Entscheidungsdatum
03.03.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W258 2147117-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116/17–19, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.01.2021, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (in Folge kurz „BF“) stellte am XXXX in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX und in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am XXXX brachte der BF im Wesentlichen vor, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“), stamme aus dem Dorf Yassinzai, Distrikt Nejrab, Provinz Kapisa, sei Sunnit und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Aus Afghanistan sei er wegen der Taliban geflohen, die ihn bedrohen würden, weil er eine Universität besucht habe und sein älterer Bruder Polizist sei.
Die belangte Behörde wies den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, sprach aus, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise des BF mit vierzehn Tagen fest (Spruchpunkt IV.).
Dagegen richtet sich die gegenständliche Beschwerde des BF, in der die Beweiswürdigung der belangten Behörde bekämpft und auf die Unzulässigkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in der Stadt Kabul sowie auf die verschlechterte Sicherheitslage in Afghanistan hingewiesen wird.
Am 21.01.2021 wurde über die Beschwerde hg mündlich verhandelt.
Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF als Partei sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:
? Strafregisterauszug des BF vom 21.01.2021,
? EASO – European Asylum Support Office Country Guidance Afghanistan; Guidance note and common analysis, Juni 2019 als Beilage ./I,
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, vom 16.12.2020 als Beilage ./II,
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 als Beilage ./III,
? Empfehlungsschreiben der XXXX , Verein „ XXXX “, vom 09.01.2021,
? Empfehlungsschreiben der XXXX vom 30.12.2020 und eine
? Bestätigung des WIFI über die Teilnahme am Kurs „Nachholen des Pflichtschulabschlusses“ vom 13.10.2020.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Der folgende Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur individuellen Situation des BF:
1.1.1. Allgemeines:
Der männliche BF, ein Staatsangehöriger Afghanistans, ist volljährig, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, ist Sunnit und spricht als Muttersprache Paschtu und fließend Dari. Er wurde am XXXX in Afghanistan in Yassinzai im Distrikt Nejrab in der Provinz Kapisa geboren, wo er aufgewachsen ist und bis 2010 oder 2011 gelebt hat. Danach hat bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 in der Stadt Kabul gelebt, wo er die Schule und die Universität besucht hat.
Der BF ist aus Afghanistan schlepperunterstützt ausgereist und unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet eingereist, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.
1.1.2. Zu den Fluchtgründen:
Der BF wurde und wird in Afghanistan individuell weder bedroht noch kam es zu Übergriffen auf ihn.
Zur Tätigkeit des Bruders des BF für die afghanischen Sicherheitskräfte:
Der ältere Bruder des BF, XXXX , war Polizist in einem Bezirk in der Stadt Kabul und kommandierte eine Einheit von sieben oder acht Polizisten. Er ist im Jahr 2020 von Unbekannten erschossen worden.
1.1.3. Zur individuellen Situation des BF in Bezug auf eine Rückkehr in den Herkunftsstaat:
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er gehört keiner COVID-19 Risikogruppe an. Er hat in Afghanistan zwölf Jahre Schulbildung und drei Semester universitäre Ausbildung als Bauingenieur genossen. Der BF verfügt über eineinhalb Jahre Berufserfahrung als Lebensmittelverkäufer.
Folgende Familienmitglieder des BF leben in Afghanistan: seine Eltern, eine verheiratete und eine ledige Schwester und ein Onkel, die alle in der Heimatregion des BF leben und mit denen er in Kontakt steht bzw ein Kontakt möglich ist. Die finanzielle Lage seiner Verwandten ist schlecht, wobei sein Vater Eigentümer eines Hauses in Kapisa ist.
Der BF ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise vertraut. Er verfügt über eine „Tatzkira“. Er hat in Mazar-e Sharif keine Ortskenntnisse.
1.1.4. Zum Privat- und Familienleben und zur Integration des BF in Österreich:
Zum Bestehen eines Familienlebens:
Der BF verfügt in Österreich über keine Familie oder Verwandte und keine vergleichbaren engen sozialen Bindungen.
Zum Bestehen eines Privatlebens und der Integration des BF in Österreich:
Der BF ist seit seiner Antragstellung am XXXX aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Der BF bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat die ÖSD-Deutschprüfung Niveau A1 absolviert, versteht und spricht aber ein darüberhinausgehendes, einfaches Deutsch. Er hat keine wesentlichen typischen westlichen Werte übernommen.
Der BF besucht seit 28.09.2020 einen WIFI Kurs „Nachholen des Pflichtschulabschlusses“.
