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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S H, vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. März 2020, W162 2192794-1/26E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl)
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Daikundi, stellte am 30. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er von Mitgliedern der Taliban bedroht und zur Zusammenarbeit gedrängt worden sei. Zum anderen sei er eine Beziehung mit einem Mädchen eingegangen, die der Vater des Mädchens abgelehnt hätte. Auch weil der Revisionswerber das Mädchen bei sich zu Hause versteckt habe, drohe ihm Verfolgung.
2 Mit Bescheid vom 26. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend hielt das BVwG zusammengefasst fest, dass es dem Revisionswerber aus näher dargelegten Gründen nicht gelungen sei, eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen. Zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes erwog es, dass dem Revisionswerber eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Daikundi mangels sicherer Erreichbarkeit nicht möglich sei, ihm jedoch die Inanspruchnahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat offenstehe. Der Revisionswerber sei jung, arbeitsfähig und verfüge über Schulbildung sowie Berufserfahrung. Er leide an einer psychischen Erkrankung, sei in psychiatrischer Behandlung und werde medikamentös versorgt. Diese Erkrankung stehe einer Rückkehr nach Afghanistan aber nicht entgegen, weil sie auch dort behandelbar sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom 12. Juni 2020, E 1508/2020-5, abgelehnt wurde. Über nachträglichen Antrag trat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde mit Beschluss vom 14. Juli 2020, E 1508/2020-7, an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 In der vorliegenden außerordentlichen Revision macht der Revisionswerber zur Zulässigkeit zusammengefasst unter anderem geltend, das BVwG habe sich im Zusammenhang mit dem bei der innerstaatlichen Fluchtalternative zu beachtenden Zumutbarkeitskalkül nur unzureichend mit der gesundheitlichen Situation des Revisionswerbers auseinandergesetzt und zudem die Covid-19-Pandemie in Afghanistan nicht berücksichtigt. Die Covid-19-bedingten Auswirkungen auf den afghanischen Arbeitsmarkt und die Wirtschaft träfen den Revisionswerber aus näher dargelegten Gründen besonders hart.
7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.
10 Zu I.:
Die Revision wendet sich formal zwar gegen das angefochtene Erkenntnis im gesamten Umfang, bringt in ihrer Begründung jedoch hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vor, die zur Zulässigkeit der Revision in diesem Spruchpunkt führen würde. Soweit das BVwG die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen hat, war die Revision gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
11 Zu II.:
Berechtigung kommt der Revision jedoch insoweit zu, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet.
12 Das BVwG verwies den Revisionswerber hinsichtlich seines Begehrens auf subsidiären Schutz tragend auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Großstädten Mazar-e Sharif oder Herat.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen sowie im Rahmen der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und die persönlichen Umstände des Asylwerbers Bedacht zu nehmen hat. Dabei hat es sich auch mit der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden Situation aufgrund der Covid-19-Pandemie in Afghanistan auseinanderzusetzen (vgl. in diesem Sinne VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0152, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird; zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative vgl. auch VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284; VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0305).
14 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass sich dem angefochtenen Erkenntnis keinerlei Feststellungen zur Lage aufgrund der aktuell vorherrschenden Covid-19-Pandemie oder Erwägungen zu deren Auswirkungen auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Revisionswerber in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat entnehmen lassen.
15 Diesem Verfahrensmangel kann im vorliegenden Fall auch nicht die Relevanz abgesprochen werden, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG unter Zugrundelegung aktuellen Berichtsmaterials und nach Auseinandersetzung mit der pandemiebedingten Lage zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass dem Revisionswerber die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den genannten Städten nicht zumutbar wäre.
16 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG daher die entsprechenden Feststellungen zur vorherrschenden Lage in Afghanistan im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie unter Einräumung von Parteiengehör zu treffen haben und sich bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Rückkehrsituation des Revisionswerbers (Versorgungslage, Unterkunft, Arbeitsmarkt) auseinanderzusetzen haben (vgl. neuerlich VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284).
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. Februar 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180318.L00Im RIS seit
07.04.2021Zuletzt aktualisiert am
07.04.2021