Index
41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art7 Abs1Leitsatz
Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip in einem Verwaltungsstrafverfahren nach dem FremdenpolizeiG auf Grund (zwischenzeitigen) Entfalls der MindeststrafeSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art7 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1. Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Kärnten vom 13. Dezember 2019 wurde über den Beschwerdeführer wegen nicht rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet gemäß §120 Abs1b iVm §31 Abs1a Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl I 100, idF BGBl I 145/2017, eine Geldstrafe iHv € 5.000,– und eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von 13 Tagen und 23 Stunden verhängt.
2. Die gegen dieses Straferkenntnis erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Kärnten mit angefochtenem Erkenntnis vom 17. Juli 2020 als unbegründet ab; zudem verpflichtete es den Einschreiter zur Leistung eines Beitrages zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens iHv € 1.000,–.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
4. Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
5. Nach Art7 Abs1 EMRK kann niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Nach der (neueren) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte enthält Art7 Abs1 EMRK nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung strengerer Strafbestimmungen, sondern implizit auch das Prinzip der Rückwirkung milderer Strafgesetze auf frühere Taten (EGMR 17.9.2009 [GK], Fall Scoppola gegen Italien [Nr 2], Appl 10.249/03, Z 106, 109). In seinen Erwägungen zur Entwicklung eines Grundsatzes der Rückwirkung milderer Strafgesetze im Fall Scoppola gegen Italien [Nr 2] zieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem Art49 Abs1 GRC heran, wonach bei Einführung einer milderen Strafe nach Begehung einer Straftat diese zu verhängen ist, und weist insbesondere auf dessen sich von Art7 EMRK unterscheidenden Wortlaut hin. Im selben Sinn hat der Gerichtshof der Europäischen Union bereits vor Inkrafttreten der Grundrechte-Charta ausgesprochen, dass es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts (nunmehr: Unionsrechts) ist, je nach Fall die günstigere Strafvorschrift und die mildere Strafe rückwirkend anzuwenden, und dass dieser Grundsatz zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gehört (vgl EuGH 3.5.2005, verb. Rs C-387/02 ua, Berlusconi ua, Slg. 2005, I-03565, Rz 68 ff.; EuGH 4.6.2009, Rs C-142/05, Åklagaren, Slg. 2009, I-04273, Rz 43; vgl auch VfSlg 19.628/2012, 19.957/2015, 20.214/2017).
Der Verfassungsgerichtshof geht von jenem Inhalt des Art7 EMRK aus, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesem zuletzt beigelegt hat. Im Lichte dessen gebietet es Art7 EMRK, bei Änderung der Rechtslage nach der Begehung der Straftat die für den Beschuldigten mildere Strafe zu verhängen (vgl VfSlg 19.628/2012, 19.957/2015, 20.214/2017; zur Auslegung des §1 Abs2 VStG 1991 vgl ferner VfSlg 20.326/2019 mwH).
6. Eine solche Konstellation ist im vorliegenden Fall gegeben:
Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 10. März 2020, G163/2019 ua, die Wort- und Ziffernfolge "von 5 000" in §120 Abs1b FPG idF BGBl I 145/2017 als verfassungswidrig aufgehoben.
Da das Landesverwaltungsgericht Kärnten im angefochtenen Erkenntnis vom 17. Juli 2020, dem Beschwerdeführer zugestellt am 23. Juli 2020, die für den Beschwerdeführer günstigere Rechtslage, welche am 17. April 2020 in Kraft trat und nunmehr keine Mindeststrafe iHv € 5.000,– vorsieht, nicht im Rahmen eines Günstigkeitsvergleichs gemäß §1 Abs2 VStG 1991 anwandte, liegt ein Verstoß gegen Art7 EMRK vor.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
7. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
8. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
9. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Schlagworte
Fremdenrecht, Mindeststrafe, Günstigkeitsprinzip, Verwaltungsstrafrecht, Geldstrafe, Geltungsbereich (zeitlicher) eines GesetzesEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E2949.2020Zuletzt aktualisiert am
11.05.2021