TE Vfgh Beschluss 2021/3/10 G392/2020

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.03.2021
beobachten
merken

Index

25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd, Art140 Abs1b
StPO §14, §165 Abs2, §258 Abs2, §323 Abs2
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Ablehnung eines Parteiantrags gegen Bestimmungen der StPO betreffend die kontradiktorische Vernehmung und die freie Beweiswürdigung

Spruch

I. Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird abgewiesen.

II. Die Behandlung des Antrages wird abgelehnt.

Begründung

Begründung

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung eines Antrages gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG ablehnen, wenn er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art140 Abs1b B-VG; vgl VfGH 24.2.2015, G13/2015).

Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

1.1. Der Antragsteller behauptet zunächst, §165 Abs2 StPO verstoße gegen den Grundsatz der Waffengleichheit gemäß Art6 Abs3 EMRK und gegen das Sachlichkeitsgebot gemäß Art7 B-VG. Eine kontradiktorische Einvernahme dürfe nur in jenen Fällen, in denen eine spätere Einvernahme zu einem Beweisverlust führen würde, durchgeführt werden und beeinträchtige somit die Möglichkeiten des Gerichtes im Hauptverfahren und in der Hauptverhandlung.

Schon vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wonach die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Aussagen als Beweise nicht mit Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK unvereinbar sei, sofern die Verteidigungsrechte, insbesondere das Recht, den Zeugen angemessen und geeignet zu befragen, gewährleistet sind (EGMR 20.11.1989, Fall Kostovski, Appl 11.454/85; 18.12.2014, Fall Scholer, Appl 14.212/10; vgl auch EGMR 15.12.2011 [GK], Fall Al-Khawaja und Tahery, Appl 26.766/05 und 22.228/06; 10.1.2012, Fall Vulakh, Appl 33.468/03; 10.5.2012, Fall Aigner, Appl 28.328/03), hat der Antrag keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die kontradiktorische Vernehmung gemäß §165 StPO gewährleistet insbesondere mit Blick auf Art6 Abs1 und 3 litd EMRK die Verteidigungs- und Fragerechte des Beschuldigten im Strafverfahren (ErlRV 924 BlgNR 18. GP, 32; Kirchbacher, §165 StPO, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 1.10.2013, Rz 2 ff.; Urbanek, §165, in: Birklbauer ua [Hrsg.] Linzer Kommentar zur Strafprozessordnung, 2020, Rz 3). Für den Fall, dass nach der Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung geänderte Umstände hervortreten, kann der Beschuldigte die neuerliche Vernehmung eines Zeugen beantragen (OGH 17.9.2015, 11 Os 94/15f).

1.2. Weiters bringt der Antragsteller vor, das Gericht müsse gemäß §165 Abs2 StPO zwingend eine kontradiktorische Einvernahme durchführen, wenn der Staatsanwalt eine solche beantragt. Daher binde §165 Abs2 StPO das Gericht einseitig an die Antragstellung einer Prozesspartei, ohne dass das Gericht den Antrag ablehnen könnte. Dadurch sei der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt.

Auch dieses Vorbringen hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Antragsteller legt seinen Bedenken eine verfehlte Rechtsauffassung zugrunde. Wie in §165 Abs2 StPO schon der Wortlaut ("auf Antrag der Staatsanwaltschaft") und der Verweis auf §104 StPO zu erkennen geben, vermittelt §165 Abs2 StPO ein Recht auf Stellung eines Antrages, dem das Gericht nur zu entsprechen hat, wenn die materiellen Voraussetzungen für die Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung vorliegen (§104 Abs1 letzter Satz StPO e contrario; zur Durchführung der kontradiktorischen Vernehmung bei Vorliegen der Voraussetzungen des §165 StPO vgl Kirchbacher, aaO, Rz 8 ff.; Pilnacek/Stricker, §104 StPO, in: Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 13.11.2017, Rz 21 f., 30).

1.3. Der Antragsteller behauptet schließlich die Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "nach freier Überzeugung" in §14 StPO, des Wortes "freien" in §258 Abs2 StPO und des §323 Abs2 zweiter Satz StPO wegen Verletzung in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK. Das Antragsvorbringen geht im Wesentlichen dahin, der im Strafprozess geltende Grundsatz der freien Beweiswürdigung stelle eine "schrankenlose" richterliche Entscheidungsbefugnis dar, die Willkür ermögliche.

Auch dieses Antragsvorbringen lässt die behaupteten Verfassungswidrigkeiten als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass es keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat: Anders als der Antragsteller meint, ist das Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung nicht insoweit frei, als Beweise nicht erhoben oder entgegen allgemeinen Erfahrungssätzen objektiv nicht nachvollziehbar gewürdigt werden können. Das Gericht ist vielmehr zur amtswegigen Wahrheitsforschung verpflichtet (§3 StPO) und die getroffene Entscheidung hat im Hinblick auf die Überzeugungsbildung des Richters nachvollziehbar und plausibel zu sein (zB Schmoller, §14 StPO, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 1.11.2012, Rz 8 mwN; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14, 2020, §258 Rz 5/1, 6; Lendl, §258 StPO, in: Fuchs/Ratz [Hrsg.], Wiener Kommentar zur StPO, rdb.at, Stand 11.5.2020, Rz 18; siehe zum ähnlichen Vorbringen bereits VfGH 11.6.2019, G87/2019; 12.6.2020, G162/2020; zuletzt VfGH 21.9.2020, G314/2020).

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung des Antrages abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG), ohne dass sämtliche Prozessvoraussetzungen, insbesondere ob der Antragsteller den Anfechtungsumfang nicht zu eng wählte, geprüft wurden.

2. Bei diesem Ergebnis erweist sich die vom Antragsteller angestrebte Rechtsverfolgung als offenbar aussichtslos, sodass der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe in vollem Umfang gemäß §63 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG abzuweisen ist.

3. Diese Beschlüsse konnten gemäß §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG bzw §72 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung gefasst werden.

Schlagworte

Strafprozessrecht, Strafrecht, VfGH / Ablehnung, VfGH / Parteiantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G392.2020

Zuletzt aktualisiert am

12.05.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten