TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/20 I416 2234252-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.10.2020
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Entscheidungsdatum

20.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I416 2214234-1/22E

I416 2234252-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , StA. Ukraine, sowie der mj. XXXX (Zweitbeschwerdeführerin), geboren am XXXX , StA. Ukraine, gesetzlich vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.01.2019, Zl. XXXX (Erstbeschwerdeführerin) und vom 13.08.2020, Zl. XXXX (Zweitbeschwerdeführerin), nach Durchführung der mündlichen Verhandlungen am 24.08.2020 und 26.08.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 10.01.2019, Zl. XXXX , wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass

a)       Spruchpunkt III. zu lauten hat wie folgt:

„Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wird nicht erteilt.“

b)       Spruchpunkt V. zu lauten hat wie folgt:

„Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig ist.“

c)       Spruchpunkt VI. zu lauten hat wie folgt:

„Gemäß § 55 Abs. 2 FPG wird die Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung mit 14 Tagen festgelegt."

II.      Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 13.08.2020, Zl. XXXX , wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt III. zu lauten hat wie folgt:

„Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wird nicht erteilt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Erstbeschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet ein und stellte am 15.03.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. In ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die Beschwerdeführerin befragt zu ihren Fluchtgründen an, sie sei aufgrund des kritischen Kriegszustandes kurz vor der Obdachlosigkeit gestanden und habe in einem Keller bzw. Bunker schlafen müssen. Bei einer Rückkehr befürchte sie wieder in einem Keller schlafen zu müssen bzw. in eine aussichtslose rechtliche Lage zu gelangen. Es mangle zudem an Perspektiven und Arbeit.

2.       Am 26.03.2018 wurde die Erstbeschwerdeführerin von der belangten Behörde erstmals niederschriftlich einvernommen und führte sie hinsichtlich ihrer Fluchtgründe im Wesentlichen die aktuelle Kriegssituation an. Sie habe bereits in Russland im Jahr 2015 einen Asylantrag gestellt und sich anschließend für eineinhalb Jahre dort aufgehalten. Nach ihrer Rückkehr im Februar 2017 sei sie innerstaatlich verzogen, jedoch werde sie, sobald man in ihrem Pass sehe, dass sie aus Donezk stamme, als Separatistin angesehen. Als einzige Hilfe der Ukraine habe sie eine einmalige Auszahlung von 120 Grivna erhalten, jedoch keine Verpflegung oder Unterkunft. Sie habe zwar eine Anstellung gefunden, jedoch habe es sich dabei um eine unterqualifizierte Arbeit bei einer Reinigungsfirma gehandelt. Die politische Lage erlaube es einer alleinstehenden jungen Frau nicht normal zu arbeiten und ein ruhiges Leben zu führen. Außerdem würde sie zu einer fünfjährigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt werde, sollten die ukrainischen Behörden erfahren, dass sie bereits in Russland, einem verfeindeten Land, und auch in Österreich einen Asylantrag gestellt habe. Der Beschwerdeführerin wurden die Länderfeststellungen zur Ukraine übergeben und die Möglichkeit eingeräumt, bis zum 03.04.2018 eine dahingehende schriftliche Stellungnahme abzugeben.

3.       Die Erstbeschwerdeführerin wurde am 29.03.2018 erneut von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Auf die Frage, weshalb sie nicht in die Ukraine zurückkehren könnte, gab sie zu Protokoll, es würden sie eine Haftstrafe sowie Probleme aufgrund ihrer russischen Volksgruppenzugehörigkeit erwarten. Sie könne sich außerhalb von Donezk nur in einem komplizierten und aussichtslosen Verfahren Dokumente ausstellen lassen und würde ihr vorgeworfen werden, terroristische Aktivitäten zu unterstützen bzw. Anhängerin der Separatisten zu sein. Ohne die entsprechenden Dokumente habe sie jedoch Schwierigkeiten, eine Wohnung bzw. Arbeit zu finden.

4.       Am 03.04.2018 langte bei der belangten Behörde eine von der Erstbeschwerdeführerin in kyrillischer Schrift verfasste Stellungnahme zu den Länderinformationen sowie ein Konvolut an Lichtbildern ein.

