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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AuslBG §3 Abs8Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Dr. Doblinger und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision des A B in C, vertreten durch Dr. Christian Reimitz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 6/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2019, W178 2218297-1/4E, betreffend Antrag auf Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Esteplatz), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Ägyptens, stellte am 6. November 2018 einen Antrag auf Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 iVm § 1 Abs. 2 lit. l des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG) unter Hinweis auf eine ihm zukommende Arbeitnehmerfreizügigkeit.
2 Dieser Antrag wurde von der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht mit Bescheid vom 20. Dezember 2018 abgewiesen.
3 Eine dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde wurde mit Beschwerdevorentscheidung vom 29. März 2019 abgewiesen.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. Juli 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision gemäß Art.133 Abs. 4 B-VG erklärte es für nicht zulässig.
5 Zur Begründung führte es aus, Grundvoraussetzung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit eines drittstaatsangehörigen Angehörigen sei, dass sich der EWR-Bürger/die EWR-Bürgerin, von dem er/sie das Recht ableite, weiterhin in Österreich aufhalte. Die ins Treffen geführte Ehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen sei vom Revisionswerber im November 2013 geschlossen und mit Rechtskraft ab 27. Februar 2018 geschieden worden. Jedenfalls seit 22. Februar 2018 lebe diese nicht mehr in Österreich. Seit diesem Zeitpunkt könne der Revisionswerber von seiner geschiedenen Ehefrau als „Ankerperson“ seine Freizügigkeit nicht mehr ableiten (Verweis auf VwGH 2.7.2010, 2007/09/0194). Im Übrigen stehe diese seit Jänner 2016 in Österreich in keinem - zur Sozialversicherung gemeldeten - Beschäftigungsverhältnis mehr und beziehe auch keine Leistungen aus der Arbeitslosigkeitsversicherung mehr.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet. Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Revision beantragte.
7 Der Revisionswerber sieht die Zulässigkeit seiner Revision unter anderem darin, dass sich das Bundesverwaltungsgericht inhaltlich nicht mit der Bestimmung des § 54 Abs. 5 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz auseinandergesetzt und das Recht auf Freizügigkeit unrichtig interpretiert habe, wenn es vermeine, dass dieses davon abhängig sei, dass sich der Unionsbürger, von dem das Recht abgeleitet werde, weiterhin in Österreich aufhalte.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.
10 Die maßgeblichen Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975, in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lauten (auszugweise):
„§ 1. (1) Dieses Bundesgesetz regelt die Beschäftigung von Ausländern (§ 2) im Bundesgebiet.
(2) Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes sind nicht anzuwenden auf
...
l) Ausländer, die aufgrund eines Rechtsaktes der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen;
...
§ 2. (1) Als Ausländer im Sinne dieses Bundesgesetzes gilt, wer nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.
...
§ 3. ...
(8) Die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice hat Ausländern, die gemäß § 1 Abs. 2 oder aufgrund einer Verordnung gemäß § 1 Abs. 4 vom Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes ausgenommen sind, auf deren Antrag eine Bestätigung darüber auszustellen.
...“
11 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 („Freizügigkeitsrichtlinie“, auch: „Unionsbürgerrichtlinie“ - in der Folge kurz: Freizügigkeitsrichtlinie) lautet (auszugsweise):
„Artikel 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ...
2. ,Familienangehöriger‘
a) den Ehegatten;
...
Artikel 7
Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er
a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
c) - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
- über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.
...
Artikel 13
Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft
(1) ...
(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn
a) die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, ...
Artikel 14
Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts
(1) ...
(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.
...
Artikel 23
Verbundene Rechte
Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt in einem Mitgliedstaat genießen, sind ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit berechtigt, dort eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger aufzunehmen.
...“
12 Die - der Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie dienenden - maßgebenden Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lauten (auszugsweise):
„Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate
§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;
2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder
3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.
(2) ...
...
Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern
§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1. Ehegatte oder eingetragener Partner sind;
...
Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers
§ 54. (1) ...
...
(5) Das Aufenthaltsrecht der Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie die für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 erfüllen und
1. die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet;
...“
13 Wenn das Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit § 54 Abs. 5 Z 1 NAG die Auffassung vertritt, dass das vom unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht der Ehefrau abgeleitete Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers aufgrund deren Wegzugs aus Österreich jedenfalls beendet worden sei, übersieht es, dass der genannte Ausnahmetatbestand betreffend das Weiterbestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bei Scheidung voraussetzt, dass sich der Unionsbürger bis zum Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie im sogenannten „Aufnahmemitgliedstaat“ Österreich aufgehalten hat. Wird das gerichtliche Scheidungsverfahren erst nach dem Wegzug eingeleitet, erlischt das abgeleitete Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen hingegen (vgl. VwGH 15.3.2018, Ro 2018/21/0002, unter Verweis auf die Judikatur des EuGH, Urteil vom 30.6.2016, NA, C-115/15, Rn 34 ff, unter Bezugnahme auf EuGH (Große Kammer) 16.7.2015, Singh u.a., C-218/14, Rn 62, 66 und 67).
14 Entscheidend ist daher im vorliegenden Fall, ob zum Zeitpunkt des Wegzugs der Ehefrau des Revisionswerbers aus Österreich ein gerichtliches Scheidungsverfahren eingeleitet war. Bejahendenfalls kommt es zu einer „Aufrechterhaltung“ eines bestehenden Aufenthaltsrechtes.
15 Das vom Bundesverwaltungsgericht für seine Auffassung, wonach es auf den Aufenthalt der Ehefrau in Österreich ankomme, ins Treffen geführte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 2. Juli 2010, 2007/09/0194, betrifft einen anderen Sachverhalt. Dort wurde - im Gegensatz zu dem hier vorliegenden Sachverhalt einer rechtskräftigen Scheidung - lediglich die Auflösung der ehelichen Gemeinschaft unter Aufrechterhaltung des rechtlichen Ehebandes infolge des Wegzugs der Ehefrau des dortigen Beschwerdeführers festgestellt (siehe zur Nichtanwendung des § 54 Abs. 5 NAG bei Aufrechterhaltung der Ehe aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch beispielsweise VwGH 23.1.2020, Ro 2019/21/0018; 26.6.2019, Ra 2019/21/0080).
16 Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher Feststellungen zu den für das Vorliegen der Sondernorm des § 54 Abs. 5 Z 1 NAG entscheidungswesentlichen Fragen treffen müssen, nämlich wann das gerichtliche Scheidungsverfahren eingeleitet wurde und ob die Ehefrau zum Zeitpunkt ihres Wegzuges die in der Freizügigkeitsrichtlinie näher genannten Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes erfüllt hat (vgl. zu diesen neuerlich VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0080, Rn 9; zur bloß deklaratorischen Wirkung der Aufenthaltskarte im Zusammenhang mit der Frage der Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 iVm § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG siehe VwGH 22.12.2020, Ro 2020/09/0011).
17 Indem das Bundesverwaltungsgericht dies verkannte, belastete es das Erkenntnis mit sekundären Feststellungsmängeln. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Angemerkt wird, dass es sich bei der Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG um ein „civil right“ im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt, weshalb bei einer inhaltlichen Erledigung im Regelfall eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist (vgl. neuerlich VwGH 22.12.2020, Ro 2020/09/0011, mwN).
19 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. April 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62014CJ0218 Singh VORABSchlagworte
Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019090132.L00Im RIS seit
13.05.2021Zuletzt aktualisiert am
14.06.2021