Entscheidungsdatum
02.03.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W142 2239382-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , StA. Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.12.2020, Zl. 1270422302/201071715, zu Recht erkannt:
A)
I.
Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG mit der Maßgabe stattgegeben, als die Dauer des Einreiseverbotes auf zwei Jahre herabgesetzt wird.
II.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein indischer Staatsangehöriger, reiste illegal und schlepperunterstützt ins Bundesgebiet ein. Am 28.10.2020 wurde er von der Polizei in der U-Bahn angehalten, aufgrund seines illegalen Aufenthaltes im Bundesgebiet vor Ort festgenommen und direkt in das Polizeianhaltezentrum verbracht.
Dort wurde am 29.10.2020 betreffend die beabsichtigte Schubhaft eine Einvernahme des BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) durchgeführt.
Nach Vorhalt, dass er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte bzw. ohne aufrechte Meldung sei, gab der BF an, im November 2019 aus Indien schlepperunterstützt mit dem Flugzeug ausgereist zu sein und er im März am Landweg illegal nach Österreich eingereist sei. Der Schlepper habe ihm versprochen, ihm ein Studentenvisum zu organisieren. Er habe keine Dokumente, der Reisepass sei beim Schlepper.
Zudem gab der BF zu Protokoll, gesund zu sein. Er heiße XXXX und sei am XXXX in XXXX (Distrikt Gurdaspur) geboren. Er sei ledig, habe keine Kinder und keine Sorgepflichten. Sein Vater sei im Jahr 2013 verstorben, seine Mutter wohne in XXXX und arbeite als Angestellte in einem Geschäft. Der BF habe in Österreich keine Familienangehörigen und sei von niemandem in Österreich finanziell abhängig. Er sei im März illegal nach Österreich eingereist. Nach Vorhalt, dass er im Zuge der polizeilichen Anhaltung angegeben habe, sich erst seit 10 Tagen im Bundesgebiet zu befinden und bei ihm drei Monatskarten für die öffentlichen Verkehrsmittel im Zeitraum von 01.08.2020 bis 02.11.2020 und drei Kaufbelege (erstmals vom 09.09.2020) sichergestellt worden seien, gab der BF an, nervös gewesen zu sein und nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Er sei nach Österreich gereist, weil er hier weiterstudieren habe wollen, er sei aber zur Erkenntnis gekommen, dass er nicht weitermachen könne. Er versuche Geld zu sammeln, damit er seine Reise zurück nach Indien organisieren könne. Er wolle zurück nach Indien, weil er hier in Österreich keine Zukunft mehr sehe. Der BF sei mit 200 EUR hergekommen, jetzt habe er nur mehr 30 EUR.
Befragt, wie er den Lebensunterhalt in Indien bestritten habe, gab der BF an, dass seine Familie eine eigene Landwirtschaft habe. Er habe studiert und den akademischen Grad BBA (Businessmanagement). Inzwischen habe er seinen Eltern in der Landwirtschaft geholfen und sei er auf Jobsuche gewesen. Auf die Frage, wo er sich bis zu seinem Aufgriff im Bundesgebiet aufgehalten habe, gab der BF an, keinen dauerhaften Wohnsitz zu haben. Er habe bei drei verschiedenen Leuten gewohnt, welche er im Tempel kennengelernt habe. Seit einem Monat wohne er bei Landsleuten, die Adresse kenne er nicht. Er besitze auch keinen Schlüssel für die Wohnung. Er habe nicht gewusst, dass er sich behördlich anmelden müsse. Seine Kleider seien in der Wohnung, sein Reisepass befinde sich beim Schlepper. Er versuche derzeit Dokumente aus Indien zu bekommen. Er habe mit seiner Mutter Kontakt aufgenommen, diese sei auf der Suche nach einer Reisepasskopie. Einer legalen Beschäftigung in Österreich sei er nicht nachgegangen. Derzeit stelle er Zeitungen zu, er sei bei dieser Arbeit aber nicht gemeldet. Er sei aber gezwungen Geld zu verdienen. Der BF sei 12 Jahre lang in die Schule gegangen, dann drei Jahre auf ein College, wo er den Abschluss in Business Management gemacht habe. Der BF werde in Indien nicht strafrechtlich verfolgt, er habe aber Probleme mit seinem Onkel. Es gäbe einen Grundstücksstreit. Die Frage, ob er in Indien jemals persönlich verfolgt oder bedroht worden sei, verneinte der BF. Er wolle nach Indien zurückkehren.