Der BF hat in Österreich nicht entgeltlich gearbeitet. Er verfügt über eine Arbeitsplatzzusage für einen Supermarkt und zwei Pizzerien.
Der BF war in Österreich ehrenamtlich bzw gemeinnützig tätig. Er hat vor der COVID19-Pandemie für etwa fünf bis sechs Monate andere Asylwerber bei der Integration in Amstetten unterstützt und seit 2018 etwa einmal pro Monat den Verein „ XXXX “ besucht, in dem er aktiv mitarbeitet. Er hat aber nicht an jedem monatlichen Treffen und seit der Corona-Pandemie an keinem Treffen mehr teilgenommen. Derzeit hält er mit dem Verein telefonisch Kontakt.
Der BF pflegt soziale Kontakte mit Kollegen aus einem von ihm vormals besuchten Kurs, mit denen er sich bis zur Corona Pandemie etwa zwei Mal pro Monat getroffen hat, um ua Kaffee zu trinken oder gemeinsam schwimmen zu gehen. Er hat weitere Sozialkontakte über seine sportlichen Aktivitäten, nämlich Fuß- und Volleyball. Er besucht regelmäßig seine österreichischen Nachbarn.
Zu etwaigen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung:
Seit er unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet eingereist ist, hat der BF nicht mehr gegen die öffentliche Ordnung verstoßen.
1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
1.2.1. Sicherheitslage (LIB Kapitel 5):
Allgemeines:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.
Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Attacken der Taliban im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.
High-Profile Angriffe (HPAs):
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88.
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019.
Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte, wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein.
Zum Friedens- und Versöhnungsprozess mit den Taliban (LIB Kapitel 4):
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.
Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben. Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind. Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben.
1.2.2. Zur COVID-19 Pandemie und ihren Auswirkungen (LIB Kapitel 3):
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat.
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden.
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet.
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19.
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten.
Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19. Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen. In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben.
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (etwa Zucker, Öl und Reis) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark.
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst.
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne.
Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind.
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt, wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind. Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam.
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an. Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt – zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020.
1.2.3. Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen (LIB Kapitel 22, 22.1 und 24):
Wohnungsbeihilfe
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht. (LIB Kapitel 24)
Unterstützung bei Arbeitslosigkeit
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang – als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.
Sonstige staatliche Leistungen
Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es, von einigen Ausnahmen abgesehen (zB Armee und Polizei), nicht. Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch. Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Manche Arbeitgeber zahlen ihren Angestellten Abfertigungen, welche die Angestellten sich nach einem gewissen Zeitraum ausbezahlen lassen können. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.
Im Rahmen des zehn Jahre andauernden „Citizens’ Charter National Priority Program“ wurde im Jahr 2016 das Citizens’ Charter Afghanistan Project ins Leben gerufen. Es zielt darauf ab, die Armut in teilnehmenden Gemeinschaften zu reduzieren und den Lebensstandard zu verbessern, indem die Kerninfrastruktur und soziale Leistungen durch Community Development Councils (CDCs) gestärkt werden. Das CCAP soll Entwicklungsprojekte unterschiedlicher Ministerien umsetzen und zu einem größeren Nutzen für die betroffenen Gemeinschaften führen. Ziel des Projektes war es von Anfang an, 3,4 Millionen Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu ermöglichen, die Qualität von Dienstleistung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, ländliche Straßen und Elektrizität zu verbessern sowie die Zufriedenheit der Bürger/innen mit der Regierung und das Vertrauen in selbige zu steigern. Außerdem sollten vulnerable Personen – Frauen, Binnenvertriebene, behinderte und arme Menschen – besser integriert werden. Alleine im Jahr 2016 konnten 9,3 Millionen Afghan/innen von den Projekten profitieren. Im Rahmen des CCAP wurden auch Sensibilisierungskampagnen betreffend COVID-19 in ländlichen Gebieten durchgeführt. Bis Juni 2020 wurden Treffen mit Ratsmitgliedern und Mullahs in etwa 12.000 Gemeinden in 124 Bezirken in ganz Afghanistan abgehalten.
1.2.4. Medizinische Versorgung:
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 23).
Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich.
Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. (LIB, Kapitel 23)
1.2.5. Situation für Rückkehrer/innen:
Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan mit Stand 24.09.2020 über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar. Diese Flugverbindungen sind derzeit allerdings unzuverlässig, sie können auf Grund der Pandemie gestrichen oder verschoben werden.
Im Zeitraum vom 01.01.2020 bis 12.09.2020 kehrten insgesamt 527.546 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück (LIB, Kapitel 24). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, weil sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen.
