TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/15 W105 2179888-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.09.2020
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Entscheidungsdatum

15.09.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W105 2179888-1/14E

Im Namen der Republik!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.11.2017, Zl. 1091146010/151552017/4562/BMI_BFA_STM_AST, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.09.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Antragsteller, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem stellte am 14.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am 15.10.2015 statt. Hiebei gab der Antragsteller zentral zu Protokoll, er habe im Iran die Flüchtlingsschule besucht und habe er Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden, da er im Iran keine Dokumente gehabt habe und sei dies sein Asylgrund. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da es dort keine Sicherheit gebe und im Iran und in Afghanistan habe er niemanden mehr.

Ein durchgeführtes Altersfeststellungsverfahren ergab mit Gutachten vom 24.02.2016, dass der Antragsteller zum Antragszeitpunkt jedenfalls älter als XXXX Jahre alt gewesen ist. Es wurde sohin ein spätest mögliches fiktives Geburtsdatum mit XXXX berechnet.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor der Behörde erster Instanz vom 06.10.2017 gab der Antragsteller an, Afghanistan als Kleinkind zusammen mit seinem Onkel verlassen zu haben und sei er sodann neun Jahre im Iran in die Schule gegangen. Zuletzt habe er in einem Waisenhaus gelebt. Im Sommer hätten sie für drei Monate die Möglichkeit bekommen, einen Beruf zu lernen und habe er sich für die Arbeit als Friseur und die Arbeit mit Silber interessiert. Seine Reisekosten habe er selbst durch Ersparnisse, sowie durch das zuständige Waisenhaus gedeckt. Hier in Österreich habe er bereits Sprachkurse besucht und arbeite er unentgeltlich für die Gemeinde.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass es dem Antragsteller nicht möglich gewesen sei, glaubhafte Aussagen zu treffen und habe der Antragsteller jeweils ausweichende Aussagen getätigt. Die Angabe des Antragstellers, dass er aufgrund seines Aufwachsens im Iran überall in Afghanistan Verfolgung befürchten müsse, sei nicht nachvollziehbar. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul oder anderen urbanen oder semi-urbanen Gebieten in Anspruch nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er sich fürchte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Sprache, welche durch sein Leben im Iran verändert sei und wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der schiitischen Hazara, Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt zu sein. Der Beschwerdeführer habe keine Familie in Afghanistan, die ihn unterstützen würde. Er habe keinen Bezugspunkt zur afghanischen Kultur und kenne die Umgebung nicht und verfüge er über keinerlei Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Die Behörde habe es verabsäumt, sich mit dem Thema Rückkehr nach Afghanistan auseinanderzusetzen und wurde diesbezüglich auf ein „Gutachten“ einer amtsbekannten Dolmetscherin vom 15.09.2017 verwiesen, aus welchem hervorgehe, dass afghanische Rückkehrer mit gravierenden Schwierigkeiten zu rechnen hätten. Unter anderem hätten sie, für den Fall, dass sie über kein soziales Netzwerk verfügen und keine finanzielle Unterstützung, nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser und müssten in Zelten leben. Auch führe ein anderer Akzent zu sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung. Auch sei es ohne Beziehungen und mit der Gesellschaft vertrauten Personen nahezu unmöglich in Afghanistan Arbeit zu finden. Im Weiteren habe es die Behörde verabsäumt, sich mit der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des afghanischen Staates auseinanderzusetzen und habe sie sohin nicht erkannt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte nach wie vor nicht in der Lage seien, Zivilisten wie den Beschwerdeführer vor Übergriffen und gezielten Tötungen durch Taliban zu schützen. In diesem Zusammenhang wurde auf die verschlechterte Sicherheitslage in Kabul durch UNHCR Bezug genommen. Vor dem Hintergrund der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zum Thema interne Fluchtalternative in Kabul, wurde ausgeführt, dass die Behörde hätte konkrete Feststellungen treffen müssen, welche Städte neben Kabul konkrete potenzielle Orte der Neuansiedlung darstellen würden. Im Weiteren wurde exemplarisch durch Hinweis auf Medienberichte und Berichte seitens NGO’s auf die schlechte Sicherheitslage in Kabul verwiesen. Weiters identifiziere UNHCR Angehörige der Hazara in den aktuellen Richtlinien zu Schutzbedarf afghanischer Flüchtlinge unter zwei Gesichtspunkten, das Angehörige von gefährdeten Risikogruppen und zwar als ethnische Minderheit einerseits und als religiöse Minderheit andererseits. Der Antragsteller habe Afghanistan als Kleinkind verlassen und sei im Iran sozialisiert worden und spreche Farsi mit iranischem Akzent und verfüge über keinerlei unterstützungsfähige bzw. willige Netzwerke in Afghanistan und bestehe daher besonderer Schutzbedarf.

