Entscheidungsdatum
07.12.2020Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W222 2222310-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. OBREGON als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.11.2020, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz 2005 sowie §§ 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, reiste illegal und schlepperunterstützt nach Österreich ein und stellte am 14.11.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag fand die Erstbefragung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zu seiner Person gab der Beschwerdeführer an, in XXXX /Indien geboren worden zu sein. Er sei ledig und spreche Punjabi. Er gehöre der Glaubensrichtung der Sikh und der Volksgruppe der Punjabi an. Er habe die Grundschule besucht und zuletzt als Landwirt gearbeitet. Im Heimatland würden seine Eltern und eine Schwester leben. Er habe Indien am 13.09.2018 verlassen, sei nach Moskau geflogen und von dort mit einem LKW über unbekannte Länder nach Österreich gelangt. Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der Beschwerdeführer Folgendes an: „Mein Vater ist Mitglied von einer Bewegung (Khalistan) diese kämpft dafür, dass für den Sikhs ein eigenes Land geben soll. Die Hindus in Indien sind aber dagegen. Mein Vater und ich wurden mehrmals von den Hindus verschleppt und gefoltert. In weiterer Folge wurde meinem Vater gedroht, dass sie mich umbringen werden. Aus Angst, dass ich umgebracht werde beschloss mein Vater, dass ich Indien verlassen soll. Ich habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung.“
Bei der Einvernahme am 28.11.2018 vor dem BFA gab der Beschwerdeführer unter anderem Folgendes an:
„L: Welche Schule haben Sie besucht oder Haben Sie eine Ausbildung absolviert? Wenn ja, wie lange und in welcher Art?
A: 12 Jahre Grundschule mit Maturaabschluss und habe in der Landwirtschaft seit meiner Kindheit gearbeitet.
L: Welchen Beruf haben Sie in Ihrem Heimatland ausgeübt?
A: Ich habe in der Landwirtschaft gearbeitet bei meinen Eltern.
L: Haben Sie im Herkunftsland, oder hier Strafrechtsdelikte begangen?
A: Nein, habe ich nicht.
L: Welchen Glauben haben Sie?
A: Sikh. Nachgefragt: Es gibt hier keine Untergruppierungen. Wir glauben an den Guru Nanak.
L: Haben Sie Angehörige in Ihrem Heimatland? Wenn ja, welche und wo halten sich diese auf?
A: Meine Eltern und meine Schwester.
Vater: XXXX , ca. 45 Jahre
Mutter: XXXX ca. 43 Jahre
Schwester: XXXX , ca. 23 Jahre alt.
Sie wohnen alle Indien. An der Adresse: Stadt: XXXX , Dorf: XXXX .
Alle wohnen in einem Haus, das Haus gehört meinen Eltern. Die Mama ist Hausfrau und der Vater ist auf der Landwirtschaft tätig. Die Landwirtschaft gehörte meinen Eltern, seit ich geboren wurde. Meine Schwester lebt von meinen Eltern. Sie macht derzeit ein Medizinstudium (im letzten Semester).
L: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z.B. Häuser, Grund? Hatten Sie wirtschaftliche Gründe Ihre Heimat zu verlassen?
A: Ein Haus, ein Auto, ein Motorrad und eine landwirtschaftliche Fläche (ca. 9 Hektar) gehören meinen Eltern und ca. 10 Hektar pachten meine Eltern immer für die Landwirtschaft.
L: Haben Sie Kontakt zu Ihren Verwandten im Heimatland? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
A: Ich habe Kontakt zu meinen Eltern, einmal im Monat telefoniere ich mit Ihnen. Ich telefoniere von einem Automaten aus mit meinen Eltern.
L: Wann hatten Sie zuletzt mit jemand aus Ihrem Herkunftsland Kontakt?
A: Am 13. November 2018 habe ich zuletzt mit meinen Eltern telefoniert.
L: Womit haben Sie in Ihrem Heimatland bisher Ihren Lebensunterhalt bestritten?
A: Ich habe bei der Landwirtschaft mitgeholfen. Ich habe ca. 800.000 Indische Rupees im Jahr verdient.