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 24).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (LIB, Kapitel 24). Sie wurden Berichten zufolge von regierungsfeindlichen Gruppen bedroht, gefoltert oder getötet, weil sie sich vermeintlich die diesen Ländern zugeschriebenen Werte zu eigen gemacht hätten, „Ausländer“ geworden seien oder als Spione oder auf andere Weise ein westliches Land unterstützten. Heimkehrern wird von der örtlichen Gemeinschaft, aber auch von Staatsbeamten oft Misstrauen entgegengebracht, was zu Diskriminierung und Isolierung führt. (UNHCR 30.08.2018 S 52 f) Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 24).
Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 24).
Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 24).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 24).
Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM, wobei jedenfalls letztere trotz der Pandemie mit Stand 22.09.2020 weiterhin in Afghanistan operativ sind, in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 24).
Auch IOM Österreich unterstützt derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Kapitel 24).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Für 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von EUR 500,00 wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von EUR 2.800,00 geplant. Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. In Afghanistan werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. (LIB, Kapitel 24)
IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA – Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst eine kurze medizinische Untersuchung auf unmittelbare medizinische Bedürfnisse und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund EUR 140,00) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen.
1.2.6. Erreichbarkeit (LIB, Kapitel 5.35.):
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, die Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege.
Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans. Die Kernfrage bleibt nach wie vor die Sicherheit. Es existieren einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamiyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali.
In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen Anstieg in der Zahl ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul – Herat und Kabul – Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, werden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt.
Internationaler Flughafen Kabul
Der Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul ist ein internationaler. Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt.
Folgende internationale Airlines fliegen nach Kabul: Turkish Airlines aus Istanbul, Silk Way Airlines aus Baku, Emirates und Flydubai aus Dubai, Air Arabia aus Sharjah, Mahan Air aus Teheran und Emirates aus Hong Kong.
Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) fliegen Kabul international aus Istanbul, Ankara, Medina, Dubai, Urumqi, Dushambe an.
Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Zaranj, Farah, Herat, Mazar-e Sharif, Maimana, Bamian, Faizabad, Chighcheran und Tarinkot.
1.2.7. Zur Lage in der Heimatregion des BF, Kapisa (LIB):
Kapisa ist eine kleine Provinz und Aufständische können die Provinzhauptstadt von Kapisa und die Nachbarprovinzen leicht erreichen. Es gibt eine Taliban-Präsenz in einigen der Distrikte, welche nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen. Nach Schätzungen des Long War Journal waren die Distrikte Alasai, Nijrab und Tagab im November 2020 umkämpft, während die übrigen Distrikte unter Regierungskontrolle standen.
Nach US-Geheimdienstinformationen unterhält der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) eine kleine Zelle in Kapisa.
Es kommt in der Provinz zu Kämpfen, wobei die Taliban Sicherheitsposten der Regierung, Militärbasen und Dörfer sowie ein Distriktzentrum angriffen und die Regierungskräfte Räumungsoperationen durchführten. Auch fanden Luftangriffe oder Drohnenschläge der US-amerikanischen Streitkräfte statt. Weiters wurde von Explosionen von Sprengfallen am Straßenrand in der Provinz berichtet.
Im Jahr 2019 kam es in Nijrab zu 35 sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zumindest einem Todesopfer. Im Jahr 2020 kam es bis 30.09.2020 zu 17 sicherheitsrelevanten Vorfällen ohne Todesopfer und elf Sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zumindest einem Todesopfer.
1.2.8. Zur Lage in der Provinz Balkh im Allgemeinen und in Mazar-e Sharif im Besonderen:
Allgemeines (LIB Kapitel 5.5.)
Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. In Balkh leben geschätzt etwa 1.590.183 Personen, davon 484.492 in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird.
Sicherheitslage (LIB Kapitel 5.5.)
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, weil militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz. Zuletzt zählte Balkh zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes bzw als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land. Anfang Oktober 2020 stand der Distrikt Dawlat Abad unter Talibankontrolle, die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari sind umkämpft. Es kam zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch.
Es kommt zu Selbstmordanschlägen und IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand und an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs). Zivilisten werden entführt und ermordet.
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. Im Zeitraum 01.01.2020 bis 30.9.2020 dokumentierte UNAMA in der Provinz 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte), was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen.
Mazar-e Sharif ist vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind meist Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften.
Konkret wurden im Jahr 2019 in Mazar-e Sharif insgesamt vierzehn sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert, wobei bei sieben Vorfällen zumindest ein Todesopfer zu beklagen war. Im Jahr 2020 wurden in Mazar-e Sharif bis zum 30.09.2020 insgesamt zehn sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, wobei bei neun Vorfällen zumindest ein Todesopfer zu beklagen war.