5. Mit Schreiben vom 06.12.2019 wurde der Antragsteller auf die aktuelle zugrundeliegende Länderdokumentation verwiesen und nahm er hiezu mit Schreiben vom 23.12.2019 schriftlich Stellung. Im Rahmen des Schriftsatzes verwies der Antragsteller auf die bereits eingebrachte Stellungnahme zum vormals gültigen Länderinformationsblatt, sowie verwies er auf die im Rahmen des aktuellen Länderinformationsblatt gewissen Ausführungen zur Situation von Rückkehrern. So halte das Länderinformationsblatt beispielsweise fest, dass die Zahlen der Rückkehrer aus dem Iran auf hohem Stand seien, während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen sei. Insgesamt seien in den Jahren 2012-2018 ca. 3,2 Millionen Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Seit dem Jahr 2016 habe sich die Zahl der Rückkehrer jedes Jahr deutlich verringert, jedoch habe sich die Zahl der Rückkehrer aus Europa leicht erhöht. Schon in den ersten vier Monaten des Jahres 2019 würden die Zahlen ein auffälliges Missverhältnis der Zahl der Rückkehrer in diesem Zeitraum zur Zahl der Personen, die Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten hätten, aufzeigen. Zu diesem Gesichtspunkt sei auch der Hinweis im Länderinformationsblatt auf die Unterstützungsmöglichkeiten von Rückkehrern etwa durch die Regierung oder IOM zu sehen. Das Länderinformationsblatt verweise des Weiteren auf zahlreiche Probleme, welche sich Rückkehrern aus dem Iran und aus Europa in Afghanistan nach wie vor ausgesetzt sähen. Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke seien laut LIB für einen Rückkehrer unentbehrlich. Des Weiteren kämen wichtige Netzwerke zum Tragen, wie der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese würden auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken oder politischen Netzwerken basieren. Der Antragsteller habe Afghanistan bereits im Kleinkindalter verlassen und seither im Iran gelebt und seien seine Eltern verstorben. Er sei mit der Kultur in Afghanistan nicht vertraut und sei die Lage für Leute, die im Iran aufgewachsen seien, sehr schlecht. Man würde sich unter anderem über deren Aussprache in Afghanistan lustig machen. In diesem Zusammenhang wurde darauf verwiesen, dass bereits im Gutachten seitens Dris. Stahlmann vom 28.09.2018 darauf hingewiesen worden sei, dass Rückkehrer aus dem Iran aufgrund dieses Aufenthaltes mit sozio-ökonomischem, sozio-kulturellem, sowie sozio-politischem Ausschluss und den damit verbundenen Gefährdungen rechnen müssten. Überdies würde der Antragsteller aufgrund seines Voraufenthaltes wesentlichen Ausland in Verdacht geraten, sich der europäischen Lebensweise hin angepasst zu haben. Der Antragsteller habe damit zu rechnen, als verwestlicht erkannt zu werden und hinsichtlich dieser Tatsache gefährdet zu sein.

6. Mit Eingabe vom 21.01.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Kopie eines Lehrvertrages betreffend den Antragsteller mit Lehrberuf Koch, Lehrzeit vom XXXX bis XXXX , ausgestellt am XXXX übermittelt.

Mit Schriftsatz vom 05.05.2020 übermittelte der rechtfreundliche Vertreter des Antragstellers eine Mehrzahl Lernunterlagen einerseits zum erfolgreichen Abschluss des ersten Lehrjahres, Lohnabrechnungen, Jahreszeugnis einer Landesberufsschule.

7. Im Rahmen ergänzender Beweisaufnahme wurde der Beschwerdeführer auf die aktuelle Berichtslage zur Situation in Afghanistan verwiesen.

8. Mit Schriftsatz vom 22. 07.2020 bezog der Beschwerdeführer hierzu Stellung und führte er zentral aus, dass festgestellt werden müsse, dass das aktualisierte Länderinformationsblatt keine Verbesserungen ausweise. Der Antragsteller sei mir damals Waisenkind aufgewachsen und verfüge über keinerlei familiäre Bindungen in Afghanistan. Der Beschwerdeführer setzte sein Lehrverhältnis nach wie vor fort und befinde er sich im dritten Lehrjahr. Das Länderinformationsblatt halte fest, dass die Bedingungen für Rückkehrer prekäre seien. So sei der Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe stark eingeschränkt. Durch die große Zahl der Rückkehrer zeige sich ein krasses Missverhältnis zur Zahl jener Personen, die Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten hätten. Das Länderinformationsblatt weise auf zahlreiche weitere Probleme hin, welchen sich Rückkehrer aus dem Iran und aus Europa in Afghanistan nach wie vor ausgesetzt sehen. So seien soziale, ethnische und familiäre Netzwerke für einen Rückkehrer unentbehrlich. Auch werde festgehalten, dass Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben, in der Regel als solche erkennbar seien, was die Existenzgründung erschwere. Gerade auch vorliegende spezifische Sicherheitsrisiken würden in der Regel auch die reguläre Ansiedlung und Existenzgründung verhindern.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Farsi. Der Antragsteller ist ledig und kinderlos. Der Antragsteller ist im frühen Kindesalter gemeinsam mit seinem Onkel in den Iran übersiedelt, hat im Iran neun Jahre die Schule besucht, Gelegenheitsarbeiten verrichtet und ist er gegenwärtig arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer verfügt in Afghanistan über keinerlei familiäre oder verwandtschaftliche sowie über keinerlei sonstigen engen sozialen Anknüpfungspunkte. Seine Familie im Iran könnte den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht finanziell unterstützen. Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Antragsteller steht in Österreich Lehrverhältnis zum Beruf des Kochs.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1.   Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der Antragsteller hat bei Rückkehr nach seinem ursprünglichen Herkunftsstaat Afghanistan nicht mit staatlicher oder relevanter Privatverfolgung zu rechnen.

Der Beschwerdeführer verließ den Iran aufgrund seiner Befürchtung, nach Afghanistan abgeschoben zu werden.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen ihn gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.

1.2.2.   Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest etwa viereinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Antragsteller hat mehrere Integrationsbemühungen durch Teilnahme an Sprachkursen sowie ehrenamtliche Hilfe unternommen. Der Antragsteller steht in einem Lehrverhältnis. Der Antragsteller hat in Österreich Sozialkontakte geknüpft. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann grundsätzlich einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Dem Antragsteller ist bei durchschnittlichen Rückkehrbedingungen grundsätzlich eine Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls zusinnbar. So könnte er sich beispielsweise in einer der Großstädte wie Herat oder Mazar e-Sharif niederlassen und ansiedeln.

Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan vom 13.11.2019 aktualisiert am 18.05.2020, den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer derzeit – zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVwG eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Es ist dem Beschwerdeführer nicht möglich in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Die angeführten Städte verfügen zwar jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese Städte weitgehend gefahrfrei erfolgen könnte, jedoch ist die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die Covid-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit stark eingeschränkt. Ein nachhaltiger Trend zur Normalisierung der globalen Reisefreiheit ist derzeit nicht erkennbar.

Der BF hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Möglichkeit seine Existenz – auch mit entsprechenden Anstrengungen – in Afghanistan durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten zu sichern. Er wäre auch vermutlich derzeit nicht in der Lage, in Afghanistan eine einfache Unterkunft zu finden. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die Covid-19 Pandemie verschärft und führt dazu, dass er derzeit keine Möglichkeit hätte, Arbeit zu finden, um dadurch seinen Unterhalt zu sichern. Durch bereits bestehende Ausgangsbeschränkungen, in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul sowie durch mögliche bzw. wahrscheinliche zukünftige Ausgangsbeschränkungen in weiteren Städten oder Orten in Afghanistan, wäre die Suche nach einer Arbeit so gut wie unmöglich. Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation hinsichtlich einer großen Anzahl afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, welche Großteiles in den afghanischen Städten siedeln werden, wäre die Versorgung des Beschwerdeführers derzeit überall in Afghanistan, insbesondere ohne familiäre oder sonstige Unterstützung, nicht gewährleistet, sodass eine Rückkehr nach Afghanistan aktuell nicht zumutbar ist.

