TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/6 W105 2161679-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.10.2020
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Entscheidungsdatum

06.10.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W105 2161679-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald Benda als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2017, Zl. 1090708802-151536319, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.02.2020 und 01.10.2020 zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 06.10.2021 erteilt.

III.    Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte am 12.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Am 13.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Hiebei gab der Beschwerdeführer zentral zu Protokoll, afghanischer Staatsangerhöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara zu sein. Als Grund für das Verlassen seines Herkunftsstaates führte der Antragssteller wörtlich aus: „Bis vor sechs Jahren haben wir in Pakistan gelebt. Danach sind wir nach Afghanistan zurückgereist. Dort war unsere finanzielle Situation sehr schlecht. Meine Mutter hat gekocht, und ich habe das Essen auf der Straße verkauft. Im Iran habe ich illegal gelebt und Geld nachhause geschickt. Da ich im Iran illegal gewesen bin, habe ich mich entschlossen nach Europa zu reisen. Das sind meine einzigen Fluchtgründe. … Ich habe Angst vor Armut, wir haben dort nichts. Weiters ist dort keine Sicherheit.“

3.       Am 03.05.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Hiebei gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, er sei mit seinen Eltern etwa im Alter von 3 Monaten nach Pakistan übersiedelt und seien erst nach 10-jährigem Aufenthalt nach Afghanistan zurückgekehrt. Sein Vater sei getötet worden und habe er von Kindesalter an arbeiten müssen. Er sei nicht gesund und leide an Schlaflosigkeit sowie bekomme er Migräneanfälle und habe Angstzustände. In diesem Zusammenhang verwies der Beschwerdeführer auf eine verordnete Medikation. Er habe nie die Schule besucht und sei als Teppichknüpfer tätig gewesen. Seine Mutter, ein Bruder und eine Schwester würden nach wie vor in Kabul leben. Er habe im Iran gearbeitet. Weiterhin berichtete der Beschwerdeführer im Rahmen eines Sprengstoffattentats verletzt worden zu sein. Er habe in der Folge Angst vor weiteren Anschlägen gehabt. Etwa sieben Monate nach dem Selbstmordanschlag habe er die Heimat verlassen und habe drei Jahre im Iran gearbeitet.

Im Rahmen des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens legte der Beschwerdeführer medizinische Unterlagen vor, die ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung bescheinigen. Unter einem übermittelte der Beschwerdeführer Bestätigungen dafür, dass er aktiv an der Zivilgesellschaft teilnimmt, wie etwa an Fitnessaktivitäten, innerhalb der örtlichen Feuerwehr, Freiwilligenarbeit, wie an „tatkräftige“ Mitarbeit zum Teil schweren Arbeiten (Waldarbeiten), Teilnahme an Deutschkursen sowie an gemeinsamen Ausflügen und Theaterbesuchen sowie sein Bestreben eine Lehre einzugehen. Zudem wurde ihm durch eine Mehrzahl an Referenzschreiben bescheinigt, in vorbildlicher Weise an organisierten Deutschkursen bzw. Deutschunterricht teilzunehmen, erhebliche Energie dafür einzusetzen, zielorientiert und beharrlich zu sein und wirke er organisiert, gepflegt und strukturiert. Weiterhin wurden ihm große Fortschritte beim Erlernen der deutschen Sprache attestiert.

4.       Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, sowie gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

5.       Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes vorgebracht, dass der Beschwerdeführer zuletzt vor seiner Reise nach Europa drei Jahre im Iran gelebt und gearbeitet habe und leide er derzeit noch an Kopfscherzen und Schlaflosigkeit unter gleichzeitiger Medikation. Zu Unrecht habe die Behörde erster Instanz sein Vorbringen zu Ereignissen im Herkunftsstaat sowie seinen Zustand als unglaubwürdig gewertet. Der Zweifel an seiner „Behinderung“ hätte man fachärztlich begutachten lassen müssen und ihn sodann als behindert einstufen gehabt. In diesem Zusammenhang verwies der Beschwerdeführer auf bereits vorgelegte Befunde aus dem Jahr 2015. Weiterhin verwies der Beschwerdeführer darauf, bei Rückkehr in Afghanistan keine adäquate medizinische Versorgung erreichen zu können.