L: Wie bestreiten Sie nun in Österreich Ihren Lebensunterhalt? Welche Unterstützungen beziehen Sie?
A: Ich beziehe die Grundversorgung und bekomme ca. 40 Euro/Monat. Selbst hatte ich 50 Euro mit.
L: Sind Sie oder waren Sie in irgendwelchen Vereinen oder Organisationen in Österreich tätig?
A: Nein.
L: Sind Sie arbeitsfähig? Was würden Sie gerne arbeiten?
A: Ich bin arbeitsfähig und würde jede Arbeit annehmen.
L: Wann haben Sie Ihr Heimatland verlassen?
A: Am 14. September 2018.
L: Wann sind Sie in Österreich eingereist?
A: Am 13. November 2018.
L: Haben Sie in Österreich Verwandte?
A: Nein, ich habe keine Verwandten in Österreich.
L: Leben Sie in Österreich mit einer sonstigen Person in einer Familiengemeinschaft oder in einer familienähnlichen Lebensgemeinschaft, wenn ja, beschreiben Sie diese Gemeinschaft?
A: Nein, ich lebe alleine.
L: Haben Sie bei der Erstbefragung alle Ihre Fluchtgründe genannt?
A: Ich habe nicht alles gesagt. Nachgefragt: Der Dolmetscher hat damals zu mir gesagt, antworte nur auf die Fragen.
L: Warum stellen Sie einen Asylantrag? Nennen Sie Ihre Fluchtgründe? Was veranlasste Sie, die Heimat zu verlassen? Bitte schildern Sie möglichst konkret und detailliert!
A: 1. Mein Vater ist der Führer von einer Khalistan-Bewegung. Diese Bewegung möchte von Indien unabhängig sein. Meine Familienmitglieder und ich wurden mehrmals entführt und ich bekam mehrmals auch Morddrohungen. Sie haben meinem Vater gedroht, wenn er hier weitermacht, würden Hindus mich töten. Sie haben mich auch gefangen gehalten (über mehrere Monate hindurch). Ich wurde auch sehr oft geschlagen und verletzt. Es sind mehrere tausend von Menschen, von dieser Bewegung getötet worden.
L: Seit wann gibt es diese Bewegung (Khalistan)?
A: Diese Bewegung existiert seit 1984. Nachgefragt: Diese Bewegung existiert noch immer. Der Vorfall mit dieser Bewegung war in Bezug auf meine Person im Jahr 2017, am Anfang.
L: Erzählen Sie mir bitte mehr über diese Bewegung?
A: Sie ist eine Unabhängigkeitsbewegung für Sikh. Sie wollen Freiheit. Die Hindus sind gegen diese Bewegung und machen das Leben schwer, sie gehören der Volksgruppe der Hindus an, die die Mehrheit in Indien besitzt.
L: Seit wann ist Ihr Vater bei dieser Bewegung?
A: Seit 1984. Nachgefragt: Er wurde insgesamt 3 Mal entführt. Er hatte Schnittwunden. Fotos, kann ich heute nicht dazu vorlegen. Er war mehrmals im Krankenhaus.
L: Erzählen Sie mir bitte mehr über die Hindus in Indien (Volksgruppe)?
A: Die Hindus haben viele Götter und fasten sehr oft. Die Hindus schneiden die Haare, meine Volksgruppe schneidet keine Haare. Die Sikhs tragen Schmuck, die Hindus nicht. Die Hindus haben ein Kastensystem, dieses gibt es bei den Sikhs nicht.
L: Wie darf ich mir jetzt die Morddrohungen vorstellen?
A: Ich bekam 3 Mal mdl. Morddrohungen. Das war bei der Entführung. Sie haben mir nur die Haare geschnitten. Ich bekam eine Drohung, dass ich das nächste Mal am Hals geschnitten werde. Das geschah im Jahr 2017.
L: Sie erwähnten Ihre Entführung (3 Mal), erzählen Sie mir bitte jetzt mehr darüber?