Der BF zählt nicht zur Risikogruppe der Covid-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw. Menschen mit Vorerkrankungen), jedoch kann für den Beschwerdeführer eine ansteckung und damit einhergehend schwere Erkrankung nicht ausgeschlossen werden kann, zumal auch junge, gesunde Menschen aufgrund einer Infektion mit dem Covid-19 Virus ebenfalls erheblich gefährdet sein können. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan, sind insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung, aufgrund der nunmehr angespannten Situation und der steigenden Preise von Lebensmittel nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde.

Die weltweit bestehende Covid-19-Pandemie gestaltet sich zum Entscheidungszeitpunkt so, dass global betrachtet die Ansteckungszahlen stark steigen. Afghanistan befindet sich nach Auffassung des erkennenden Gerichtes erst am Anfang der Ausbreitung der Covid-19 Pandemie. Durch die Rückkehr von zigtausenden Afghanen aus dem von der Covid-19 Pandemie besonders stark betroffenen Iran, ist der weitere Verlauf der Pandemie nicht vorhersehbar.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom Mai 2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)


Aktuelle Entwicklungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Mit Stand 09.04.2020 wurden in Afghanistan 484 COVID-19 Fälle bestätigt (15 Tote, 32 Genesene) (TN 09.04.2020). Für die relativ geringe Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle werden von afghanisches Seite Kapazitätsprobleme bei COVID-19 Verdachtsfällen eingeräumt, die nicht getestet werden können, was die relativ niedrige Anzahl bestätigter Fälle erklärt (VoA 04.04.2020).

Aller Voraussicht nach, wird COVID-19 Afghanistan aufgrund mehrerer Faktoren besonders hart treffen: einerseits die schlechte Gesundheit, unter der viele Afghanen auch zu normalen Zeiten leiden – ansteckende Krankheiten wie Typhus oder Tuberkulose sind virulent; die Kinder- und Müttersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt; auch sind viele Kinder in den Provinzen unterernährt, was sie anfällig für Infekte macht. Nach jahrzehntelangem Krieg gibt es Hunderttausende, die durch Verletzungen dauerhafte Schäden davongetragen haben (NZZ 07.04.2020; vgl. BBC 09.04.2020). Unter Berufung auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) prognostiziert das afghanische Gesundheitsministerium: 16 Millionen von mehr als 30 Millionen Einwohnern könnten an COVID-19 erkranken. Im schlimmsten Fall müssten 700.000 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden; 220.000 davon müssten möglicherweise auf Intensivstationen behandelt werden – von diesen könnten 110.000 Menschen an den Folgen von COVID-19 sterben. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 09.04.2020) und 300 Beatmungsgeräte (TN 08.04.2020) zur Verfügung. In der Provinz Herat, die die höchste Anzahl an bestätigten COVID-19-Fällen zu verzeichnen hat (TN 07.04.2020b), wird die Zahl der Beatmungsgeräte auf nur 12 Stück geschätzt (BBC 09.04.2020). Einer weiteren Quelle zufolge stehen in Herat sogar nur 10 dieser Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 08.04.2020).

In der an den Iran angrenzenden Provinz Herat hat sich die Anzahl positiver Fälle des COVID-19 unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dieses Vorbringen und erklärte dies mit langwierigen Beschaffungsprozessen. Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 07.04.2020).

Nach dem Tod eines Arztes aus dem „Amiri Medical Complex“ in Kabul aufgrund von COVID-19, wurde die Klinik geschlossen. Neben diesem Arzt wurde eine Reihe von Angestellten desselben Krankenhauses positiv auf COVID-19 getestet. Auch in einem anderen Krankenhaus in Kabul „Rabia Balkhi Maternity Hospital“ hat sich ein Arzt mit COVID-19 angesteckt; 15 weitere Beschäftigte befinden sich in Quarantäne (TN 08.04.2020).