6.       Im Rahmen der vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.02.2020 abgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung bekräftigte der Antragssteller zentral, in Österreich keinerlei familiärer Bindigen zu haben und habe er umgekehrt Kontakt zu seinen Familienangehörigen im Herkunftsstaat. Weiterhin verwies der Beschwerdeführer unter gleichzeitiger Beibringung schriftlicher Unterlagen auf eine Fülle von Indizien für eine gelungene Integration in Österreich. Gleichbleibend bekräftigte der Beschwerdeführer tatsächlich drei Jahre im Iran in einer bzw. mehreren Baufirmen tätig gewesen zu sein. Er habe im Iran illegal gearbeitet und Geld nachhause geschickt. Auf Grund seiner Illegalität im Iran habe er sich entschlossen nach Europa zu reisen. Zur medizinischen Tangente - nämlich insbesondere der Erreichbarkeit adäquater eventuell benötigter Medikamente - gab der Beschwerdeführer im Rahmen des Beschwerderechtsgespräches an, dass er, als er in den Iran gegangen sei, seine Medikamente aus Afghanistan bereits mitgenommen hatte. Sogar bei schlechterer wirtschaftlicher Lage sei es ihm möglich gewesen, die Medikamente direkt – ohne Arztbesuch – aus der Apotheke zu holen.

Im Vorlauf zur anberaumten öffentlichen mündlichen Verhandlung am 20.02.2020 wurde dem Beschwerdeführer ein aktuelles Lagebild zur Situation in seinem Herkunftsstaat unter gleichzeitigem Hinweis auf weitere relevante Dokumentationsunterlagen übermittelt und erstattete er mit Schriftsatz vom 02.01.2020 eine Stellungnahme, worin er auf die aktuelle Situation in Afghanistan hinwies, sodass eine innerstaatliche Aufenthaltsnahme mangels vorhandener Familie nicht möglich sei und sei es ohne soziale Netze nicht möglich, in Kabul eine Arbeit zu finden. Unter Verweis auf mehrere Dokumentationsunterlagen verwies der Beschwerdeführer auf die Wichtigkeit eines bestehenden sozialen Netzwerkes in Hinblick auf die Arbeitssuche sowie die Suche nach Wohnung etc.

7.       Das Bundesverwaltungsgericht wies nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.02.2020 mit am selben Tag mündlich verkündetem Erkenntnis und am 25.03.2020 schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis die Beschwerde ab. Begründend wurde zusammengefasst in dieser Entscheidung ausgeführt, dass die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Fluchtgründe keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention aufzeigen würden. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan sei der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt. Nach den Angaben des Beschwerdeführers würden kernfamiliäre Anknüpfungspersonen nach wie vor in Kabul leben und arbeiten, weshalb aus diesem Grunde nicht ersichtlich sei, warum gerade eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach seinem Herkunftsort bzw. Ort des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes in Afghanistan gerade unmöglich wäre. Der Beschwerdeführer sei volljährig, zwar psychisch beeinträchtigt, jedoch medikamentös kompensiert, überaus lernfähig, flexibel und kommunikativ sowie arbeitsfähig. Die gebotene Medikation sei offenbar in Afghanistan auch für untere Einkommensschichten erreichbar. Der Beschwerdeführer habe etwa angegeben, dass er nach seiner Verletzung in Afghanistan medizinisch versorgt worden sei und es ihm auch möglich gewesen sei, bei geringem Einkommen die notwendige Medikamentierung in den Apotheken zu erhalten und sich so auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu erhalten. Dem Beschwerdeführer sei es sogar möglich gewesen, sich einen Vorrat an Medikamenten mit auf seine Reise und für den Aufenthalt im Iran mitzunehmen und sei es ihm auch möglich gewesen, die geeigneten Medikamente käuflich zu erwerben sowie befand er sich offensichtlich nicht in einem dergestalt prekären Gesundheitszustand, dass er allenfalls nicht arbeitsfähig gewesen wäre. Der Beschwerdeführer verfüge über mehrjährige Berufserfahrung in seinem Kulturkreis. Er habe zwar bislang noch nicht in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat gelebt und verfüge dort über keine sozialen bzw. familiären Anknüpfungspunkte. Er habe den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht, wodurch er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei. Zudem spreche er Farsi/Dari, eine der Landessprachen Afghanistans als Muttersprache sowie Paschtu. Der Beschwerdeführer gehöre keinem Personenkreis an, von anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen könne. Den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 sei zu entnehmen, dass junge alleinstehende Männer, ohne besondere Vulnerabilität, sich auch ohne familiäre Unterstützung in urbanen oder semi-urbanen Gebieten mit ausreichender Infrastruktur und unter staatlicher Kontrolle niederlassen könnten. Der Beschwerdeführer habe zwar beachtliche Schritte in Richtung Integration in Österreich unternommen, Sprachkurse besucht sowie sich in vorbildhafterweise in der Zivilgesellschaft eingefügt und soziale Kontakte geknüpft. Im Lichte einer Gesamtbetrachtung sei aber davon auszugehen, dass die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet nur geringeres Gewicht haben und gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukomme, in den Hintergrund zu treten. Die Rückkehr des Beschwerdeführers verstoße nicht gegen Art. 8 EMRK.

