Entscheidungsdatum
01.09.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W184 2142564-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.11.2016, Zl. 1069758506/150528300, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird zu Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3, 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird zu Spruchpunkt III. und IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 9 BFA-VG stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 19.05.2015 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.
Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.
IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“
Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst: Die beschwerdeführende Partei habe bei der Erstbefragung zum Fluchtgrund angegeben, dass ihm vor circa vier bis fünf Monaten sein Cousin gesagt habe, dass das Leben der beschwerdeführenden Partei in Afghanistan in Gefahr sei und dass dieser das Land verlassen müsse. Die Taliban seien immer wieder in das Dorf gekommen und haben Jugendliche mitgenommen, damit diese mit ihnen in den Kampf ziehen oder Selbstmordattentate ausführen. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt am 17.11.2016 habe die beschwerdeführende Partei Folgendes ausgesagt: Er sei in der Provinz Kunar, Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und habe immer dort gelebt, zuerst mit seinen Eltern und nach deren Tod mit seinem Onkel. Er habe acht Jahre die Grundschule besucht. Seine Muttersprache sei Dari, aber sein Vater sei auch Paschtune gewesen, daher könne er beide Sprachen, außerdem habe er im Privatunterricht ein bisschen Englisch gelernt. Er habe auch in der Landwirtschaft geholfen. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Auf die Frage nach den Fluchtgründen habe die beschwerdeführende Partei angegeben, dass er beim Markt einkaufen gewesen sei. Auf dem Weg nach Hause habe er nur ein Tuch auf seiner Nase gespürt. Als er dann seine Augen aufgemacht habe, habe er gesehen, dass er irgendwo in einem großen Zimmer sei. Ein paar Stunden später, als es ihm wieder gut gegangen sei, habe er gesehen, dass es sich um einen Hof mit vier großen Zimmern gehandelt habe, in welchen viele Jugendliche in seinem Alter gewesen seien. Dann habe er erst bemerkt, dass die Taliban ihn entführt haben. Die Taliban haben zu ihnen gesagt, dass sie sie finden und töten würden, wenn sie versuchen würden, von dort zu flüchten. Acht Monate vor seiner Ausreise haben die Taliban seinen Cousin, der bei der Nationalarmee in Afghanistan tätig gewesen sei, getötet. Dieser sei nur ein einfacher Soldat gewesen und habe nichts gehabt. Die Taliban haben dann zu der beschwerdeführenden Partei gesagt, sie wüssten, wer er sei und von welcher Familie er komme. Circa eine Woche haben ihn die Taliban festgehalten. Dann sei eine Sitzung gewesen, zu der alle Taliban bis auf vier oder fünf hingegangen seien, und die beschwerdeführende Partei habe die Gelegenheit gehabt zu flüchten.
Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere ausgeführt wurde, dass die beschwerdeführende Partei in Afghanistan wegen der ihm von den Taliban unterstellten oppositionellen Gesinnung verfolgt werde. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan unzureichend und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.
In einer Stellungnahme vom 03.03.2020 wurde das Zeugnis des ÖIF zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1 vom 22.01.2020 vorgelegt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.09.2020 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, RI = Richter, BF = beschwerdeführende Partei, RV = Rechtsvertreterin):
„RV: legt ein Konvolut vor (eine Bestätigung über Freiwilligenarbeit vom 08.09.2018 bis 15.10.2019; einen Lohnzettel für den Zeitraum 03.06.2019 bis 04.08.2019; eine Terminkarte des Therapiezentrums XXXX mit Psychotherapieterminen am 14.02.2020, 28.02.2020, 06.03.2020, 13.03.2020, 30.03.2020, 03.04.2020, 28.08.2020 und 04.09.2020; Schulzeugnisse und Kursbestätigunggen; sowie mehrere Empfehlungsschreiben).
RV: Der BF ist in der 3. Klasse und wird diese im nächsten Jahr wiederholen.