Am 07.04.2020 wurde in Kandahar ein weiteres Labor eröffnet, um Verdachtsfälle des COVID-19 zu testen. In diesem Labor sollen täglich bis zu 100 Verdachtsfälle innerhalb von 24 Stunden getestet werden. Außerdem sollen auch Verdachtsfälle aus den angrenzenden Provinzen Helmand, Uruzgan und Zabul in dieser Einrichtung getestet werden (TN 07.04.2020).

In den letzten Tagen wurde im Westen Kabuls, nach Herat, die höchste Anzahl COVID-19-Infizierter verzeichnet (TN 07.04.2020). Sowohl in Kabul als auch in der nah der iranischen Grenze gelegenen Stadt Herat gelten inzwischen Ausgangssperren, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen (NZZ 07.04.2020; vgl. BBC 09.04.2020). In der Stadt Kabul dürfen sich nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler-Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 09.04.2020).

Situation in den Grenzregionen und Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan:

Die afghanischen Behörden kämpfen um die Kontrolle über diese beispiellosen Rückkehrbewegungen an den seit jeher durchlässigen und oft chaotischen Grenzübergängen (zu den beiden Ländern Pakistan und Iran) zu gewinnen (BBC 09.04.2020).

(BBC 09.04.2020)

Iran:

An dem Islam Qala Grenzübergang gibt es auf beiden Seiten keine Quarantänestation. Zwar führen die Provinzbehörden von Herat grundlegende Gesundheitskontrollen durch, jedoch sind sie von der Anzahl an Rückkehrer/innen überfordert. Auch existiert in Herat ein Mangel an COVID-19-Testskits; Ergebnisse dauern für diejenigen, die sich testen lassen, vier oder fünf Tage, bis dahin sind die meisten schon in ihre Dörfer zurückgekehrt (BBC 09.04.2020). Wie viele Rückkehrer/innen sich mit dem Virus infiziert haben, ist völlig unklar, da sie weder untersucht noch isoliert wurden (NZZ 07.04.2020). Die Internationale Organisation für Migration (IOM), hat Zentren errichtet, um besonders vulnerablen Rückkehrer/innen, humanitäre Hilfe zu gewähren. Personen mit COVID-19-Symptomen werden an die örtlichen Krankenhäuser überstellt – bisher sind zehn bis 15 Personen positiv getestet worden (BBC 09.04.2020).

Pakistan:

Die afghanische Regierung ersuchte die pakistanischen Behörden auf, die Grenzübergänge zu öffnen, um afghanischen Rückkehrer/innen, die von der Schließung der pakistanischen Grenzen betroffen waren, eine Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen (BBC 09.04.2020). Die pakistanische Regierung verlautbarte die beiden Hauptgrenzübergänge Torkham und Chaman vier Tage lang (ab Montag 06.04.2020) zu öffnen, um den Menschen eine Rückkehr nach Afghanistan zu ermöglichen (VoA 04.04.2020). Geplant war außerdem von pakistanischer Seite 1.000 Personen pro Tag nach Afghanistan zulassen. Jedoch sollen in den letzten zwei Tagen 20.000 Personen die Grenze zu Chaman überschritten haben, was die Behörden veranlasst hat, die Bestimmung aufzugeben, nur Personen mit gültigen Papieren die Grenze passieren zu lassen (BBC 09.04.2020).

Auf afghanischer Seite hatten die Behörden Vorkehrungen getroffen, um 4.000 Afghanen für 14 Tage beim Grenzübergang Torkham unter Quarantäne zu stellen, dort wurden sie aber schnell von der Anzahl an Rückkehrer/innen überwältigt. IOM zufolge, sind in drei Tagen 60.000 Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Dies ist die registrierte Anzahl an Menschen, die offizielle Kontrollpunkte passieren – illegale grenzüberschreitende Bewegungen zwischen Afghanistan und Pakistan existieren seit vielen Jahren; diese Anzahl zu verfolgen ist schwierig (BBC 09.04.2020).