8.       In der Beschwerde gemäß Art. 144 B-VG monierte der Beschwerdeführer im Wesentlichen, dass das BVwG offenkundig mehrere im Verfahren vorgelegte fachärztliche Befunde unbeachtet gelassen habe, die eine weit schwerere psychische Erkrankung des BF aufzeigen würden, als jene Belastungsstörung, die vom BVwG festgestellt worden sei. Es würden weiters konkrete Feststellungen zu den psychischen Erkrankungen des BF, der notwendigen Medikation und Therapie fehlen. Außerdem habe das BVwG jegliche Ermittlungen zur Verfügbarkeit und Kosten, der für die Therapie notwendigen Medikamente in Afghanistan unterlassen. Nach den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die in Verfahren wie dem gegenständlichen erheblich seien, sei eine innerstaatliche Fluchtlinie nur dann zumutbar, wenn die Person Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung und (iii) Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfüge, die einen angemessenen Lebensstandard ermögliche. UNHCR sei ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden könne, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft habe und man sich vergewissert habe, dass diese willens und in der Lage seien, den Beschwerdeführer tatsächlich zu unterstützen. Hinsichtlich einer Rückkehrmöglichkeit nach Kabul verweise das BVwG pauschal auf das Länderprofil der Staatendokumentation. Die momentane Sicherheitslage in Kabul sei im angefochtenen Erkenntnis nicht einmal in Ansätzen erörtert worden, vor allem fehle eine nähere Auseinandersetzung mit der Einschätzung des UNHCR zur Sicherheitslage in Kabul. Ungeachtet der Sicherheitslage habe sich das BVwG auch nicht mit der Frage befasst, ob die in Kabul lebenden Geschwister des BF bereit und in der Lage wären, den BF im Falle seiner Rückkehr jene intensive Unterstützung zukommen zu lassen, die er angesichts seiner Erkrankungen und der damit einhergehenden Einschränkungen benötige.

9.       Der Verfassungsgerichtshof entschied mit Erkenntnis vom 26.06.2020, dass der Beschwerdeführer durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitel sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 390/1973) verletzt worden sei.

Im Übrigen lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab.

In den Erwägungen wurde dazu zusammengefasst ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht übersehe, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, im Alter von drei Monaten nach Pakistan übersiedelt zu sein und erst nach einem zehnjährigen Aufenthalt dort nach Afghanistan zurückgekehrt wäre. Bevor er nach Europa gereist wäre, wo er am 12. Oktober 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, habe er drei Jahre im Iran gearbeitet. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung habe der Beschwerdeführer auf die Frage, wie lange er insgesamt in Afghanistan gelebt habe, angegeben, dass er sich nicht genau erinnern könne, er glaube, es wären etwa drei Jahre gewesen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer nicht unter jene Gruppe jener Rückkehrer subsumiere, die entweder außerhalb Afghanistans geboren worden seien oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt hätten, verkenne das Bundesverwaltungsgericht das Parteivorbringen in einem wesentlichen Punkt. Das Bundesverwaltungsgericht übersehe nämlich, dass eine aktuelle und spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Beschwerdeführers, der in Pakistan aufgewachsen sei, vorliege. Die „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2018 enthalte eine spezifische Beurteilung für jene Gruppe von Rückkehrern, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben: Aus dem Bericht des EASO gehe hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans). Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erweise sich im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK schon aus diesen Gründen verfassungswidrig. Soweit die Entscheidung sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw. der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise beziehe, sei sie mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

10.      Mit Verfügung vom 17.07.2020 wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 29.06.2020, die UNHCR-Guidelines Afghanistan vom 30.08.2018 sowie der Bericht des European Asylum Support Office vom 20.04.2019 unter Setzung einer zweiwöchigen Frist zur Stellungnahme übermittelt.