BF (auf Deutsch): Ich habe zuerst die Übergangsklasse absolviert. Die erste Klasse habe ich einmal wiederholt. Dann habe ich eine Fachschule in der 2. Klasse besucht. Ich wollte die 1. Klasse nicht zum dritten Mal wiederholen, deswegen bin ich zur Fachschule gewechselt.
RV: Der BF hat auch ein Praktikum absolviert. Dazu wird der Lohnzettel vorgelegt.
RI: Sie sind jetzt etwas länger als fünf Jahre in Österreich. Haben Sie außer den vorgelegten Unterlagen sonst noch eine Ausbildung oder eine Tätigkeit absolviert?
BF (auf Deutsch): Ich habe Freiwilligenarbeit geleistet und dazu Unterlagen vorgelegt. Arbeiten durfte ich nicht.
RI: Wann werden Sie voraussichtlich die Schule abschließen?
BF (auf Deutsch): Eigentlich dieses Jahr, ich konnte aber leider nicht wegen ein paar Problemen. Ich habe Schwierigkeiten in Deutsch gehabt. Den Hauptschulabschluss habe ich nicht machen können, weil ich die Fahrtkosten nicht aufbringen konnte.
RI: Was haben Sie nächstes und übernächstes Jahr vor?
BF (auf Deutsch): Wenn ich weiß, dass ich in Österreich bleiben darf, werde ich meinen Schulabschluss machen und danach vielleicht im Bereich der Gastronomie tätig sein. Wenn sich bis dahin mein Deutsch verbessert, würde ich vielleicht auch studieren.
RI: Ich habe ein Schreiben bekommen, dass ein Herr Mag. XXXX heute aussagen soll. Zu welchem Thema sollte er aussagen?
BF (auf Deutsch): Zu meiner Integration und zu meinem Leben in Österreich. Er hat mir geholfen, Deutsch zu lernen. Er ist der pensionierte Direktor meiner Schule. Ich habe in Österreich die Schule besucht und besuche derzeit die Fachschule. Ich habe Freiwilligenarbeit geleistet. Ich habe den Leuten immer geholfen. Wenn sie Hilfe brauchten, war ich immer da.
RI: Haben Sie in Österreich ein Familienleben, eine Frau, Kinder?
BF (auf Deutsch): Nein. Ich habe eine Freundin gehabt, wir haben aber leider Schluss gemacht, weil ihre Eltern nicht wollten, dass wir zusammenbleiben. Ich habe es akzeptiert.
RI: Haben Sie gesundheitliche Probleme?
BF (auf Deutsch): Ich leide unter Schlafmangel. Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen, immer nur eine oder zwei Stunden.
RI: Sind Sie bei einem Arzt in Behandlung?
BF (auf Deutsch): Ja, bei Dr. XXXX . Nachgefragt: Ich habe jede Woche bei ihm einen Termin und nehme Psychotherapie in Anspruch. Nachgefragt: Zurzeit bekomme ich keine Medikamente. Wenn sich meine Lage nicht verbessert, werden mir vielleicht Medikamente verschrieben werden.
RI: Haben Sie sonst noch gesundheitliche Probleme?
BF (auf Deutsch): Ich habe ein Kriegstrauma und habe Albträume. Nachgefragt: Ich habe diese Probleme, seitdem die Taliban mich entführt haben. Ich habe einmal versucht, mich umzubringen. Ich weiß nicht, ob ich in Österreich bleiben darf, und das alles belastet mich.
RI: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren?
BF (auf Deutsch): Die Taliban haben mich bedroht, ich habe große Angst vor ihnen. Außerdem habe ich keine Familie dort. Dort herrschen auch ethnische Probleme.
RI: Wo sind Ihre Verwandten?
BF (auf Deutsch): Ich habe leider keinen Kontakt. Meine Verwandten sind gestorben. Ich habe nur einen Onkel und habe keinen Kontakt mit ihm. Nachgefragt: Ich habe sonst keine Verwandten. Mein Onkel hat nur eine Tochter, die älter als ich war. Er hatte außerdem noch einen Sohn, der von den Taliban umgebracht wurde.