Auszug aus dem OCHA Artikel „Daily Brief Afghanistan COVID 19 No. 37“ vom 19.04.2020 (https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-flash-update-daily-brief-covid-19-no-37-19-april-2020):

• People confirmed to have COVID-19: 996 (Source: Afghanistan Ministry of Public Health - MoPH)

• Deaths from COVID-19: 33

Key concerns: Border crossing areas, in-country testing capacity, protective equipment for frontline workers, commodity prices, floods, messaging and rumour management, international air services

MoPH data shows that 996 people across 30 provinces in Afghanistan are now confirmed to have COVID-19. Some 133 people have recovered and 33 people have died. Of the 33 people who have died from COVID-19, 30 had at least one underlying disease, the most common of which are diabetes and cardio-vascular disease. The majority were between ages of 40-69; men between the ages of 40-69 represent 60 per cent of all COVID-19 related deaths.

Cases are expected to increase rapidly over the weeks ahead as community transmission escalates, creating grave implications for Afghanistan’s economy and people’s well-being. Herat is still the most affected part of the country, followed by Kabul.

There are currently eight laboratories in the country. Each lab is able to process an average of 100-150 tests per lab, per day. Additional labs in Bamyan and Badakhshan are being established and the Government hopes to have a total of 15 labs operating within the month. Currently laboratory reagents and RNA Extraction Kits are in short supply; WHO is working to source additional supplies this week but is limited by a global shortage. The Ministry of Public Health has also recently established a 20-bed ward in Surobi district to provide care for COVID-19 patients and prevent further spread of the disease.

[…]

Cross Border Concerns:

Borders with Tajikistan, Uzbekistan and Turkmenistan remain open only for commercial traffic and crossings of passport holders back to Afghanistan.

As of 19 April, Johns Hopkins University reports that there are 80.868 confirmed cases of COVID-19 in Iran. The Milak crossing (Nimroz) is formally open only to commercial traffic and documented citizens of Afghanistan; 788 individuals used this border crossing to return to Afghanistan over the weekend. The Islam Qala-Dogharoon land border crossings (Herat) remain open on both sides for both individuals and commercial traffic. 2.461 people used this border crossing to return to Afghanistan over the weekend.

As of 19 April, according to Johns Hopkins University there are 7,993 people confirmed to have COVID-19 in Pakistan.

On Friday, Pakistan temporarily opened its border at Torkham. 518 Pakistani nationals were facilitated to return to Pakistan; 256 citizens of Afghanistan were facilitated to return home. Following regular health screening processes, those who crossed returned to their homes. Pakistan’s border is now closed to all except commercial vehicles. Pakistan is facilitating the movement of cargo trucks and containers into Afghanistan through the Torkham and Chaman border crossing points three days per week (on Monday, Wednesday and Friday). Five food trucks that had been waiting to cross from Pakistan have been cleared to cross into Afghanistan. It is hoped that the three remaining trucks will cross through on this week. Facilitation of these trucks to cross the border has mitigated potential pipeline breaks thus far. Humanitarians remain hopeful that border crossing for commercial traffic will be maintained according to the announced schedule to ensure the flow of humanitarian food and relief items from storage sites in Karachi.

Operational Issues:

A number of provinces have instituted measures to limit the exposure of residents to COVID-19. Throughout the country, these ‘measured lockdowns’ have resulted in closures of sections of each city and/or movement limitations. These include limits on the number of people travelling together and the imposition of curfews. Limitations on inter-city travel have also been implemented.

Reports indicate that despite assurances by the Government that these would not limit critical program movements of NGOs and the UN, newly introduced lockdown measures continue to impact on the mobility of some staff members. Humanitarian partners continue to urge the Government to employ a national approach to these issues so that individual negotiations are not required on a case-by-case basis. The closure of government institutions due to movement restrictions may create new coordination challenges for humanitarian agencies.

[…]

Auszug aus dem UNHCR Artikel „Coronavirus – Now is not the time to forget Afghanistan and its neighbours” vom 14.04.2020 (https://www.unhcr.org/news/briefing/2020/4/5e9567114/coronavirus-time-forget-afgha nistan-its-neighbours.html):

[…]

Despite persistent risks and insecurity, Afghans continue to return from both Iran and Pakistan. Tens of thousands of Afghan citizens have crossed over from Pakistan to Afghanistan since the temporary re-opening of the border last week. From Iran, while the number of Afghans nationals returning peaked at some 60.000 in March, around 1.500 individuals are currently returning every day.