11.      Mit Schriftsatz vom 29.07.2020 verwies der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung zunächst auf den bereits vorgelegten Befundbericht XXXX vom 03.02.2020 sowie auf die Begutachtung XXXX vom 16.06.2017, denen zu entnehmen sei, dass der Beschwerdeführer an einer andauernden Persönlichkeitsänderung und starke kognitive Leistungsbeeinträchtigungen leide. Dabei handle es sich um eine psychische Erkrankung, der eine (posttraumatische) Belastungsstörung vorausgegangen sein könne. Es handle sich dabei um eine Folgeerkrankung mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen, welche im ersten Verfahrensgang nicht abschließend festgestellt worden seien. Um den aktuellen Gesundheitszustand des BF zu erheben, sei Dr. XXXX mit der Erstellung eines Befundes beauftragt worden. Der Beschwerdeführer sei am 25.07.2020 von XXXX untersucht worden. Es werde daher der Antrag gestellt, die Frist für die Abgabe einer Stellungnahme um vier Wochen zu erstrecken und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

12. Mit Schriftsatz vom 28.07.2020 verwies der Beschwerdeführer neuerlich darauf, dass er an einer andauernden Persönlichkeitsänderung leide sowie weise er starke kognitive Leistungsbeeinträchtigungen auf. Es handle sich dabei um eine psychische Erkrankung, der eine posttraumatische Belastungsstörung vorausgegangen sei. Jedenfalls handle es sich dabei um eine Folgeerkrankung mit tiefgreifender Auswirkung auf die Persönlichkeit des Antragstellers. Im ersten Verfahrensgang sei nicht abschließend festgestellt worden, welche Auswirkungen diese konkrete Erkrankung die festgestellten kognitiven Einschränkungen auf die Fähigkeit des Beschwerdeführers hätten, selbst für seine Existenzsicherung zu sorgen. Diese Feststellungen seien jedoch unbedingte Voraussetzungen für die Beantwortung der Frage, ob dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe; insbesondere in jenen Städten, in denen der Beschwerdeführer über kein Unterstützungsnetzwerk verfüge. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer nunmehr einer Untersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie und Neurologie eines XXXX Krankenhauses unterzogen werde (inklusive umfassenden Fragenkatalog zum Zustand und zu Entwicklung des Beschwerdeführers).

13. Mit Schriftsatz vom 17.08.2020 zog sich der Antragsteller im Rahmen einer Stellungnahme darauf, dass die Europäische Asylbehörde EASO davon ausgehe, dass für die Annahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative bestimmte Faktoren im individuellen Einzelfall positive angenommen bzw. festgestellt werden müssen, insbesondere ein Unterstützungsnetzwerk oder finanzielle Mittel. Der letzte Aufenthalt des Beschwerdeführers in Kabul habe in den Jahren 2007 bis 2010 stattgefunden und könne insbesondere von einer Vertrautheit mit den Abläufen, der Kultur, dem Leben in Afghanistan, speziell in den drei genannten Städten, nicht ausgegangen werden, so hätten sich die genannten Faktoren in den vergangenen zehn Jahren doch gravierend verändert.

Beim Beschwerdeführer handelt es sich nun nachweislich nicht um einen sogenannten „gesunden, alleinstehenden jungen Mann“, sondern über einen überdurchschnittlich psychisch erkrankten Menschen mit „starken kommunitiven Leistungsbeeinträchtigungen“ und einer „andauernden Persönlichkeitsänderung“ im Weiteren wurde auf die Erschwernislage durch die Covid-19 Krise verwiesen.

14. Mit Schriftsatz vom 17.09.2020 übermittelte der rechtsfreundliche Vertreter des Antragsstellers nunmehr unter Hinweis auf einen Bericht von EASO aus August 2020 – hinsichtlich einer nicht stattgefundenen Verbesserung für die Bevölkerung zum Zugang zur medizinischen Versorgung in Afghanistan – auf das vorliegende medizinische fachärztliche Gutachten vom 17.09.2020, in welchem dem Antragssteller eine Mehrzahl psychischer Erkrankungen bzw. Beeinträchtigungen diagnostiziert wurden. Die Liste des Weiteren die aktuelle gebotene Medikation des Beschwerdeführers sowie weitere Empfehlungen auf.

15. Im Rahmen der fortgesetzten Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 01.10.2020 wurden nach Erörterung des bisherigen Verfahrensganges und der vorliegenden Unterlagen zwei Zeugen aus dem engeren Lebensumfeld des Beschwerdeführers niederschriftlich einvernommen. Die rechtsfreundliche Vertretung verwies abschließend neuerlich darauf, dass es sich beim Antragssteller um einen Mann mit schweren psychischen Leiden und Erkrankungen handle und schließe auch der fachärztliche Befund vom 17.09.2020 eine Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers ebenso wie die getätigten Zeugenaussagen aus und könne der Beschwerdeführer tatsächlich in Afghanistan auf kein soziales familiäres Netzwerk zurückgreifen, das gewillt sei ihn in dieser Lage zu unterstützen.