A: Ich wurde dreimal entführt. Alle im Jahr 2017. Das erste Mal (Oktober 2017). Nach 5 Monaten wurde ich wieder entführt (Februar 2018). Das dritte Mal (September 2018). Das erste Mal 2017 (3 Tage). Die Hindus haben mich geschlagen. Ich wurde in der Stadt XXXX entführt, wohin wusste ich nicht. Das war am Tag. Ich habe drei Tage in einem Zimmer verbracht und bei meiner Freilassung wurden mir die Augen wieder verbunden. Ich bekam nur Milch und Wasser und konnte auch nicht duschen. Es waren 8 Personen. Ich habe alle gesehen. Ich war alleine eingesperrt. Ich kam nach 3 Tagen wieder einfach frei.
Die zweite Entführung, war auf einer Hochzeitsfeier, die ich besuchen wollte. Die Hochzeitsfeier war von einem Verwandten von uns. Ich wurde aber hier nicht entführt, sondern nur geschlagen, das war am Weg zur Hochzeitsfeier. Es waren 4 andere Personen. Das dritte Mal kamen 7 bis 8 Personen und trugen auch eine Pistole zu unserem Haus. Sie haben mich von zu Hause aus entführt. Ich war zwei Tage entführt. Es war in einem Dorf, wo genau weiß ich nicht. Ich war wieder in einem Zimmer. Die Versorgung war nur mit Wasser. Ich kam, nach diesen 2 Tagen wieder frei. Es war Nacht. Sie haben mir die Haare geschnitten und mir Ohrfeigen gegeben und haben mir gedroht. Ich war dort wieder alleine.
L: Ist Ihr Vater jetzt noch in dieser Bewegung tätig, Ja oder Nein?
A: Ja.
L: Haben Ihre Eltern in Bezug auf die 3malige Entführung irgendwas unternommen?
A: Mein Vater hat mich gesucht, aber mich nicht gefunden.
L: Haben Sie diese Entführungen bei der Polizei angezeigt?
A: Es hat keinen Sinn zur Polizei zu gehen, da Sie Hindus sind und dagegen nichts unternehmen.
L: Wie oft ist Ihr Vater entführt worden?
A: Mein Vater wurde mehrmals entführt. Das erste Mal war vor langer Zeit, da war ich noch nicht auf der Welt. Vor mir, war das genau zweimal. Einmal wurde er entführt vom Haus und das zweite Mal am Weg. Einmal 2 Tage und das zweite Mal (1 Tag).
L: Wie darf ich mir die Verletzungen jetzt vorstellen?
A: Ich habe viele Wunden gehabt, diese heilten aber wieder vollständig aus. Nachgefragt: Nein, ich war nie im Krankenhaus. Ich hatte diese Wunden bis zu 20 Tagen. Sichtbare Wunden kann ich heute nicht mehr herzeigen.
L: Haben Sie schon einmal versucht in eine Großstadt bzw., in einen andern Teil Ihres Heimatlandes zu gehen, um Ihre Bedrohungen, Unannehmlichkeiten zu entgehen?
A: Ich habe es dreimal versucht in Indien woanders zu leben. Das war an den Orten XXXX , XXXX und XXXX . Nachgefragt: Es wurden mir dort auch gedroht (telefonisch).
L: Gab es davor seit dieser Bewegung einen Interessenskonflikt mit Ihrer Familie? Ja, oder Nein.
A: Nein.
L: Was hätten Sie bei einer Rückkehr in Ihr Heimatland zu befürchten?
A: Ich fürchte mich um ein Leben.
L: Inwieweit würden aufenthaltsbeendende Maßnahmen in Ihr Familien- und Privatleben eingreifen?
Anmerkung: Die Fragestellung näher erläutert, insbesondere dass im Rahmen einer Ausweisungsprüfung verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in Österreich, Aufenthaltsberechtigungen für Österreich, gewichtige private Interessen an einem Verbleib in Österreich, udgl. berücksichtigt werden.
A: Ich fürchte um mein Leben.
L: Seitens des BFA ist beabsichtigt, Ihren Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen. Sie können nunmehr dazu Stellung nehmen.
A: Wenn der Bescheid negativ ist, sollen Sie mich gleich hier töten, bevor Sie mich nach Hause schicken.“
Am 04.07.2019 wurde eine Stellungnahme zu den Länderberichten eingebracht.
Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 09.07.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurden gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Indien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG wurde ihm aufgetragen, ab 24.10.2018 im angeführten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte das BFA hinsichtlich der konkreten Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes unter anderem aus, dass das Fluchtvorbringen sowie die daraus resultierende Verfolgung nicht glaubhaft sei.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.11.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu der der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsvertreter persönlich erschien.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1.Feststellungen:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien und stammt aus Punjab/Indien. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Sikh an. Er verfügt über eine zwölfjährige Schulbildung und hat zuletzt als Landwirt gearbeitet. Der Beschwerdeführer spricht Punjabi. In Indien lebt nach wie vor die Familie des Beschwerdeführers, und zwar die Eltern und eine Schwester.
Im Bundesgebiet verfügt der Beschwerdeführer über keinerlei Familienangehörige, er lebt auch nicht in einer Lebensgemeinschaft. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die deutsche Sprache beherrscht, einer regelmäßigen Beschäftigung nachgeht, sich sozial engagiert oder hier Freunde gefunden hat. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten und bezieht keine Leistungen aus der Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer stellte am 14.11.2018 nach illegaler Einreise den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer hat Indien nicht aufgrund einer glaubwürdigen, ihn unmittelbar persönlich treffenden asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen.
Der Beschwerdeführer wurde in Indien nicht asylrelevant bedroht oder auf anderer Weise einer relevanten psychischen oder physischen Gewalt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt.
Bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Indien besteht für diesen als arbeitsfähigen Mann im berufsfähigen Alter, mit angegeben mehreren familiären Bezugspunkten im Herkunftsstaat ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf, auch unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage aufgrund der Corona-Pandemie, keine berücksichtigungswürdige Bedrohungssituation, bzw. läuft dieser dort auch nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in ihren Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – Indien, mit Stand 25.11.2020, 9 222 216 Erkrankungen und 134 699 Todesfällen – COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Indien eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Quelle: WHO, Coronavirus disease (COVID-19), (https://covid19.who.int/region/searo/country/in)
Gemessen an den 1,3 Milliarden Einwohnern liegt das Land in einer Pro-Kopf Statistik noch immer hinter vielen europäischen Ländern, doch werden in Indien aber auch wesentlich weniger Tests durchgeführt. Die Regierung hat die Testkapazitäten in den vergangenen Wochen hochgefahren, was wohl einer der Gründe für den sprunghaften Anstieg der Zahlen darstellt. Die Lockddown-Maßnahmen wurden seit Ende Mai Schritt für Schritt gelockert. Geschäfte stehen wieder offen, Fabriken haben ihre Produktion erneut aufgenommen und der öffentliche Verkehr kommt wieder, wenn auch nur eingeschränkt ins Laufen. Das indische Gesundheitswesen war schon vor Corona überlastet und ist es nun noch mehr. Medien und der Kuznachrichtendienst Twitter berichten von Indern, die klagen, dass ihre an Covid-19 erkrankten Angehörigen von Krankenhäusern abgewiesen oder nicht entsprechend behandelt wurden (Quelle: www.wienerzeitung.at; „Corona trifft Indien immer härter“, vom 10.07.2020).