RI: Warum haben Sie keinen Kontakt mit Ihren Verwandten?
BF (auf Deutsch): Ich habe auf der Flucht die Nummer meines Onkels verloren, deswegen habe ich keinen Kontakt.
RI: Bei der Erstbefragung bei der Polizei haben Sie von einem Cousin gesprochen.
BF (auf Deutsch): Bei der Erstbefragung habe ich einen iranischen Dolmetscher gehabt. Es gab Verständigungsschwierigkeiten. Ich habe damit eigentlich meinen Onkel gemeint. Er hat meine Antworten falsch und verkürzt festgehalten.
RI: In welcher Sprache war die Erstbefragung?
BF (auf Deutsch): Persisch.
RI: Laut Protokoll war die Erstbefragung auf Dari.
BF (auf Deutsch): Ja, die Erstbefragung war auf Dari. Ich war damals auch sehr müde und habe nichts gegessen gehabt.
RI: Ich verstehe nicht so ganz, warum Sie nicht mit Ihrem Onkel Kontakt aufnehmen können.
BF (auf Deutsch): Ich habe es schon versucht, aber es ist gefährlich. Man kann nicht einmal einen Brief schicken. Ein Unbekannter kann auch nicht in meinen Heimatort kommen, ohne sich in große Gefahr zu bringen.
RI: Was würde Ihnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan passieren?
BF: Ich habe Angst vor den Taliban und diese Gefahr besteht noch immer. Sie können mich überall finden, außerdem habe ich niemanden dort.
RI: Warum sollten die Taliban Sie bedrohen, wenn Sie z.B. nach Kabul oder in eine andere Stadt ziehen?
BF (auf Deutsch): Die Taliban sind überall in Afghanistan. Sie haben gesagt, wenn sie mich finden, werden sie mich gleich töten.
RI: Welches Interesse sollten die Taliban ausgerechnet an Ihnen haben?
BF: Der Grund, warum sie mich suchen, war mein Cousin, der bei der afghanischen Nationalarmee tätig war. Sie haben ihn getötet und aus diesem Grund suchen sie mich auch. Sie haben aus eigener Sicht auch einen Grund dafür, weil sie glauben, dass ich mich, wenn ich erwachsen werde, wegen meines Cousins rächen werde oder ich mich der afghanischen Armee anschließen und gegen sie kämpfen würde. Da ich zu diesem Zeitpunkt zu jung war, haben sie mich gefragt, warum mein Cousin bei der Armee tätig ist und warum ich mich ihnen nicht anschließe und mit ihnen gegen die Amerikaner kämpfe.
RI: Hat Ihr Cousin einen hohen Rang gehabt bei der Armee?
BF (auf Deutsch): Ich war damals sehr jung. Ich wusste damals nicht, was er für einen Rang hatte. Mein Onkel und mein Cousin haben immer gestritten, weil mein Onkel nicht wollte, dass er bei der Armee bleibt, weil er getötet werden könnte.
RI: War er ein Soldat oder ein Offizier?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht genau. Er war einmal mit einem Auto bei uns und hatte ein paar Leute mit.
RI: Sind Sie selber auch bedroht worden?
BF: Ja, als ich klein war. Bevor ich nach Österreich gekommen bin, haben mir die Taliban gesagt, dass sie mich, wenn ich flüchte, umbringen werden.
RI: Erzählen Sie mir bitte den Vorfall von Anfang an.
BF (auf Deutsch): An diesem Tag bin ich zum Markt gegangen. Der Markt ist ungefähr zehn Minuten zu Fuß entfernt von unserem Dorf. Dann habe ich hinter mir die Fußschritte gehört. Als ich nach rechts hinter mich schauen wollte, habe ich eine Hand gesehen und es wurde mir ein Tuch oder eine Serviette über die Nase gehalten. Ich wollte um Hilfe schreien, aber meine Augen sind dann zugegangen. Ich war bewusstlos. Als ich meine Augen öffnete, habe ich bemerkt, dass ich mich in einem großen Zimmer befinde. Nach ein paar Minuten ging es mir besser und ich habe einen Innenhof mit vier Zimmern rundherum gesehen. Dort waren auch andere Jugendliche in meinem Alter.