Nach Belehrung des BF, dass dieser zur Sicherung des Verfahrens und der Abschiebung in Schubhaft genommen werde bzw. in weiterer Folge auch eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot gegen ihn erlassen werde und im Anschluss der Dolmetscher mit ihm zusammen die Formblätter für ein Heimreisezertifikat ausfüllen werde; gab der BF an, so schnell wie möglich nach Indien zurück zu wollen.
2. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 29.10.2020 wurde gegenüber dem BF gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Dieser Bescheid wurde dem BF am 29.10.2020 übergeben.
3. Am 30.10.2020 stellte der BF aus dem Stande der Schubhaft den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
4. Am 31.10.2020 fand die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
Der BF gab ergänzend an, seine Muttersprache sei Punjabi, er spreche auch Hindi und Englisch. Er gehöre der Religionsgemeinschaft der Sikh und der Volksgruppe der Jat an. Er habe 12 Jahre die Grundschule und vier Jahre die Universität besucht. Er habe keine Berufsausbildung, zuletzt habe er als Landwirt gearbeitet. In Indien würden seine Mutter und die beiden Schwestern leben. Sein Vater sei bereit verstorben. Er habe in Indien in Punjab, Gurdaspur, XXXX gelebt.
Den Entschluss zur Ausreise habe er im Jahr 2017 gefasst. Er habe kein konkretes Reiseziel gehabt, sondern nach Europa kommen wollen, um hier zu studieren. Er sei am 01.11.2019 mit dem Flugzeug von Dehli und in Besitz eines indischen Reisepasses in ein ihn unbekanntes Land gereist. Nach dem Aussteigen habe ihm der Schlepper den Reisepass abgenommen und sei er danach über unbekannte Länder nach Österreich gekommen. Kurz nach seiner Einreise habe es einen Lock down gegeben, deswegen habe er keinen Asylantrag gestellt. Er habe sich seit Februar 2020 bei verschiedenen Indern aufgehalten.
Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, sein Onkel sei ein Terrorist. Er habe ihn mit dem Umbringen bedroht und auch seine Landwirtschaft in Besitz genommen. Diesbezüglich laufe ein Gerichtsverfahren. Bei einer Rückkehr befürchte er von seinem Onkel umgebracht zu werden.
5. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 11.11.2020 wurde wegen dem Kontakt zu einer an Covid-19 erkrankten Person die Absonderung des BF bis 14.11.2020 ausgesprochen.
6. Anlässlich einer niederschriftlichen Einvernahme durch das BFA am 28.12.2020 gab der BF zu seinen persönlichen Verhältnissen zu Protokoll, seine Muttersprache sei Punjabi, er spreche auch Englisch. Er sei auf einem College mit Wirtschaftszweig (Businessmanagement) gewesen. In Indien habe er nur studiert und seiner Familie in der Landwirtschaft geholfen. Er sei aktuell nicht in Behandlung und nehme keine Medikamente ein. Seine Mutter und zwei Schwestern würden in Indien leben. Sein Vater sei 2013 gestorben. Der dauerhafte Wohnsitz sei im Heimatdorf, die letzten zwei Jahre hätten sie alle zusammen in XXXX gelebt. Er habe in der Heimat Grundstücke. Eine Polizeidienststelle im Heimatland habe er aus eigenem Antrieb nie aufgesucht. Seine Heimat habe er im Jahr 2017 verlassen, den Monat wisse er nicht mehr. Er sei seit 4-5 Monaten in Österreich.
Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, dass ihn sein Freund, mit welchem er zusammenwohne, unterstütze. Er habe in etwa 20-30 EUR bei sich. Er könne als Zeitungszusteller arbeiten. Verwandte habe er hier nicht und lebe er auch mit niemanden in einer Familiengemeinschaft oder familienähnlichen Lebensgemeinschaft.
Befragt, warum er zu den Ladungen bis jetzt nicht erschienen sei, gab der BF an, es habe ein Problem mit der Uhrzeit gegeben bzw. er zwei Ladungen bekommen habe. Auf die Frage, warum er sich erst ca. zwei Wochen nach Verlassen der Unterkunft gemeldet habe, führte der BF aus, er habe beim Magistrat erst am 03.12.2020 einen Termin bekommen.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF vor (LA: Leiter der Amtshandlung; VP: Verfahrenspartei, BF):
„(…)
VP: Ich war am lernen und half meiner Familie im Haushalt aus. Mein Onkel väterlicherseits hat unser Grundstück besetzt und wollte es uns wegnehmen. Er meinte darauf auch, dass, falls ich dort bleibe ich umgebracht werde.
LA: Wie heißt Ihr Onkel?
VP: XXXX .
LA: Schildern Sie bitte die Bedrohungssituationen durch Ihren Onkel.
VP: Das war 2017, im Januar. Er wollte mich aufeinmal schlagen, aber ich bin zu Verwandten geflohen.
LA: War das der einzige Vorfall?
VP: Es passierte auch zuvor schon, aber es war nicht so gefährlich.
LA: Wie oft kam es zu Vorfällen mit Ihrem Onkel?
VP: Insgesamt dreimal, beim dritten mal bin ich dann geflüchtet.
LA: Wurden Sie verletzt?
VP: Ja, ich wurde mit einem Ziegelstück am Kopf verletzt.
LA: Bei welchem von den drei Vorfällen war das?
VP: Das war 2016.
LA: Wann haben die Probleme mit dem Onkel begonnen?
VP: Viel früher schon, als ich noch klein war. Früher als ich ein Kind war, hatte er schon Probleme mit meinem Vater.
LA: Wie waren die Probleme mit dem Vater?
VP: Als mein Onkel Schwierigkeiten wegen den falschen Sachen hatte und von der Polizei mitgenommen wurde, wurde auch mein Vater mitgenommen. Auch meinem Vater wurde Terrorismus vorgeworfen. Das meinte ich mit der falschen Sache.
LA: Ist Ihr Onkel Terrorist?
VP: Jetzt nicht. Aber es läuft noch eine alte Anzeige gegen ihn.
LA: Gab es vorher schon Anzeigen gegen den Onkel wegen Terrorismus?
VP: Ja, er war auch im Gefängnis.
LA: Welche terroristischen Aktivitäten hat Ihr Onkel gemacht?
VP: Ich weiß ja nicht soviel. Ich weiß, dass er im Gefängnis von XXXX war. Wann weiß ich nicht.
LA: Waren Sie wegen Ihren Verletzungen im Krankenhaus oder beim Arzt?
VP: Ja.
LA: Was hat der Arzt gesagt?
VP: Der Arzt?
LA: Wegen Ihren Verletzungen?
VP: Was wegen den Verletzungen?
LA: Sie haben angegeben, dass Sie wegen den Verletzungen am Kopf durch Ihren Onkel beim Arzt waren. Was hat der Arzt zu Ihnen deswegen gesagt?
VP: Der Arzt hat mir nichts gesagt. Er hat mir eine Bandage gegeben und mit Medikamente verschrieben.
LA: Wie lange nach der letzten Attacke durch Ihren Onkel haben Sie nich in Indien gelebt?
VP: Lediglich 1-2 Monate.
LA: Hat er auch die anderen Mitglieder Ihrer Familie bedroht?
VP: Ja, er hat auch meine Mutter bedroht. Auch meine Mutter wurde physisch gefoltert. Sie wurde geschlagen.
LA: War Ihre Mutter auch im Krankenhaus?
VP: Nein.
LA: Wo befindet sich Ihre Mutter derzeit?
VP: In Indien.
LA: Waren Sie bei der Polizei wegen der Auseinandersetzungen mit dem Onkel?
VP: Ja, war ich, aber sie haben mir nicht geholfen.
LA: Woher wissen Sie, dass die Polizei untätig war?
VP: Sie haben kein Verfahren eingeleitet. Keine rechtlichen Schritte.
LA: Aber woher wissen Sie das?
VP: Die Polizeistation liegt gleich in der Nähe von uns. Ich bin dorthingegangen um eine Beschwerde darüber einzubringen, dass er uns zuhause bedroht und schlägt. Sie haben mich immer wieder vertröstet darauf, dass sie kommen werden.
LA: Wie oft waren Sie bei der Polizei?
VP: Dreimal. Einmal 2016 und zweimal nachdem ich an der Stirn verletzt wurde.
LA: Wann genau nach dem letzten Vorfall waren Sie bei der Polizei?
VP: Einmal gleich nachdem mir der Arzt die Bandage gab. Nachdem die Polizei dann kein Verfahren einleitete, 3-4 Tage daraufhin nochmal.
LA: Warum haben Sie nicht gleich einen Asylantrag gestellt, als Sie in Österreich ankamen?
VP: Als ich hierherkam, gab es den Lockdown hier.
LA: Aber zwischen Ihrer Ankunft in Österreich und Ihrer Asyxlantragstellung gab es auch monatelang keinen Lockdown.
VP: Manchmal war ich bei den Freunden… Manchmal bei denen…
LA: Bei Ihrer Einvernahme betreffend Ihrer Schubhaft am 29.10.2020, also zwei Tage vor Ihrer Erstbefragung, haben Sie ua. angegeben, dass Sie nach Österreich gekommen sind um hier weiterzustudieren, dass Sie in Indien niemals persönlich verfolgt oder bedroht wurden und dass Sie nach Indien zurück wollen, weil Sie in Österreich keine Zukunft mehr sehen. Was sagen Sie dazu?
VP: Das stimmte damals, aber ich möchte nun hier leben.
LA: Wie kann es vor ca. zwei Monate gestimmt haben, dass Sie in Indien niemals bedroht wurden aber es heute nicht mehr stimmen?
VP: Nein, als ich in Schubhaft war und das Interview hatte, habe ich auch das selbe gesagt wie heute.
LA: Bei Ihrer Erstbefragung haben Sie auch angegeben, dass bereits ein Verfahren gegen Ihren Onkel aufgrund der Grundstücksstreitigkeiten läuft. Heute geben Sie gegenteiliges an. Was sagen Sie dazu?
VP: Nein, auch heute sage ich ja das selbe.
LA: Waren das alle Ihre Fluchtgründe?
VP: Ja.
LA: Vorh.: Aus den von Ihnen behaupteten Gründen warum Sie Ihr Land verlassen haben ist weder ein Asylstatus noch subsidiäre Schutzberechtigung herzuleiten noch ist jenes Vorbringen dazu geeignet eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK glaubhaft zu machen. Was sagen Sie dazu?
VP: Ich benötige es jetzt.
LA: Was hätten Sie bei einer Rückkehr in Ihr Heimatland zu befürchten?
VP: Mein Leben wäre wieder in Gefahr.
…
LA: Was werden Sie im Falle einer negativen Entscheidung in Ihrem Asylverfahren machen? Werden Sie freiwillig in Ihre Heimat zurückkehren?
VP: Nein, ich kann ja jetzt nicht zurückgehen.