Wirtschafts- und Versorgungslage (LIB Kapitel 22 und weitere jeweils zitierte Quellen)
Arbeitsmarkt
Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage. Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten. Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren. Die Arbeitsmarktsituation ist auch In Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden.
Wohnraum
In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden.
Nahrungsmittelversorgung
Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter und hatte zerstörerische Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken.
Günstige Regenfälle im Frühling und beinahe normale Temperaturen hatten 2019 die Weidebedingungen wieder verbessert. Da sich viele Haushalte noch von der Dürre des Jahres 2018 erholen mussten, galt die Ernährungslage für viele Haushalte im Zeitraum Oktober 2019 bis Jänner 2020, weiterhin als „angespannt“ bis „krisenhaft“.
Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge, Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen. Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren.
Günstige Wetterbedingungen während der Pflanzsaison 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19 bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, weil sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten.
Die Nahrungsmittelversorgung ist daher angespannt, sie ist aber für Personen grundsätzlich verfügbar, die für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen können (EASO, Seite 38; aus der kürzlich veröffentlichten EASO Country Guidance von Dezember 2020 ergeben sich diesbezüglich keine Änderung [EASO 12/2020 S 167]).
Trinkwasser/Kanalisation
Die meisten Bewohner Mazar-e Sharif haben Zugang zu verbesserten Quellen von Trinkwasser (76 Prozent), üblicherweise über Wasserleitungen oder Brunnen. Etwa 92 Prozent aller Haushalte haben einen Kanalanschluss (EASO S 133; aus der kürzlich veröffentlichten EASO Country Guidance von Dezember 2020 ergeben sich diesbezüglich keine Änderung [EASO 12/2020 S 169]).
Gesundheitsversorgung
Es gibt etwa 10 bis 15 Krankenhäuer und 30 bis 50 Gesundheitszentren in Mazar-e Sharif. Zwei Einrichtungen stehen für geistige Erkrankungen zur Verfügung (EASO 133; aus der kürzlich veröffentlichten EASO Country Guidance von Dezember 2020 ergeben sich diesbezüglich keine Änderung [EASO 12/2020 S 173]).
Erreichbarkeit
In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen.
1.2.9. Zum Risiko von Personen die für die Afghanischen Sicherheitskräfte tätig sind, denen eine solche Tätigkeit unterstellt wird, und ihren Angehörigen:
Mitarbeiter der Afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) sind im Dienst und außerhalb des Diensts ein häufiges Ziel von Angriffen von Aufständischen. Derartige Angriffe können an Orten erfolgen, an denen sich ANSF Mitarbeiter versammeln, etwa in Armee-Stützpunkten, Polizeistationen oder wenn sie sich bei Banken anstellen. Angriffe bestehen auch in gezielten Angriffen und Entführungen im ländlichen und im städtischen Gebiet.
Die wichtigsten Ziele für gezielte Angriffe der Taliban sind Offiziere der nationalen Sicherheitsdirektion (NDS), Mitglieder lokaler aufständischer Milizen, die afghanische Lokalpolizei und andere, welche die Taliban als „schwer zu besiegen“ einschätzen.
Weiters durchsuchen die Taliban Passagiere an ihren Straßensperren um Sicherheitspersonal zu entdecken, zu entführen oder zu töten.
Einzelpersonen die diesem Profil entsprechen werden auch von anderen Gruppierungen von Aufständischen als legitime Ziele angesehen, etwa vom „Islamischen Staat“ (ISKP).
Aufständische haben auch Familienmitglieder, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Sicherheitskräften angegriffen. Auf sie wird oft Druck ausgeübt, um ihre Verwandten davon zu überzeugen, ihre Arbeit bei den Sicherheitskräften aufzugeben. Sie werden mit Bestrafungen bedroht, sollten sie dies verweigern. In manchen Fällen wurden Verwandte sogar hinrichtet. Auch ehemalige Mitglieder der ANSF wurden Ziel von Angriffen, nachdem sie die ANSF bereits verlassen hatten.
Am 6. März 2017 entführten regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) 35 erwachsene Männer aus den Dörfern Jamak, Chini, Shin Karez, Farmo und Bawri, nachdem sie nach Verwandten von Regierungsmitgliedern und afghanischen nationalen Sicherheitskräften gesucht hatten.
Regierungsfeindliche Kräfte töteten oftmals jene entführten Personen, die sie als afghanische nationale Sicherheitskräfte außer Dienst, deren Familienmitglieder oder zivile Regierungsmitarbeiter oder auch Regierungsspione identifiziert hatten.