RI: Was haben Sie auf dem Markt gemacht?
BF (auf Deutsch): Ich wollte für meine Tante, die Frau meines Onkels, Tomaten kaufen.
RI: Wann wurden Sie überfallen?
BF (auf Deutsch): Das war auf dem Rückweg.
RI: Was ist weiter passiert?
BF (auf Deutsch): Wir haben jeden Tag Unterricht gehabt. Sie haben uns über religiöse Dinge unterrichtet. Sie haben z. B. gesagt, dass ausländische Truppen in unserem Land sind. Nachgefragt: Wir hatten ein bis zwei Stunden Unterricht. Wir haben fünf Mal am Tag gebetet, sie haben uns den Koran gebracht, den wir gelesen haben. Sie haben uns gesagt, wir müssen mit ihnen gegen die Regierung kämpfen.
RI: Sind Sie auch körperlich misshandelt worden in dieser Zeit?
BF (auf Deutsch): Ja, sie haben mir auf den Kopf geschlagen und ich habe geblutet. Ich bin auch einmal am rechten Ellbogen verletzt worden. Wenn ich ein Wort des Koran falsch gelesen habe, wurde ich mit einem Stock geschlagen.
RI: Wie lange ist das so weitergegangen?
BF (auf Deutsch): Circa eine Woche.
RI: Dann sind Sie wieder heimgeschickt worden?
BF (auf Deutsch): Nein, dann bin ich von dort geflüchtet.
RI: Wie sind Sie geflüchtet?
BF (auf Deutsch): Sie haben uns bedroht, sie sagten, wenn jemand versucht zu flüchten, dann werden sie umgebracht. Ich wusste selber, dass der Weg der Taliban nicht gut ist. Ich wusste, dass ich, wenn ich dort bleibe, sowieso sterben würde. Ich habe das Risiko auf mich genommen zu flüchten. Sie haben Regeln gehabt, ich war auch nicht sehr religiös, ich wollte frei leben, deswegen habe ich mir gedacht, entweder sterbe ich oder ich flüchte. Nachgefragt: An einem Nachmittag waren vier bis fünf Taliban im Innenhof, die anderen waren woanders. Ich sagte, ich möchte zum WC gehen. Dann haben sie mich begleitet, ich war im WC. Als ich wieder herauskam, habe ich gemerkt, dass niemand da war. Dann habe ich die Möglichkeit genutzt. Es war ein Wassertank da, ich bin auf den Wassertank gesprungen und weiter auf die Mauer und bin über die Mauer gesprungen. Circa vier bis fünf Stunden bin ich über die Berge gegangen. Ich hatte keine richtigen Schuhe angehabt, ich war fast barfuß, hatte nur Sommerschuhe an.
RI: Wo befand sich dieses Lager der Taliban?
BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht genau. Rundherum waren Berge zu sehen. Ich bin circa zwei Stunden durch die Berge gelaufen, dann bin ich auf eine Straße gekommen und habe gewartet, bis ich ein Auto finde. Insgesamt waren es vier bis fünf Stunden. Als ich ein Auto angehalten habe, habe ich diesen Mann gebeten, mich in meinen Heimatort zu bringen. Ich habe nicht von den Taliban erzählt. Er war ein alter Mann und er hat mich nach Hause gefahren. Nachgefragt: Ich kannte diesen Mann nicht. Ich hatte damals große Angst, mein ganzer Körper hat gezittert.
RI: Wann sind Sie ausgereist?
BF (auf Deutsch): Als mich mein Onkel gesehen hat, hat er sich sehr gefreut, weil ich noch am Leben war. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht mehr möglich ist, dass ich noch in Afghanistan bleibe. Mein Onkel hat mir zugestimmt. Mein Onkel hat mich circa vier bis fünf Tage versteckt, bis er einen Schlepper gefunden hat.
RI: Sie sprechen gut Deutsch und wirken intelligent, aber wissen Ihren Geburtstag nicht.