(…)“
7. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Zudem wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein auf Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Das BFA stellte im Wesentlichen fest, dass der BF indischer Staatsangehöriger sei, der Religion der Sikhs und der Volksgruppe der Jat angehöre. Er sei in XXXX geboren, bis zu seiner Ausreise habe er in XXXX gelebt. Er habe 12 Jahre die Grundschule, 4 Jahre die Universität besucht und verfüge über Berufserfahrung. Seine Ausführungen zu den Gründen für seine Ausreise seien nicht glaubhaft. Eine asylrelevante individuelle Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Indien habe nicht festgestellt werden können. Er sei gesund sowie arbeitsfähig und könne seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit bestreiten. Seine Familie sei nach wie vor in Indien aufhältig und sei nicht ersichtlich, dass diese ihm eine Unterstützung untersagen sollten. Bei einer Rückkehr sei nicht mit dem Entzug der Lebensgrundlage zu rechnen und würde er nicht in eine aussichtslose Situation geraten. Er sei im Februar 2020 ins Bundesgebiet eingereist, habe hier keine Angehörigen und keine maßgeblichen privaten Interessen oder sozialen Kontakte. Er habe keine Deutschkenntnisse erworben und sei nicht Mitglied in Vereinen.
Zum Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass der BF den Besitz der Mittel zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet nicht habe nachweisen können und er auch über keine ausreichenden Existenzmittel aus legalen Quellen verfüge, weshalb er die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie das wirtschaftliche Wohl des Landes gefährde. Es sei davon auszugehen, dass er zur Finanzierung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet auf illegale Tätigkeiten zurückgreifen werde oder eine Belastung für die öffentliche Hand werde. Aus dem bisherigen Verhalten des BF (Mittellosigkeit, Umgehung des Meldegesetzes) ergebe sich eine negative Zukunftsprognose. Mit der Dauer des Einreiseverbotes werde sichergestellt, dass der BF nicht neuerlich unrechtmäßig ins Bundesgebiet einreise und seinen Aufenthalt dazu nutze, um einer illegalen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Als mildernd sei aber zu berücksichtigen, dass der BF sein Fehlverhalten einsehe, kooperativ und unbescholten sei. Das Einreiseverbot in der Dauer von drei Jahren sei daher in einer Gesamtbeurteilung seines Verhaltens, seiner Lebensumstände und seiner privaten und familiären Anknüpfungspunkte gerechtfertigt und notwendig.
8. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Als Beschwerdegründe wurden unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht. Der BF habe als Fluchtgründe eine Verfolgung aus politischen/religiösen Gründen bzw. eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geltend gemacht. Der BF sei schwerwiegenden Verfolgungshandlungen durch die indischen Behörden ausgesetzt gewesen. Die Erklärungen bzw. die Beweiswürdigung der Behörde seien in keiner Weise nachvollziehbar und würden nicht mit dem Einvernahmeprotokoll übereinstimmen. Die Annahme, dass der BF keine Details zu seinen Fluchtgründen angegeben habe, sei nicht richtig, sondern habe er genaue Zeit- und Ortsangaben gemacht, die Ereignisse chronologisch geschildert und nebensächliche Detailangaben gemacht. Die Behauptung des BFA, die Erklärung des BF sei nicht erlebnisnah gewesen, sei angesichts des Protokolls und im Hinblick auf seinen Bildungsgrad nicht nachvollziehbar. Der BF sei in seinen Wahrnehmungen aufgrund der Unübersichtlichkeit der Ereignisse überfordert und seien diese auch traumatisierend gewesen. Es dränge sich der Eindruck auf, dass die Behörde in der Beweiswürdigung bereits eine vorgefasste Meinung ausgeführt habe und seien auch keine weiteren Ermittlungen zu den Fluchtgründen des BF getätigt worden. Der BF habe in der Einvernahme auch klargestellt, dass die Verfolgungshandlungen bis zu seiner Flucht angedauert