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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des S M in W, vertreten durch Mag. Nuray Tutus-Kirdere, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Herrengasse 6-8/4/1, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 29. Juli 2020, Zl. VGW-151/061/538/2020-30, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, beantragte am 9. Juni 2017 unter Berufung auf seine am 23. März 2017 geschlossene Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin SU beim Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
Dieser Aufenthaltstitel wurde dem Revisionswerber erteilt und in der Folge auf Grund seines Antrags vom 4. Juni 2018 verlängert. Die Ehe zwischen dem Revisionswerber und SU wurde mit 21. Dezember 2018 geschieden. Am 31. Mai 2019 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“.
2 Mit Bescheid vom 5. Dezember 2019 nahm die belangte Behörde die beiden dargestellten rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf und wies alle drei dargestellten Anträge ab. Begründend wurde unter Bezugnahme auf einen Bericht der Landespolizeidirektion (LPD) Wien festgehalten, dass es sich bei der Ehe des Revisionswerbers mit SU um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 29. Juli 2020 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab, wobei der bekämpfte Bescheid der belangten Behörde mit der Maßgabe bestätigt wurde, dass die Anträge des Revisionswerbers vom 9. Juni 2017 und vom 4. Juni 2018 auf Grund fehlender Familienangehörigeneigenschaft abgewiesen wurden (Spruchpunkt I). Dem Revisionswerber wurde der Ersatz von Barauslagen in noch zu bestimmender Höhe auferlegt (Spruchpunkt II) und die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.).
Das Verwaltungsgericht hielt zunächst fest, dass in der mündlichen Verhandlung der Revisionswerber, seine vormalige Ehefrau SU sowie die Zeugin NK (als das mit den Erhebungen zum Bestehen einer Aufenthaltsehe betraute Organ der LPD Wien) einvernommen worden seien. Anschließend stellte das Verwaltungsgericht fest, dass es sich bei der Ehe zwischen dem Revisionswerber und SU um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe, die ausschließlich zu dem Zweck eingegangen worden sei, dem Revisionswerber ein Aufenthaltsrecht in Österreich zu vermitteln. Ein gemeinsames Familienleben sei nicht geführt und auch nicht angestrebt worden.
Beweiswürdigend verwies das Verwaltungsgericht auf massive Widersprüche in den Aussagen des Revisionswerbers und der SU zu den Themenbereichen „erste Liebesnacht“ sowie „Kinderwunsch“. Als völlig unglaubwürdig erachtete das Verwaltungsgericht auch die Erklärung der SU, dass sie ihren Ehemann ihren Freundinnen nicht vorgestellt habe, weil nie dazu Zeit gewesen sei. Es seien - abgesehen von einigen bei der Eheschließung aufgenommenen Fotos - auch keine Fotografien oder sonstige Nachweise bzw. Erinnerungsstücke „zur Untermauerung ihrer Behauptung einer Liebesheirat“ vorgelegt worden. Ebenso wenig gebe es Nachweise dafür, dass SU zu den angegebenen Zeiten des Kennenlernens tatsächlich in der Türkei gewesen sei. Die Zeugin NK habe zu den in ihrer Niederschrift festgehaltenen Widersprüchen in den Aussagen des Revisionswerbers und der SU sowie zum Umstand, dass der Revisionswerber weder sein Wohnumfeld noch seinen Arbeitsweg beschreiben habe können, schlüssig und stimmig Auskunft erteilt. Demgegenüber hätten der Revisionswerber sowie SU in der mündlichen Verhandlung erstmals gestellte Fragen nur zögernd und oberflächlich beantwortet und bei ihrer Einvernahme einen unglaubwürdigen Eindruck hinterlassen.
In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass sich der Revisionswerber, der sich in seinen ersten beiden Anträgen entgegen § 30 Abs. 1 NAG auf seine Ehe berufen habe, die entsprechenden Aufenthaltstitel erschlichen habe und die Wiederaufnahme daher zu Recht erfolgt sei. Da die Ehe nunmehr bereits geschieden sei, könne der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG nicht mehr herangezogen werden. Allerdings fehle es an der besonderen Erteilungsvoraussetzung der Familienangehörigeneigenschaft des Revisionswerbers, weshalb der Erstantrag zu Recht abgewiesen worden sei. Die Verlängerungsanträge seien zu Recht abgewiesen worden, weil es im Hinblick auf die ex tunc-Wirkung der Wiederaufnahme an der Voraussetzung eines gültigen Aufenthaltstitels fehle.
4 Der Revisionswerber hat (wie sich der „Anfechtungserklärung“ eindeutig entnehmen lässt: nur) gegen Spruchpunkt I dieses Erkenntnisses die vorliegende außerordentliche Revision erhoben.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
6 In der Zulässigkeitsbegründung wird vorgebracht, das Verwaltungsgericht habe die Beweiswürdigung in unvertretbarer Weise vorgenommen. Dazu wird auf die Aussagen des Revisionswerbers und der SU verwiesen, wonach SU den Revisionswerber mehrmals in der Türkei besucht habe. Darüber hinaus sei - so der Revisionswerber - das Vorliegen einer Aufenthaltsehe stets einzelfallbezogen zu prüfen.