Nach Schluss der Verhandlung begab sich der Beschwerdeführer in die Waschräume des Bundesverwaltungsgerichtes, wo er kollabierte und sodann ernste Krampfanfälle entwickelte, sodass umgehend durch das Sicherheitspersonal des Bundesverwaltungsgerichtes sowie durch die anwesenden mitgereisten Begleitpersonen Erste Hilfe geleistet werden musste, sowie wurde der Antragsteller sodann durch die XXXX Rettung stabilisiert und konnte er erst nahezu eine Stunde später transportfähig gemacht und in ein XXXX Krankenhaus verbracht werden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er spricht Farsi als Muttersprache sowie versteht er Paschtu. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer lebte zuletzt drei Jahre im Iran und hat er dort durchgehend auf dem Bau gearbeitet. Vor seiner Ausreise ging der Beschwerdeführer in der Stadt Kabul einer Erwerbstätigkeit nach.

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Herkunftsstaat verfügt der Beschwerdeführer über kernfamiliäre Anknüpfungspunkte und verwandtschaftliche Bindungen. Die Anknüpfungspersonen stehen in Erwerbstätigkeit. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan, nachdem er Opfer eines Selbstmordattentates wurde, medizinisch behandelt und versorgt sowie war es ihm bis zu seiner Ausreise in den Iran möglich, sich die geeignete Medikation zu besorgen. Der Beschwerdeführer nahm sich für seinen in Aussicht genommenen Aufenthalt im Iran eine größere Menge an Medikamenten aus Afghanistan nach dem Iran mit. Im Iran versorgte sich der Beschwerdeführer im weiteren ebenfalls mit geeigneten Medikamenten und war es ihm möglich, drei Jahre lang ohne größere Probleme erwerbstätig zu sein und sogar Geld nach Afghanistan zu senden. Der Beschwerdeführer hat insbesondere Afghanistan oder auch den Iran nicht auf Grund einer aussichtslosen medizinischen - betreffend sein Krankheitsbild - Versorgungssituation verlassen.

1.2. Medizinische Diagnose

Der Beschwerdeführer ist hochgradig psychisch beeinträchtigt bzw. krank. Dem Antragsteller wurden nachstehende Erkrankungen fachärztlich bescheinigt:

. posttraumatische Belastungsstörung F43.1

. dissoziativer Mutismus F44.4

. dissoziative Anfälle F44.5

. organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma F07.2

. chronische posttraumatische Kopfschmerzen G44.3

. analgetikainduzierte Kopfschmerzen G44.4

Der Antragsteller ist grundsätzlich medikamentös kompensiert; wie jedoch der drastische Krampfanfall nach Abschluss der Beschwerdeverhandlung vom 01.10.2020 deutlich vor Augen führte, ist der Beschwerdeführer schwerstens psychisch beeinträchtigt.

1.3. Zur Unzumutbarkeit der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan:

Tatsächlich ist im durchgeführten Ermittlungsverfahren hervorgekommen, dass der Antragssteller vor dem Verlassen seines Herkunftsstaates und auch im Iran einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und er selbsterhaltungsfähig war. Vor dem Hintergrund der schweren psychischen Erkrankung und der gegebenen medizinischen Situation ist es dem Antragssteller nicht zumutbar, sich nach Afghanistan (zurück) zu begeben und ist es ihm nicht zumutbar – auch bei Gegebenheit eines gewissen sozialen Netzwerkes – in Afghanistan für sich selbst zu sorgen und dort eine Erwerbstätigkeit wiederaufzunehmen und seinen Lebensunterhalt selbst zu gestalten und zu finanzieren. Die familiären Anknüpfungspersonen sind überdies nicht finanziell leistungsfähig, weshalb auch nicht von einer belastbaren Unterstützungsmöglichkeit diesbezüglich ausgegangen werden kann.

1.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

In Österreich hat der Beschwerdeführer keine Angehörigen. Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher diverse Freundschaften und Beziehungen gepflogen, Deutschunterricht genossen, und das Sprachzertifikat A2 absolviert. Derzeit besucht er den Deutschkurs B1. Dem Beschwerdeführer wird besonders gute Integration attestiert.

Der Beschwerdeführer hat Integrationsschritte durch seine Bemühungen des Spracherwerbs sowie durch die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit, durch sportliche Aktivitäten sowie Knüpfung guter Beziehungen zu Personen seines Umfeldes unternommen und wurde ihm in Österreich seitens einer größeren Zahl an Personen aus der Zivilgesellschaft Unterstützung zu Teil. Der Beschwerdeführer befindet sich seit etwa 4 Jahren und 10 Monaten in Österreich. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage für eine Lehre.

Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan vom 13.11.2019, mit letzter Information vom 29.06.2020:

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

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Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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