hätten. Aus dem Protokoll gehe hervor, dass die indischen Behörden ihm gegenüber schutzunwillig/schutzunfähig gewesen seien, zumal die politisch motivierte Verfolgung gerade auch von den indischen Behörden ausgegangen sei. Im Falle des BF sei die indische Polizei nicht funktionsfähig, dies wäre von der Behörde jedenfalls – eventuell durch eine Recherche vor Ort – zu untersuchen gewesen. Auch der mit Frage der Schutzwilligkeit der indischen Behörden habe sich die Behörde nicht auseinandergesetzt, dies stelle einen Begründungsmangel dar. Der BF habe in der Einvernahme erklärt, dass er keinen Schutz der indischen Behörden erhalten habe können. Auch die pauschale Behauptung des BFA, wonach es in Indien für jeden eine IFA gäbe, sei nicht zutreffend. Für den BF bestehe im Falle einer Abschiebung aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage und der hoffnungslosen Situation die reale Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung. Er würde auch in eine existenzbedrohende Lage geraten und verfüge in Indien über kein Auffangnetz. Er sei aus seiner Heimat entwurzelt. Dem BF sei daher Asyl, ansonsten subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Auch mit dem Privat- und Familienleben habe sich das BFA nicht hinreichend beschäftigt. Er habe sich intensiv um die Anpassung an das Leben in Österreich bemüht, die deutsche Sprache gelernt, intensive soziale Kontakte geknüpft, sei unbescholten und selbsterhaltungsfähig. Eine Rückkehrentscheidung sei daher unzulässig. Auch die Begründung des Einreiseverbotes sei nicht nachvollziehbar. Der BF sei rechtmäßig auf selbstständiger Basis als Zeitungsausträger beschäftigt und komme für seinen eigenen Lebensunterhalt auf. Der BF habe auch glaubwürdig erklärt, dass die Verzögerung der Anmeldung seines Wohnsitzes durch die Corona-Maßnahmen und die Notwendigkeit einer Terminvereinbarung beim Bezirksamt entstanden sei. Es bestehe daher kein dringender Anlass ein Einreiseverbot zu erlassen. Die Behörde habe auch keine nachvollziehbaren Überlegungen bezüglich der Länge des Einreiseverbotes gemacht. Es sei – wenn überhaupt – ein kürzeres Verbot angemessen. Das BFA habe es verabsäumt, sich mit der konkreten Situation des BF und der aktuellen Situation in Indien auseinanderzusetzen, dies stelle eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens dar und sei eine rechtliche Auseinandersetzung mit seinem Vorbringen nicht möglich. Abschließend wurde unter anderem beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen bzw. das Einreiseverbot aufzuheben bzw. dessen Dauer herabzusetzen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des BF und zum Verfahrensgang:
Der BF ist Staatsangehöriger von Indien, der Volksgruppe der Jat sowie der Glaubensrichtung der Sikh zugehörig. Seine Identität steht nicht fest. Die Muttersprache des BF ist Punjabi. Der BF ist ledig und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF stammt aus der Provinz Punjab in Indien und hat dort vor seiner Ausreise nach Europa in Amritsar gelebt. Er hat in Indien 12 Jahre die Grundschule und danach etwa 3-4 Jahre lang ein College bzw. eine Universität besucht. Nebenbei hat er in der Landwirtschaft seiner Familie gearbeitet. In Indien hat der BF Familienangehörige, insbesondere seine Mutter sowie zwei Schwestern. Der BF steht mit seiner Mutter in Indien in Kontakt.
Der BF reiste im Februar 2020 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 28.10.2020 wurde er von der Polizei in der U-Bahn angehalten, aufgrund seines illegalen Aufenthaltes im Bundesgebiet festgenommen und über ihn am 29.10.2020 die Schubhaft verhängt. Am 30.10.2020 stellte der BF – aus dem Stande der Schubhaft - den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er verfügt im Bundesgebiet über keinerlei Familienangehörige oder intensive soziale Kontakte und weist keine nennenswerten Deutschkenntnisse auf. Er geht keiner legalen Arbeit nach und bezieht auch keine Leistungen aus der Grundversorgung.
Im Strafregister des BF scheint keine Verurteilung auf.
1.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des BF:
Die Verfolgungsbehauptungen des BF sind nicht glaubhaft. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF in Indien eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung droht.
1.3. Zur Situation in Indien sowie einer möglichen Rückkehr des BF dorthin:
Der BF läuft nicht konkret Gefahr, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden oder in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Notlage zu geraten.
1.4. Zum Herkunftsstaat wird auf folgende Feststellungen des BFA verwiesen:
COVID-19
Letzte Änderung: 22.10.2020
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Quellen:
? BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (12.10.2020): https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw42-2020.pdf;jsessionid=91E533F0FC7A0F35C0751A9F00F3D711.internet572?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 12.10.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? WKO - Aussenwirtschaft Austria (10.2020): Aussen Wirtschaft Wirtschaftsbereich Indien, WIRTSCHAFTSBERICHT Indien (Q1–Q22020), https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdfhttps://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 21.10.2020
Politische Lage
Letzte Änderung: 23.10.2020
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 15.10.2020
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 15.10.2020
? AA – Auswärtiges Amt (9.2020a): Indien: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 15.10.2020
? BICC - Bonn International Centre for Conversion (7.2020): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2020_Indien.pdf, Zugriff 20.10.2020
? CIA - Central Intelligence Agency (5.10.2020): The World Factbook – India, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 15.10.2020
? DW – Deutsche Welle (27.2.2020): Sierens China: Schwieriges Dreiecksverhältnis, https://www.dw.com/de/sierens-china-schwieriges-dreiecksverh%C3%A4ltnis/a-52556817, Zugriff 28.2.2020
? FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2020): Immer mehr Tote nach Unruhen in Delhi, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indien-tote-bei-gewalt-zwischen-hindus-und-muslimen-in-delhi-16652177.html, Zugriff 28.2.2020
? GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2020a): Indien, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 15.10.2020
? KBS – Korean Broadcasting System (12.2.2020): Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, http://world.kbs.co.kr/service/contents_view.htmlang=g&board_seq=379626, Zugriff 14.2.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? Quantara.de (14.2.2020): Herbe Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, https://de.qantara.de/content/herbe-niederlage-fuer-indiens-regierungschef-modi-bei-wahl-in-neu-delhi, Zugriff 20.2.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Indiens Ringen um die Staatsbürgerschaft, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A02_wgnArora_WEB.pdf, Zugriff 18.2.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Keine Ruhe in Kaschmir. Die Auflösung des Bundesstaats und die Folgen für Indien, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/, Zugriff 16.1.2020
? TG – The Guardian (26.2.2020): Anti-Muslim violence in Delhi serves Modi well, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/26/violence-delhi-modi-project-bjp-citizenship-law, Zugriff 28.2.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 06.11.2020
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Punjab
Letzte Änderung: 23.10.2020
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).
Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Per 13.10.2020 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 13.10.2020).
In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).
Quellen:
? BBC - British Broadcasting Corporation (20.10.2015): Why are Indian Sikhs angry?, http://www.bbc.com/news/world-asia-india-34578463, Zugriff 18.10.2018
? MoHA - Government of India, Ministry of Home Affairs, Office of the Registrar General & Census Commissioner, India (o.D.): C-1 Population By Religious Community, http://www.censusindia.gov.in/2011census/C-01.html, Zugriff 18.10.2018
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? SATP - South Asia Terrorism Portal (13.10.2020): Datasheet – Punjab, Data View, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india-punjab, Zugriff 15.10.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
? USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004219.html, Zugriff 13.8.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 05.11.2020
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 23.9.2020). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).
Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public Safety Act) ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
? CM – Citizen Matters (2.8.2017): A guide to filing a Public Interest Litigation (PIL), http://citizenmatters.in/a-guide-to-filing-a-public-interest-litigation-pil-4539, Zugriff 13.8.2019
? Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 05.11.2020
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).
Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 7.2020). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 23.9.2020; vgl. BICC 7