BF (auf Deutsch): Meine Eltern hatten keine Schule besucht und es war auch nie ein Arzt bei uns. Mein Geburtsdatum wurde nie aufgeschrieben. Ich habe einmal meinen Onkel nach meinem Alter gefragt, weil es mich interessiert hat. Mein Onkel hat gesagt, dass ich 16 bin.
RI: In welchem Alter sind Sie in Afghanistan in die Schule gekommen?
BF (auf Deutsch): Normalerweise geht man dort ab sechs oder sieben Jahren in die Schule.
RI: Wann sind Sie fertig gewesen mit der Schule?
BF (auf Deutsch): Im selben Jahr, als ich von den Taliban entführt wurde.
RI: Sie haben eine Tazkira gehabt, was stand da drinnen?
BF (auf Deutsch): Ich war klein, als meine Eltern eine Tazkira für mich ausstellen ließen. Nachgefragt: Ich wusste damals nicht, was eine Tazkira ist. Ich war damals acht oder neun Jahre alt. Nachgefragt: Bei meiner Flucht hat mir mein Onkel die Tazkira mitgegeben, ich habe aber nicht darauf geschaut, ob das Alter drinnen steht.
RI an RV: Haben Sie Fragen an den BF?
RV: Nein. Ich lege eine schriftliche Stellungnahme zur aktuellen Lage in Afghanistan vor …“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Seine Muttersprache ist Paschtu, außerdem spricht er auch Dari. Die Familie der beschwerdeführenden Partei stammt aus der Provinz Kunar, wo er acht Jahre die Schule besuchte und in der Landwirtschaft mitarbeitete.
Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
Die von der beschwerdeführenden Partei behauptete Bedrohung in Afghanistan durch Taliban wegen seiner Weigerung, sich diesen anzuschließen, kann mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden.
Zur Rückkehrsituation der beschwerdeführenden Partei wird Folgendes festgestellt:
Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Insbesondere ist im Herkunftsstaat in mehreren Landesteilen die Sicherheitslage ausreichend und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet, z. B. in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Scharif, sodass es der beschwerdeführenden Partei möglich ist, beispielweise in einer dieser Städte Fuß zu fassen und dort, allenfalls nach anfänglichen Schwierigkeiten, ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Die beschwerdeführende Partei ist 23 Jahre alt und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Er absolvierte eine Schulausbildung und arbeitete auch bereits in der Landwirtschaft.
In gesundheitlicher Hinsicht leidet die beschwerdeführende Partei an Schlafproblemen und nimmt eine Gesprächstherapie ohne medikamentöse Behandlung in Anspruch.
Die beschwerdeführende Partei hat mehrere nahe Angehörige, die ihn unterstützen können, nämlich einen Onkel mit Ehefrau und Tochter.
Zum Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei reiste im Mai 2015 im Alter von 17 Jahren illegal nach Österreich ein und hält sich seither fünf Jahre und drei Monate aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet auf.
Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich kein Familienleben, sondern nur ein Privatleben, er ist ledig und kinderlos.
Die beschwerdeführende Partei besuchte eine Übergangsstufe an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, sodann eine Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe, allerdings ohne erfolgreichen Abschluss, und zuletzt eine Fachschule für wirtschaftliche Berufe. Weiters absolvierte er Deutschkurse, ein Praktikum sowie mehr als ein Jahr lang Freiwilligenarbeit. Am 22.01.2020 erwarb er ein Zeugnis des ÖIF zur Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 und auch in der Verhandlung demonstrierte er ausgezeichnete aktive und passive mündliche Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. Die beschwerdeführende Partei stand in Österreich noch nicht in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und ist nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bezieht laufend Leistungen der Grundversorgung. Die beschwerdeführende Partei ist strafrechtlich unbescholten.
Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.
Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
„Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019:
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch wahlbezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in der Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019) …;
AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (15.4.2019): Afghanistan: Innenpolitik …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan’s 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan‘s Paradoxical Political Party System: A new AAN report …;
AAN – Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document) …;
AM – Asia Maior (2015): Afghanistan 2015: the national unity government at work: reforms, war, and the search for stability …;
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Bundesrepublik Deutschland, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration (6.5.2019): Briefing Notes 06. Mai 2019 …;
BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation (7.2016): Dossier der Staatendokumentation, AfPak – Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur …;
BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation (3.2014): Afghanistan; 2014 and beyond …;
Casolino, Ugo Timoteo (2011): "Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, Ricerca elaborata e discussa nell’ambito del Dottorato di ricerca in Sistema Giuridico Romanistico - Unificazione del Diritto – Università degli studi di Tor Vergata – Roma, Facoltà di Giurisprudenza …;
CIA – Central Intelligence Agency (24.5.2019): The World Factbook – Afghanistan …;
CNA – Channel News Asia (19.1.2019): Former Afghan warlord Hekmatyar enters presidential race …;
CR – Conciliation Ressources (2018): Incremental Peace in Afghanistan - Chronology of major political events in contemporary Afghanistan …;
CSO – Central Statistics Organization (2019): Afghanistan Population Estimates for the year 1398 (2019-20) …;
DOA – Daily Outlook Afghanistan (17.3.2019): Challenges of Political Parties in Afghanistan …;
DP – Presse, die (28.1.2019): Afghanistan vor dramatischer Wende …;
DP – Presse, die (16.6.2018): Afghanistan verlängert Waffenstillstand mit den Taliban …;
DW – Deutsche Welle (30.9.2014): Understanding Afghanistan‘s Chief Executive Officer …;
DZ – Die Zeit (8.9.2019): Donald Trump bricht Friedensgespräche mit den Taliban ab …;
DZ – Die Zeit (23.8.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;
DZ – Die Zeit (21.4.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;
EC – Economist, the (18.5.2019): Why Afghanistan’s government is losing the war with the Taliban …;
FA – Frankfurter Allgemeine (23.8.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;
HE – Heise (16.5.2019): Afghanistan: Wie viel Macht hat der Präsident? …;
MS – Messaggero, il (28.1.2019): Afghanistan, fonti Difesa: “Entro un anno via truppe italiane”. Moavero: “Apprendo ora”. Lega: “Nessuna decisione” …;
MPI - Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan …;
NYT – The New York Times (7.3.2019): U.S. Peace Talks With Taliban Trip Over a Big Question: What Is Terrorism? …;
NYT – The New York Times (28.1.2019): U.S. and Taliban Agree in Principle to Peace Framework, Envoy Says …;
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.8.2019): USA und Taliban beenden ihre Gesprächsrunde in Doha …;
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.1.2019): Amerika und die Taliban kommen sich näher …;
REU – Reuters (18.3.2019): U.S. freezes out top Afghan official in peace talks feud: sources …;
RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (20.10.2019): Afghan Presidential Election Results Announcement Delayed …;
RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (29.5.2019): Afghanistan Postpones Two Local Elections …;
RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (6.12.2018): Afghan Commission Invalidates All Kabul Votes In October Parliamentary Election …;
TN - Tolonews (31.5.2019): Taliban Wants An ‚Inclusive Post-Peace Govt‘ …;
TN - Tolonews (19.5.2019): IEC Finalizes Presidential Elections Timeline …;
TN - Tolonews (12.12.2018): IEC Resumes Recounting Of Kabul Votes Under New Method …;
USDOS – United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Afghanistan …;
USDOS – United States Department of State (29.5.2018): International Religious Freedom Report for 2017 – Afghanistan …;
USIP – United States Institute of Peace (11.2013): Special Report 338: 2014 Presidential and Provincial Council Elections in Afghanistan …;
WP – The Washington Post (18.3.2019): Afghan government, shut out of U.S.-Taliban peace talks, running short on options …
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registrierten die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierten die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert, wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen, ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433 …
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Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe sowie Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
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High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018) als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten sowie religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: Bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34%, verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurde, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte, zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch wahlbedingte Gewalt, die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019).
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016), der Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Sta