5.       Am 03.05.2018 wurde die Erstbeschwerdeführerin ein weiteres Mal von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen, wobei sie zunächst genauer zu ihren früheren Angaben betreffend das Gesetz, nach welchem Rückkehrern nach einer Asylantragsstellung im Ausland eine Haftstrafe drohen sollte, befragt wurde. Die Erstbeschwerdeführerin wurde überdies zu den Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufenthalt in der Ukraine einvernommen und gab dahingehend zu Protokoll, sie benötige neben ihrem Inlands- wie auch Auslandsreisepass eine Bestätigung, dass sie innerhalb des Landes umgesiedelt sei, da sie sich ansonsten nur 30 Tage lang in der Ukraine aufhalten könne. Es sei unmöglich, dass jemand sie in einer Wohnung anmelde, da sie zuletzt in Donezk gemeldet gewesen sei. Eine andere Möglichkeit stelle eine Anmeldung durch ein Familienmitglied dar, jedoch müsste dieses sie bei sämtlichen Behördengängen begleiten und werde von den Behörden nach etwa sechs Monaten der tatsächliche Aufenthalt in dieser Wohnung überprüft. Eine derartige Überprüfung würde meist mit Misshandlungen einhergehen, sofern kein Schmiergeld geleistet werde. Auf Vorhalt der belangten Behörde, dass wahrscheinlich höchstens separatistische Kämpfer in der Ukraine gefährdet wären und dies wohl nicht für die 1,65 Millionen Binnenflüchtlinge oder die rund 1,48 Millionen Flüchtlinge im Ausland gelte, erklärte sie, dass die ukrainischen Behörden alle Menschen, die in Donbas geblieben seien, als Separatisten ansehen. Sofern sie in die Ukraine zurückkehren müsste, würde sie lieber nach Donezk gehen als in einen anderen Teil der Ukraine.

6.       Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 10.01.2019, Zl XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung in ihr Herkunftsland zulässig ist (Spruchpunkt V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde ihr nicht gewährt (Spruchpunkt VI.) und einer Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

7.       Mit Verfahrensanordnung vom 10.01.2019 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig zur Seite gestellt.

8.       Gegen den Bescheid der belangten Behörde erhob die Erstbeschwerdeführerin mit Schriftsatz ihrer ausgewiesenen Rechtsvertretung Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, welche am 06.02.2019 bei der belangten Behörde einlangte, und stellte einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass sie im sechsten Monat schwanger sei und eine Rückkehr in ihren Herkunftsstaat ohne ihren Partner sowie ohne Wohnung, Familie und finanzielle Mittel nicht zumutbar sei. Sie würde in eine ausweglose Situation geraten und auf der Straße landen. Außerdem seien aus den Donbas und Lugansk-Regionen stammende ukrainischen Staatsbürger de facto und de iure beim Staat Ukraine nicht mehr anerkannt und genießen weder den Schutz noch die Rechte eines Staatsbürgers der Ukraine. Zudem wäre auch ihr Kind nach der Geburt der Verarmung und Obdachlosigkeit ausgesetzt. Die Erstbeschwerdeführerin habe in Österreich ein schützenswertes Privat- und Familienleben aufgebaut und lebe mit dem Vater des Kindes zusammen in einer Flüchtlingsunterkunft. Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse und ihrem Arbeitswillen habe sie ausgezeichnete Chancen für das zukünftige Berufsleben in Österreich. Der Beschwerde beigelegt waren diverse Unterlagen zu Integrationsschritten der Beschwerdeführerin in Österreich, sowie eine ärztliche Bestätigung ihrer Schwangerschaft vom 16.01.2019 (21.+1 Schwangerschaftswoche).

9.       Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 08.02.2019 vorgelegt.

10.      Einer Unzuständigkeitseinrede des Leiters der Geschäftsabteilung W103 vom 11.02.2019 und einer Gegeneinrede des Leisters der Geschäftsabteilung I416 vom 13.02.2019 folgte die neuerliche und endgültige Zuweisung der gegenständlichen Rechtssache an die Gerichtsabteilung I416 mit Entscheidung des Präsidenten des BVwG vom 19.02.2019.

11.      Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.02.2019, Zl. I416 2214234-1/7Z, wurde der Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des Bescheides der belangten Behörde stattgegeben und dieser ersatzlos behoben. Der Beschwerde wurde damit die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

12.      Am 15.07.2019 stellte die Erstbeschwerdeführerin hinsichtlich ihres am XXXX geborenen Kindes XXXX , der Zweitbeschwerdeführerin, einen Antrag auf internationalen Schutz und führte dazu aus, dass ihr Kind keine eigenen Verfolgungsgründe habe, sondern denselben Schutz erhalten solle wie sie selbst. Beigelegt war die Geburtsurkunde der Zweitbeschwerdeführerin, eine Kopie des Mutter-Kind-Passes, ein Meldezettel sowie Kopien der Ausweise der Eltern der Zweitbeschwerdeführerin.