7 Diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorgangs, nicht aber um die konkrete Richtigkeit handelt, sowie wenn es darum geht, ob die in diesem Denkvorgang gewürdigten Beweisergebnisse in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt wurden (vgl. VwGH 3.2.2021, Ra 2021/22/0016, Rn. 8, mwN).
8 Vorliegend hält die Beweiswürdigung einer Kontrolle nach den aufgezeigten Kriterien durch den Verwaltungsgerichtshof stand. Das Verwaltungsgericht traf die Feststellungen nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf Basis der getätigten Aussagen sowie unter Berücksichtigung des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks und der sich für das Verwaltungsgericht ergebenden Widersprüche. Mit dem Verweis auf die - vom Verwaltungsgericht als nicht glaubhaft erachteten - Aussagen zu den Besuchen der SU in der Türkei zeigt die Revision nicht auf, dass die Beweiswürdigung insgesamt unvertretbar wäre. Zum Vorbringen betreffend den alten Reisepass der SU mit einer Gültigkeit bis zum 6. August 2019, der sich laut Zulässigkeitsbegründung „im Akt befindet“, genügt - abgesehen davon, dass der Umstand des fehlenden Nachweises der Türkeiaufenthalte der SU nur einen von zahlreichen vom Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Aspekten darstellte - der Hinweis, dass einer Berücksichtigung der mit E-Mail vom 5. Oktober 2020 dem Verwaltungsgericht vorgelegten Kopien aus diesem Reisepass das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof maßgebliche Neuerungsverbot (§ 41 VwGG) entgegensteht (in dem vom Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Akt war lediglich die insoweit nicht aussagekräftige Kopie einer Seite dieses Reisepasses aufzufinden). Schließlich wird auch nicht dargelegt (und ist nicht ersichtlich), inwieweit es der Beurteilung durch das Verwaltungsgericht am notwendigen Bezug zum vorliegenden Einzelfall gemangelt habe.
9 Darüber hinaus bringt der Revisionswerber vor, die belangte Behörde habe - obwohl zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung keine aufrechte Ehe mehr bestanden habe - die „Wiederaufnahme und Aberkennung sämtlicher Titel wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe“ verfügt. Eine solche könne nach erfolgter Scheidung aber nicht mehr vorliegen. Das Verwaltungsgericht habe den Spruch im Hinblick auf das Vorliegen einer Aufenthaltsehe zwar geändert, „aber lediglich durch ein Surrogat in der Form, dass keine Angehörigeneigenschaft vorliegt, ersetzt“. „Die fehlende Familienangehörigeneigenschaft vermag [...] nicht die unverhältnismäßig schweren Konsequenzen einer Aufenthaltsehe begründen“. Es fehle einheitliche Rechtsprechung zu diesem Fragenkomplex.
10 Zu diesem - nicht restlos klaren - Vorbringen ist Folgendes anzumerken: Nach der ständigen hg. Rechtsprechung liegt ein „Erschleichen“ eines Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG dann vor, wenn dieser in der Art zu Stande gekommen ist, dass bei der Behörde von der Partei objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht und diese Angaben dann dem Bescheid zu Grunde gelegt worden sind, wobei die Verschweigung wesentlicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist (vgl. VwGH 28.2.2019, Ra 2018/22/0250, Rn. 11, mwN). Vorliegend hat sich der Revisionswerber in den (zunächst bewilligten) Aufenthaltstitelverfahren auf seine - in der Folge als Aufenthaltsehe angesehene - Ehe mit SU berufen. Damit lagen die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG vor, woran der Umstand der späteren Scheidung nichts zu ändern vermag.
11 Davon zu unterscheiden ist die Entscheidung über die - infolge der Wiederaufnahme wieder offenen - Anträge des Revisionswerbers auf Erteilung von Aufenthaltstiteln. Diesbezüglich ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG nur während des Bestehens einer Aufenthaltsehe herangezogen werden kann und es dafür auf den Zeitpunkt der Entscheidung im (hier) wiederaufgenommenen Verfahren ankommt (vgl. VwGH 26.2.2013, 2009/22/0081, mwN). Es ist daher auch nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Abweisung der ersten beiden Anträge des Revisionswerbers auf Grund der Scheidung seiner Ehe mit SU auf das Fehlen der besonderen Erteilungsvoraussetzung der Familienangehörigeneigenschaft gestützt hat (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2019/22/0096 bis 0098, Rn. 10).
12 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.
Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
13 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 22. April 2021
Schlagworte
Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220237.L00Im RIS seit
13.05.2021Zuletzt aktualisiert am
01.06.2021