Am 13. November 2016 entführten regierungsfeindliche Kräfte im Distrikt Alishang in der Provinz Laghman einen Mann und zwei Jungen aus einem Fahrzeug, da sie der Annahme waren, deren Familienmitglieder würden für die Regierung arbeiten. (UNHCR S 54, S 54 FN 306 und EASO S 49; aus der kürzlich veröffentlichten EASO Country Guidance von Dezember 2020 ergeben sich diesbezüglich keine Änderung [EASO 12/2020 S 58 f])
1.2.10. Zur Zwangsrekrutierung (LIB 11.1.):
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren. Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen.
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden. Andererseits wird berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Es gibt Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Wenn es auch Stimmen gibt, die meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher nunmehr vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen würden, wenn bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft Kämpfer vor Ort mobilisiert werden müssen, mag es schwierig sein, sich zu entziehen.
Die erweiterte Familie kann angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, welche die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen.
1.2.11. Zur Bedrohung von Studenten einer Universität durch die Taliban:
Studenten einer Universität werden von den Taliban nicht im besonderen Maße bedroht.
2. Die Feststellungen gründen in der folgenden Beweiswürdigung:
2.1. Zu den allgemeinen Feststellungen:
Die Feststellungen zu den persönlichen Daten, zum Leben und zur Ausreise des BF aus Afghanistan und zur Einreise in das Bundesgebiet ergeben sich aus den im Wesentlichen gleichbleibenden, übereinstimmenden und schlüssigen Aussagen des BF im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren.
Die Feststellungen zur Einreise und zum behördlichen Asylverfahren des BF ergeben sich aus dem unbedenklichen Verwaltungsakt.
Die Feststellung zum Leumund des BF ergeben sich aus seinem Strafregisterauszug.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen bzw den Verfolgungsgründen:
2.2.1. Die Feststellungen zur Tätigkeit des Bruders des BF als Polizist und zu seinem Tod gründen auf den Angaben des BF und den vorgelegten Urkunden, nämlich Lichtbildern des Polizeiausweises, des Leichnams und der Sterbeurkunde des Bruders des BF.
2.2.2. Dem Vorbringen des BF, er sei durch die Taliban bedroht, weil er eine Universität besucht und sein älterer Bruder bis zu seiner Ermordung für die afghanische Polizei gearbeitet habe, er sei auf dem Heimweg zusammen mit seinem älteren Bruder und seinem Cousin von unbekannten Dritten, wahrscheinlich Taliban, angegriffen worden und er und sein Bruder hätten einen Drohbrief der Taliban erhalten, konnte nicht gefolgt werden:
So gab der BF an von den Taliban bedroht zu sein, dennoch war er trotz gezielter Aufforderung nicht in der Lage, konkrete Bedrohungshandlungen gegen ihn oder seine Familie zu schildern. Selbst die allgemeine Angabe, die Taliban hätten seiner Familie über Dritte (Droh-)Botschaften zukommen lassen relativierte er in der hg Verhandlung indem er angab, eigentlich wisse er nicht, ob die Bedrohungen von den Taliban oder von Dorfbewohnern ausgegangen seien, die mit den Taliban sympathisieren (VH-Protokoll vom 21.01.2021 S 5 f, 9 und 10). Auch über Rückfragen nannte der BF keine ergänzenden Details zu den jeweiligen Bedrohungen, sondern lediglich Begründungen (zur Bedrohung des BF und seiner Familie VH-Protokoll vom 21.01.2021 S 5 f; zur Bedrohung seiner Eltern VH-Protokoll vom 21.01.2021 S 9; zur Bedrohung des jüngeren Bruders VH-Protokoll vom 21.01.2021 S 9 f).
Zumindest wer dem BF, wann welche Information, welchen Inhalts weitergegeben hat, hätte der BF wissen müssen; und zwar auch dann, wenn er von etwaigen Bedrohungen erst in Österreich erfahren haben will.
Gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage des BF spricht auch sein Aussageverhalten: So versucht der BF bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde konkrete Zeitangaben, nämlich zu seinem Aufenthalt in Stadt Kabul (EV BFA S 5, AS 71), seinem Studienende (EV BFA S 9, AS 75) sowie zum Alter der Geschwister (EV BFA S 11, AS 77 f), und Informationen zu vermeiden, etwa wo sein Bruder in Kabul Stadt gewohnt hat (EV BFA S 5, AS 71)). Dies, obwohl er als Student intellektuell in der Lage sein müsste, konkretere Angaben zu machen und er in seiner hg Einvernahme sehr wohl in der