13.      Es erfolgte am 12.08.2020 durch die belangte Behörde eine niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertretung der Zweitbeschwerdeführerin, wobei sie im Wesentlichen zur Beziehung zwischen dem Kindesvater und den Beschwerdeführern sowie zur befürchteten Situation der Zweitbeschwerdeführerin in der Ukraine befragt wurde.

14.      Mit Bescheid der belangten Behörde vom 13.08.2020, Zl. XXXX , wurde der Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkt II.) als unbegründet abgewiesen. Zugleich wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Ukraine zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für ihre freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

15.      Mit Verfahrensanordnung vom 13.08.2020 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig zur Seite gestellt.

16.      Mit Schriftsatz ihrer ausgewiesenen Rechtsvertretung vom 19.08.2020 erhob die Zweitbeschwerdeführerin, gesetzlich vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin, Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 13.08.2020. Begründend wurde im Wesentlichen auf die Fluchtgründe der Erstbeschwerdeführerin verwiesen sowie zusätzlich angeführt, dass die Zweitbeschwerdeführerin farbig sei und somit die Befürchtung einer Diskriminierung gegeben sei. Die dahingehenden Ausführungen der belangten Behörde seien unzureichend und nicht nachvollziehbar.

17.      Mit den E-Mails vom 10.08.2020, 13.08.2020 und 18.08.2020 wurden dem erkennenden Gericht Bestätigungen für gemeinnützige Arbeit, für ihre Tätigkeit als Hausmeisterin, für eine Psychotherapie sowie für die Teilnahme an einem Deutschkurs, ein Empfehlungsschreiben, ein Arztbrief, eine ärztliche Bestätigung, eine Vaterschaftsurkunde, die Geburtsurkunde der Zweitbeschwerdeführerin sowie Unterlagen zum Testverfahren XXXX Integrations-Kompasses vorgelegt.

18.      Am 24.08.2020 sowie am 26.08.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin, deren Rechtsvertreterin, einer Dolmetscherin und eines Vertreters der belangten Behörde jeweils eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, wobei zusätzlich eine Arztbestätigung in der Sprache Russisch vorgelegt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I. beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Die Verfahren der Beschwerdeführerinnen werden im Sinne des § 34 AsylG gemeinsam als Familienverfahren geführt und werden darüber hinaus folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerinnen:

Die Beschwerdeführerinnen sind Staatsangehörige der Ukraine und steht die Identität der Beschwerdeführerinnen fest.

Die Erstbeschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und hält sich seit mindestens 15.03.2018 in Österreich auf. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde als Tochter der Erstbeschwerdeführerin am XXXX in Österreich geboren.

Die volljährige und geschiedene Erstbeschwerdeführerin gehört der ukrainischen Volksgruppe an, bekennt sich zum russisch-orthodoxen Glauben und spricht Russisch als ihre Muttersprache. Sie leidet an keinen derartigen psychischen und physischen Beeinträchtigungen, die einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen und ist arbeitsfähig. Auch die Zweitbeschwerdeführerin ist gesund und gehören beide Beschwerdeführerinnen keiner Risikogruppe im Sinne der COVID 19-Pandemie an.

Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in der Ukraine zehn Jahre lang die Grundschule sowie eine Schule für wirtschaftliche Berufe. Anschließend sammelte sie Arbeitserfahrung in einem Restaurant, in welchem sie zunächst als Kassiererin und zuletzt als Managerin tätig war. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in weiterer Folge eine Hochschule für Kultur, welche sie mit einem Diplom abschloss, und arbeitete sodann als Künstlerin in einem Puppentheater.

In der Ukraine leben nach wie vor die Eltern sowie die Cousine der Erstbeschwerdeführerin, wobei die Erstbeschwerdeführerin nur wenig Kontakt zu ihren Eltern hat. Nicht festgestellt werden kann, wo ihre jüngere Schwester lebt und ob aufrechter Kontakt besteht.

Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX ist Staatsangehöriger von Kamerun, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.02.3014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 13.06.2017 wies diese seinen Antrag ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Kamerun zulässig ist. Er zog die erhobene Beschwerde mit Schriftsatz vom 16.07.2019 zurück, sodass das Verfahren mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.07.2019, GZ: I416 2162957-1/9E, eingestellt wurde. Der Bescheid der belangten Behörde erwuchs somit in Rechtskraft.

Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin hielt sich zwischen 08.05.2018 und 04.09.2019 mit der Erstbeschwerdeführerin bzw. auch mit der Zweitbeschwerdeführerin nach deren Geburt gemeinsam in einer Flüchtlingsunterkunft auf, reiste laut Angaben der Erstbeschwerdeführerin nach Erhalt des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Bundesgebiet aus, wobei er zuletzt am 04.09.2019 in Österreich gemeldet war. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin steht laut Angaben der Erstbeschwerdeführerin in telefonischem Kontakt

Darüber hinaus leben keine Familienangehörigen oder Verwandten der Beschwerdeführerinnen in Österreich und verfügen sie über kein maßgebliches Privatleben im Bundesgebiet.

Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über Kenntnisse der Sprache Deutsch auf dem Niveau A2 und engagiert sich ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft. Außerdem pflegt sie Kontakt zu Schwestern einer Kirche sowie zum Verein XXXX und besuchte einen beruflichen Weiterbildungskurs. Sie weist keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf und liegen auch im Falle der Zweitbeschwerdeführerin keine Merkmale einer besonderen Integration in Österreich vor.

Die Erstbeschwerdeführerin übt derzeit verschiedene Hilfs- und Reinigungsarbeiten als Hausmeisterin ihrer Flüchtlingsunterkunft aus, geht allerdings keiner versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nach. Außerdem beziehen die Beschwerdeführer Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, sodass sie nicht selbsterhaltungsfähig sind.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerinnen:

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerinnen in der Ukraine aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden.

Die Erstbeschwerdeführerin konnte insbesondere nicht glaubhaft machen, dass ihnen in der Ukraine aufgrund der Herkunft der Erstbeschwerdeführerin aus Donezk bzw. der Hautfarbe der Zweitbeschwerdeführerin Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Die Beschwerdeführerinnen werden im Fall ihrer Rückkehr in die Ukraine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerinnen in die Ukraine eine Verletzung von Art. 2, Art. 3 oder auch der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention nach sich ziehen würde. Der Beschwerdeführerinnen sind auch nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht.

Die Ukraine ist ein sicherer Herkunftsstaat.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführerinnen wurde im Zuge der Ladung zur mündlichen Verhandlung das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Ukraine übermittelt. Daraus ergeben sich folgende entscheidungswesentliche Feststellungen:

1.3.1. Politische Lage:

Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).

Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).

Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).

Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail

- Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020

- DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020

- DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020

- Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020

- KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

1.3.2. Sicherheitslage:

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

-SO– Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020

1.3.2.1. Ostukraine:

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).

Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).

Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).

Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).

Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).

Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH – Freedom House (2020): Freedom in the World Index 2020, Eastern Donbas, https://freedomhouse.org/country/eastern-donbas/freedom-world/2020, Zugriff 26.5.2020

- HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002209.html, Zugriff 26.5.2020

- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

- PCU – Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine, https://www.unhcr.org/ua/wp-content/uploads/sites/38/2019/04/2019_03_advocacy_note_on_mine_action_eng-1.pdf, Zugriff 26.5.2020

- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (16.4.2020): Ukraine, Russia-Backed Separatists Hold Another Prisoner Swap, https://www.rferl.org/a/ukraine-russia-backed-separatists-begin-new-round-in-prisoner-swap/30558758.html, Zugriff 26.5.2020

- TMT – The Moscow Times (3.1.2020): Kyiv Post: Moscow Says it Issued Nearly 200,000 Russian Passports in Ukraine’s Donbass, https://www.themoscowtimes.com/2020/01/03/kyiv-post-moscow-says-it-issued-nearly-200000-russian-passports-in-ukraines-donbass-a68807, Zugriff 26.5.2020

- UN – United Nations (1.2020): UKRAINE, At a glance: 2020 Humanitarian Needs Overview, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/ukriane_2020_hno_at_a_glance-en.pdf, Zugriff 25.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

- USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 26.5.2020

1.3.3. Rechtsschutz/Justizwesen:

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wiederherzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

1.3.4. Sicherheitsbehörden:

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020

- AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-powerful-interior-minister-avakov-under-fire-over-police-reform-failures/, Zugriff 6.7.2020

- AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2028174.html, Zugriff 20.5.2020

- BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020, https://www.bti-project.org/de/berichte/country-report-UKR.html, Zugriff 22.5.2020

- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 19.5.2020

- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020

1.3.5. Folter und unmenschliche Behandlung:

Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).

Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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