Entscheidungsdatum
15.12.2020Norm
BFA-VG §22a Abs4Spruch
G314 223579-2/8E
Schriftliche Ausfertigung des am 30.10.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER im Verfahren zur Überprüfung der Anhaltung des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , in Schubhaft (BFA-Zl. XXXX ) zu Recht erkannt:
A) Es wird gemäß § 22 a Abs 4 BFA-VG festgestellt, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht verhältnismäßig ist.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs 4 B-VG zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang:
XXXX (im Folgenden als Beschwerdeführer, kurz BF, bezeichnet), ein volljähriger Staatsangehöriger Afghanistans, wird seit XXXX .2020 in Schubhaft angehalten.
Im Rahmen der ersten amtswegigen Schubhaftprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gemäß § 22a Abs 4 BFA-VG wurde mit dem nach Schluss der mündlichen Verhandlung am XXXX .2020 in Anwesenheit des BF und eines Vertreters des BFA mündlich verkündeten und am 22.10.2020 gekürzt ausgefertigten Erkenntnis festgestellt, dass zum Entscheidungszeitpunkt die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlagen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.
Am 28.10.2020 legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem BVwG die Akten unter Darlegung der Gründe, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig sei, zu einer weiteren Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Anhaltung des BF in Schubhaft vor.
Das BVwG führte am XXXX .2020 eine mündliche Verhandlung durch, an der BF, ein Dolmetscher für Dari sowie ein Vertreter des BFA teilnahmen. In der Verhandlung brachte der Behördenvertreter vor, dass die Schubhaftdauer sechs Monate überschreiten dürfe, weil die Voraussetzungen des § 80 Abs 4 Z 4 FPG erfüllt seien. Der BF habe trotz einer aufrechten Ausreiseverpflichtung versucht, sich dem Verfahren durch die Ausreise nach Deutschland zu entziehen.
Nach dem Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet.
Das BFA beantragte am 05.11.2020 die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.
Feststellungen:
Der BF beantragte am XXXX .2016 internationalen Schutz. Mit dem Bescheid vom XXXX .2018 wies das BFA diesen Antrag ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Gleichzeitig wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Mit dem Erkenntnis vom 03.09.2019 wies das BVwG die vom BF dagegen erhobene Beschwerde ab.
In der Folge begab sich der BF nach Deutschland und beantragte am XXXX .2019 in XXXX internationalen Schutz. Er kehrte kurz darauf freiwillig nach Österreich zurück.
Am 06.11.2019 erhob der BF eine Revision gegen das Erkenntnis vom 03.09.2019, die der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit dem Beschluss vom XXXX .2020 zurückwies, nachdem er ihr am XXXX .2019 die aufschiebende Wirkung zuerkannt hatte.
Da der BF kein Reisedokument vorlegte, leitete das BFA ein Verfahren zur Ausstellung eines Ersatzreisedokuments für ihn ein. Am 27.12.2019 wurde von den afghanischen Behörden für ihn ein nach wie vor gültiges Ersatzreisedokument ausgestellt.
Am XXXX .2020 wurde der BF bei einer Einreisekontrolle in XXXX in einem aus Österreich kommenden Zug aufgegriffen. Mangels entsprechender Dokumente wurde ihm die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert. Er wurde nach Österreich zurückgeführt, wo er gemäß § 34 Abs 1 Z 2 BFA-VG festgenommen wurde. Nach seiner polizeilichen Einvernahme ordnete das BFA über ihn mit Mandatsbescheid vom XXXX .2020 die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung gemäß § 76 Abs 2 Z 2 FPG an. Dies wurde zusammengefasst damit begründet, dass eine erhebliche Fluchtgefahr vorliege, weil aufgrund des Fehlens einer familiären, sozialen oder beruflichen Verankerung in Österreich ein beträchtliches Risiko des Untertauchens bestünde, der BF sich dem Verfahren entzogen und versucht hätte, nach Deutschland weiterzureisen, ihm die finanziellen Mittel für die Rückkehr in seinen Herkunftsstaat fehlten und er nicht willens sei, dorthin zurückzukehren. Außerdem liege eine (nicht weiter konkretisierte) Verletzung der Mitwirkungspflicht vor. Mit einem gelinderen Mittel könne nicht das Auslangen gefunden werden. Da für den BF bereits ein Heimreisezertifikat ausgestellt worden sei, könne die Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit binnen einiger Wochen erfolgen, zumal die Reisebeschränkungen zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung der Covid-19-Pandemie vorübergehend seien und bereits wieder schrittweise gelockert würden.