Afghanistan faces the prospect of overwhelmed medical and social services, with a dramatic increase in Afghans returning home, hundreds of thousands of people living in displacement sites and rising poverty levels.

Pakistan and Iran, which host some 90 per cent of the world’s 2.7 million Afghan refugees are experiencing immense strain on their health systems and economies. Lockdown measures and a sharp downturn in economic activity have left many Afghan refugees confronted with an inability to meet even their most basic needs.

For Afghan refugees in Iran and Pakistan, the impacts of COVID-19 go far beyond health. In both countries, those who are employed are commonly hired as daily labourers.

Amidst various levels of lockdown across the region, such work has abruptly ceased and refugees with no income and their hosts are now faced with economic threats to their survival.

[…]

Auszug aus dem The New Humanitarian Artikel „Food prices soar under coronavirus threat in Afghanistan” vom 07.04.2020 (https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/04/07/afghanistan-food-insecurity-coronavirus)

Food prices soar under coronavirus threat in Afghanistan:

Kabul:

At Mahmod Azizi’s shop in Afghanistan’s capital, a kilo of lemons now sells for 400 Afghani – more than $5. Low supplies fuelled by coronavirus fears, he said, have pushed him to double his prices.

[…]

Border closures and export restrictions are squeezing supply lines and pushing food prices upward in Afghanistan, raising fears that millions already facing emergency levels of food insecurity will be even more at risk as the coronavirus spreads.

During the last two weeks of March, as COVID-19 cases increased in Afghanistan, the price of wheat flour also surged across the country – including a 20 percent rise in the northeast city of Faizabad.

The increases are caused in part by regional border restrictions as Afghanistan and its neighbours – particularly Pakistan to the south – try to contain a pandemic that has now infected more than 1.3 million people worldwide.

“We have good prospects for this year’s harvest due to start in May,” Rajendra Aryal, country representative with the UN’s Food and Agriculture Organization (FAO), told The New Humanitarian. “But a protracted pandemic crisis could quickly put a strain on the food supply chain.”

The situation mirrors broader worries about COVID-19’s spillover effects on economies and food security around the world. But there’s particular concern for countries already facing crises like Afghanistan, which has been at war for the past four decades.

[…]

Herat, a northwestern province that borders Iran and is the country’s food production hub, has become Afghanistan’s epicentre for the pandemic. Since the start of the year, more than 210.000 Afghans – many of them undocumented – have returned home from Iran, which is one of the countries hardest hit by the coronavirus, with more than 3.730 deaths and tens of thousands of confirmed cases.

Interrupted supply chains and price hikes:

Border crossings with Pakistan – one of the main export and import routes for aid supplies and food to Afghanistan – have been closed to most traffic since mid-March. There have been brief openings for commercial trucks carrying goods and humanitarian supplies. But at least 577 metric tons of food were stuck at one main crossing until at least 6 April, when Pakistan agreed to open its borders for four days, according to a UN situation report.

[…]

Hungry and displaced:

Afghanistan’s humanitarian community is setting up a coronavirus response, but Farshid Farzam, deputy head of programmes at the German aid agency, Welthungerhilfe, says that food insecurity among returnees and internally displaced people was already rampant before the pandemic.

“The coronavirus outbreak could mean hunger in Afghanistan,” he said.

Over the last year, more than one million people were displaced by conflict and disasters or returned from neighbouring countries after years away. Most depend on cash or food aid or for market prices to remain affordably low. At the same time, unhygienic and crowded living spaces increase the threat of the coronavirus spreading, aid groups warn.

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA 7.2016).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen sie ist, da viele von ihnen – zumindest anfangs – regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.3.2019). Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (BFA 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (BFA 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 21.6.2019). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (BFA 7.2016). Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 21.6.2019).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 2.9.2019; vgl. FH 4.2.2019) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 2.9.2019). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.2.2019; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (BFA 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (BFA 7.2016).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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