Die Zahl der Neuinfektionen pro Woche ist gegenüber Oktober mit 500 000 Neuinfektionen bereits deutliche gesunken und liegt derzeit bei 280 000 (https://www.who.int/publications/m/item/weekly-epidemiological-update---24-november-2020)
Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Indien wird Folgendes festgestellt:
1. COVID-19
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinische Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Quellen:
• BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (12.10.2020): https://www.bamf.de/Sh aredDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnoteskw42-2020.pdf;jsessionid=91E533F0FC7A0F35C0751A9F00F3D711.internet572?__blo b=publicationFile&v=4 , Zugriff 12.10.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
• WKO - Aussenwirtschaft Austria (10.2020): Aussen Wirtschaft Wirtschaftsbereich Indien, WIRTSCHAFTSBERICHT Indien (Q1–Q22020), https://www.wko.at/service/aussenwirts chaft/indien-wirtschaftsbericht.pdfhttps://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wir tschaftsbericht.pdf, Zugriff 21.10.2020
2. Politische Lage
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt,jedochimmerwiederAnfechtungenausgesetzt(AA9.2020a).Indienhateinelebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJPSpitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. DieAAP unter Führung vonArvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UNSicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ec oi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abs chiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 3.09.2020.pdf, Zugriff 15.10.2020
• AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi .net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_a syl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_201 9%29%2C_19.07.2019.pdf , Zugriff 15.10.2020
• AA – Auswärtiges Amt (9.2020a): Indien: Politisches Porträt, https://www.auswaertig es-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 15.10.2020
• BICC - Bonn International Centre for Conversion (7.2020): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2020_I ndien.pdf , Zugriff 20.10.2020
• CIA - Central Intelligence Agency (5.10.2020): The World Factbook – India, https://www. cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 15.10.2020
• DW – Deutsche Welle (27.2.2020): Sierens China: Schwieriges Dreiecksverhältnis, https://www.dw.com/de/sierens-china-schwieriges-dreiecksverh%C3%A4ltnis/a-52556817, Zugriff 28.2.2020
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2020): Immer mehr Tote nach Unruhen in Delhi, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indien-tote-bei-gewalt-zwischen-hindusund-muslimen-in-delhi-16652177.html, Zugriff 28.2.2020
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2020a): Indien, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 15.10.2020
• KBS – Korean Broadcasting System (12.2.2020): Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, http://world.kbs.co.kr/service/contents_view.htmlang=g&board_seq=379626, Zugriff 14.2.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
• Quantara.de (14.2.2020): Herbe Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, https://de.qantara.de/content/herbe-niederlage-fuer-indiens-regierungschefmodi-bei-wahl-in-neu-delhi, Zugriff 20.2.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Indiens Ringen um die Staatsbürgerschaft, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A02_wgnArora_WEB.pdf, Zugriff 18.2.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Keine Ruhe in Kaschmir. Die Auflösung des Bundesstaats und die Folgen für Indien, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/, Zugriff 16.1.2020
• TG – The Guardian (26.2.2020): Anti-Muslim violence in Delhi serves Modi well, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/26/violence-delhi-modi-project-bjp-citizenship-law, Zugriff 28.2.2020
• USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
3. Sicherheitslage
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten JahrenTerroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Indien und Pakistan
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gabes bereitsdrei Kriegeaufgrund desumstrittenenKaschmir-Gebiets(BICC12.2019; vgl.BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).
Indien und China
Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohenauchdurch GebietsverletzungenananderenStellendermehrals3.400Kilometerlangen Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 7.2020).
Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 7.2020).
Indien und Bangladesch
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 8.2020a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 7.2020).
Indien und Sri Lanka
Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indischeAußenpolitik ergibt (GIZ 8.2020a).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ec oi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abs chiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_2 3.09.2020.pdf, Zugriff 15.10.2020
• BBC - British Broadcasting Corporation (3.7.2020): Locals remain anxious amid IndiaChina border stand-off, https://www.bbc.com/news/world-asia-india-53020382 , Zugriff 22.7.2020
• BBC - British Broadcasting Corporation (23.1.2018): India country profile – Overview, http://www.bbc.co.uk/news/world-south-asia-12557384 , Zugriff 29.1.2019
• BICC - Bonn International Centre for Conversion (7.2020): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2020_I ndien.pdf, Zugriff 20.10.2020
• BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (Deutschland) (12.12.2017): Konfliktporträt: Indien, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/215390/indien , Zugriff 18.3.2020
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2019): Pakistan: Wir behalten uns vor, auf Indiens Angriffe zu reagieren, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indische-luftwaf fe-verletzt-den-pakistanischen-luftraum-16061769.html, Zugriff 6.8.2019
• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.n et/de/dokument/2025925.html , Zugriff 10.3.2020
• FIDH – International Federation for Human Rights (23.6.2020): China/India/Pakistan: Deescalate tensions along border lines and seek peaceful resolution of disputes, 23.6.2020
https://www.fidh.org/en/region/asia/india/china-india-pakistan-de-escalate-tensions-alon g-border-lines-and-seek , Zugriff 22.7.2020
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2020a): Indien, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/ , Zugriff 15.10.2020
• KO – Kaschmir Observer (25.6.2020): Indian, Pakistani Troops Trade Fire In North Kashmir, https://kashmirobserver.net/2020/06/25/indian-pakistani-troops-trade-fire-in-north-k ashmir/ , Zugriff 22.7.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
• Piazolo, Michael (2008): Macht und Mächte in einer multipolaren Welt. Springer Verlag. Seite 201
• SATP - South Asia Terrorism Portal (8.10.2020): Data Sheet -. Punjab, Yearly Fatalities, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india-punjab, Zugriff 12.10.2020
• SATP - South Asia Terrorism Portal (1.11.2020): Data Sheet - India Yearly Fatalities: 2000 - 2020, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india, Zugriff 3.11.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2020): Indisch-chinesische Konfrontation im Himalaya. Eine Belastungsprobe für Indiens strategische Autonomie, Juli 2020
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A63_IndienChina.pdf , Zugriff 22.7.2020
• SZ- Süddeutsche Zeitung (26.2.2019): Indien bombardiert pakistanischen Teil Kaschmirs, https://www.sueddeutsche.de/politik/indien-pakistan-luftangriff-1.4345509 , Zugriff 6.8.2019
• Wagner, C. (2020). The Indian-Chinese confrontation in the Himalayas: a stress test for India’s strategic autonomy.
(SWP Comment, 39/2020). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit. https://doi.org/10.18449/2020C39, Zugriff 22.10.2020
• WP – The Washington Post (26.2.2019): India strikes Pakistan in severe escalation of tensions between nuclear rivals, https://www.washingtonpost.com/world/pakistan-says-i ndian-fighter-jets-crossed-into-its-territory-and-carried-out-limited-airstrike/2019/02/25/901f3000-3979-11e9-a06c-3ec8ed509d15_story.html?utm_term=.ee5f4df72709 , Zugriff 6.8.2019
3.1. Punjab
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibtAnzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen imAusland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).
Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Per 13.10.2020 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 13.10.2020).
In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert; in manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).
Quellen:
• BBC - British Broadcasting Corporation (20.10.2015): Why are Indian Sikhs angry?, http://www.bbc.com/news/world-asia-india-34578463, Zugriff 18.10.2018
• MoHA - Government of India, Ministry of Home Affairs, Office of the Registrar General & Census Commissioner, India (o.D.): C-1 Population By Religious Community, http://www.censusindia.gov.in/2011census/C-01.html, Zugriff 18.10.2018
• ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
• SATP - South Asia Terrorism Portal (13.10.2020): Datasheet – Punjab, Data View, https: //www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india-punjab, Zugriff 15.10.2020
• USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
• USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004219.html, Zugriff 13.8.2019
4. Rechtsschutz / Justizwesen
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 23.9.2020). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüberAngehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 23.9.2020).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht alsAppellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 9.2020).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 414 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl.AA23.9.2020).Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 23.9.2020).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang.Außer bei mit Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nachAblauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen.Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchenAntrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 23.9.2020).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 23.9.2020).
DieInhaftierungeinesVerdächtigendurchdiePolizeiohneHaftbefehldarfnachdenallgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem bzw. zwei Jahren (in Fällen des Public SafetyAct) ohneAnklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 23.9.2020).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden, in einigen Fällen sogar mit Todesfolge. Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen oder eingeschüchtert werden (AA 23.9.2020).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§61-69), in zivilrechtlichenAngelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene dieAnnahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 9.2020).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi .net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_a syl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_201 9%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
• CM – Citizen Matters (2.8.2017): A guide to filing a Public Interest Litigation (PIL), http://citizenmatters.in/a-guide-to-filing-a-public-interest-litigation-pil-4539, Zugriff 13.8.2019
• Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
• USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
5. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 05.11.2020
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 7.2020) und untersteht den Bundesstaaten (AA 23.9.2020). Sie fungiert vielmehr alsAusbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten.Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 7.2020).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 7.2020; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).