aktuellen Arbeitsvertrag, einen Integrationsprüfungsabschluss auf Niveau A2 und diverse Lohnzettel vor.

18. Mit Schreiben vom 05.10.2020 brachte der BF eine Stellungnahme ein.

19. Mit Schreiben vom 25.11.2020 legte das BFA einem Bericht der LPD wegen des Verdachtes des Verstoßes gegen das Suchmittelgesetz vor. Darin wird ausgeführt, dass der BF verdächtig und geständig sei, Suchtgift erworben und auch konsumiert zu haben. Er bestreite, damit zu handeln. Der BF habe angegeben, rund zwei Mal wöchentlich Suchtgift zum Entspannen und aus Langeweile zu konsumieren.

20. Mit Schreiben des BFA vom 14.01.2021 wurden die Meldung der LPD vom 08.01.2021 sowie Amtsvermerke vom 05.01.2021 und 08.01.2021 betreffend die Delikte der Körperverletzung, der gefährlichen Drohung und der Sachbeschädigung vorgelegt.

In der Meldung der LPD vom 08.01.2021 wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF gegenüber den Beamten mehrmals angegeben habe, zurück nach Afghanistan zu wollen. In Afghanistan sei es besser und habe er dort ein besseres Leben – ohne Drogen, Alkohol und schlechte Menschen. Er sei in Österreich unglücklich.

Dem Amtsvermerk vom 05.01.2021 kann entnommen werden, dass der BF in seiner Befragung durch die Polizei angegeben habe, in Österreich illegale Substanzen (Crystal Meth, Kokain, Marihuana etc.) zu konsumieren und dem Alkoholmissbrauch verfallen zu sein. Daran seien die Menschen in Österreich schuld – „Satan“. Er wolle zurück nach Afghanistan. In Österreich seien alle Menschen ungläubig und schlecht. Sein Mitbewohner wolle verhindern, dass er zurück nach Afghanistan gehe; dieser sei ebenfalls ungläubig und „Satan“, daher sei es zum Streit gekommen und der BF habe einen Teller gegen das Fenster geworfen. Dabei seien beide Gegenstände zu Bruch gegangen. Überdies gab der BF an, seit wenigen Wochen seinen Glauben zu „Allah“ und der muslimischen Religion zu vertiefen. Er habe Kontakte zu „Gleichdenkenden“ knüpfen können. Er würde nunmehr acht Mal beten und habe eine Art Erleuchtung durch Gott erhalten. Er selber sehe sich als eine Art Gott.

Der Mitbewohner des BF gab an, der BF sei in den letzten Wochen immer aggressiver geworden und habe Kontakt zu stark an die muslimische Religion Glaubenden geknüpft. Es habe immer wieder Streit gegeben. Heute habe der BF einen Teller gegen das Fenster geschmissen, ihn geschubst, getreten, mit Gegenständen beworfen und mit beiden Händen gewürgt. Der BF habe immer wieder „Ich töte dich! Ich töte Satan. Ich bin Gott. Ich töte dich!“ geschrien. Er habe sich losreißen können. Dann sei die Polizei gekommen.

Der BF verneinte keine der Anschuldigungen seines Mitbewohners.

Der BF wurde von einem Amtsarzt untersucht. Dieser teilte mit, dass der BF Charakterzüge eines an Schizophrenie erkrankten Menschen zeige. Der BF wurde in den Neuromed Campus verbracht und stationär aufgenommen.

Beim BF wurde ein Klappmesser sichergestellt. Es wurde ein vorläufiges Waffenverbot sowie ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen.

Dem Amtsvermerk vom 08.01.2021 kann entnommen werden, dass es am 07.01.2021 zu einer weiteren gefährlichen Drohung des BF gegen seinen Mitbewohner gekommen ist. Der BF habe am Telefon einem Bekannten gesagt, dass sein Mitbewohner Glück gehabt habe. Er habe ihm die Kehle rausreißen wollen. Eine Rücksprache der LPD mit dem Krankenhaus habe ergeben, dass der BF am 08.01.2021 entlassen worden sei.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er ist traditionell verheiratet und hat zwei Kinder.

Der BF wurde in der Provinz Nangarhar geboren, wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern auf. Der BF besuchte rund fünf Jahre lang die Schule, er erlernte keinen Beruf. Er arbeitete mehrere Jahre in der Landwirtschaft.

Seine Eltern, Geschwister und Onkel sind weiterhin in der Herkunftsprovinz aufhältig. Seine Ehefrau und Kinder sind nunmehr in Pakistan wohnhaft. Er hat regelmäßig Kontakt zu seinen Angehörigen. Weiters hat er Kontakt zu Freunden in Afghanistan. Die Ehefrau und Kinder des BF werden durch den BF sowie den Vater und die Brüder des BF finanziell unterstützt.

Der BF gab in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.09.2020 an, gesund zu sein. Im Amtsvermerk der LPD vom 05.01.2021 wurde festgehalten, dass der BF laut Amtsarzt Charakterzüge eines an Schizophrenie erkrankten Menschen zeigt. Der BF befand sich von 05.01.2021 bis 08.01.2021 in stationärer Behandlung im Neuromed Campus. Ansonsten ist der BF gesund.

Der BF verfügt in Österreich über keine schützenswerten familiären oder privaten Bindungen. Er hat Deutschkurse sowie Integrationskurse besucht und die Prüfung auf Niveau A2 bestanden. Er lebt in Österreich in keiner Lebensgemeinschaft und hat in Österreich keine Verwandten.

BF war in Österreich im Dezember 2016, von April 2017 bis November 2017, von Februar 2018 bis September 2018, von Ende Dezember 2018 bis Ende Jänner 2019 und von Juni 2019 bis Oktober 2019 bei verschiedenen Arbeitgebern erwerbstätig. Seit September 2020 ist der BF als Küchenhilfe tätig.

Der BF ist privat untergebracht und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten liegen – ebenso wie zum Zeitpunkt der Ausfertigung des Erkenntnisses am 16.06.2015 – weiterhin vor. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan haben sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Erkenntnis vom 16.06.2015 sowie der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung am 04.06.2018 auch nicht wesentlich und nachhaltig verändert.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

XXXX Länderspezifische Anmerkungen COVID-19: Stand 21.07.2020

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt, mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet. 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte. Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden.

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung.

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen. Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert.

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet.

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren. Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen.

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden.

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken.

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten.

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt.

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet.

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht.

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie.

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird. Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen. Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind. Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete.

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte.

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte.

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet.

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (LIB, Kapitel 2).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB, Kapitel 2).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (LIB, Kapitel 2).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (LIB, Kapitel 2).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (LIB, Kapitel 2).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (LIB, Kapitel 2).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer Einrichtung entfernt (LIB, Kapitel 21).

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger/innen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel 21).

Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Gemäß Daten aus dem Jahr 2014 waren 73% der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte „Out-of-pocket“-Zahlungen durch Patienten, nur 5% der Gesamtausgaben im Gesundheitsbereich wurden vom Staat geleistet (LIB, Kapitel 21).

Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patient/innen in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren (LIB, Kapitel 21).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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