Der BF wurde zunächst im Polizeianhaltezentrum XXXX angehalten. Seit XXXX .2020 wird die Schubhaft im XXXX vollzogen.
Am XXXX .2020 stellte der BF während der Anhaltung in Schubhaft einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Mit dem Aktenvermerk vom 18.06.2020 hielt das BFA fest, dass die Schubhaft gemäß § 76 Abs 6 FPG wegen Verzögerungsabsicht aufrechterhalten werde, weil der BF den Antrag nicht gleich bei seiner Festnahme, sondern erst einige Tage später gestellt habe. Außerdem habe er versucht, sich der Abschiebung durch die Weiterreise nach Deutschland zu entziehen, und bei der Erstbefragung unsubstanzierte Angaben gemacht.
Nach der Erstbefragung des BF und seiner Einvernahme vor dem BFA am 23.06.2020 wurde ihm mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den Folgeantrag gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Mit dem nach einer weiteren Einvernahme des BF am 29.06.2020 mündlich verkündeten Bescheid des BFA wurde der faktische Abschiebeschutz aufgehoben. Mit Beschluss vom XXXX .2020 erklärte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dies für rechtmäßig. Bislang hat das BFA über den Folgeantrag des BF noch nicht entschieden. Es kann nicht festgestellt werden, wann mit einer Entscheidung darüber gerechnet werden kann.
Es ist geplant, den BF im Rahmen einer Sammelabschiebung mit einem eigens dafür gecharterten Flugzeug („Charterabschiebung“) nach Afghanistan zurückzuführen. Die im Oktober und November 2020 bereits festgelegten Termine für seine Abschiebung mussten jeweils aufgrund der Covid-19-Pandemie wieder abgesagt werden. Nunmehr ist seine Rückführung für den XXXX oder XXXX .2020 geplant. Bis Februar 2020, vor Ausbruch der Pandemie, wurden regelmäßig Abschiebungen nach Afghanistan durchgeführt.
Der BF ist haftfähig und hat keine schwerwiegenden gesundheitlichen Probleme. Er hält sich seit Juli 2016 (im Wesentlichen kontinuierlich) in Österreich auf, wo er vor seiner Festnahme Leistungen der staatlichen Grundversorgung bezog. Er hat keine eigenen finanziellen Mittel. In Österreich bestehen keine familiären oder beruflichen Anknüpfungen. Die Muttersprache des BF ist Dari. Am XXXX .2018 legte er eine Deutschprüfung für das Sprachniveau B1 erfolgreich ab. Er ist strafgerichtlich unbescholten. Abgesehen davon, dass er seiner Ausreiseverpflichtung auch nach dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise nicht nachkam, sind ihm keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit anzulasten. Er ist nicht bereit, freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren, würde sich dem BFA aber (z.B. im Rahmen der gelinderen Mittel der angeordneten Unterkunftnahme oder der periodischen Meldeverpflichtung) zur Verfügung halten.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und die Feststellungen basieren jeweils auf dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und der Gerichtsakten des BVwG. Es bestehen keine entscheidungswesentlichen Widersprüche.
Die Feststellungen zum ersten Asylverfahren des BF basieren auf den dazu vorgelegten Aktenbestandteilen, den entsprechenden Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und im GVS-Betreuungsinformationssystem sowie auf dem Erkenntnis des BVwG zu W136 2197711-1 und den dazu ergangenen Beschlüssen des VwGH im Verfahren Ra 2019/14/0534.
Die Asylantragstellung am XXXX .10.2019 in XXXX ergibt sich aus einem entsprechenden EURODAC-Treffer und den damit übereinstimmenden Angaben des BF am XXXX .2020. Da er laut dem Auszug aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem am 10.10.2019 eine Bestätigung über die Rückkehrberatung vorlegte, kann seiner Aussage, er sei nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland freiwillig nach Österreich zurückgekehrt, gefolgt werden.
Eine Kopie des für den BF ausgestellten, unbefristet gültigen Ersatzreisedokuments, das auch im IZR dokumentiert ist, wurde vorgelegt.
Die Betretung des BF in XXXX , die Einreiseverweigerung, die Rückübernahme nach Österreich, seine Festnahme gemäß § 34 Abs 1 Z 2 BFA-VG, die polizeiliche Einvernahme und die anschließende Anordnung der Schubhaft können jeweils anhand der dazu vorgelegten Aktenbestandteile nachvollzogen werden.
Die Anhaltung des BF in Schubhaft seit XXXX .2020 geht aus der Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung hervor. Laut dem Zentralen Melderegister (ZMR) ist er seit XXXX .2020 im XXXX mit Hauptwohnsitz gemeldet.
Die Feststellungen zum zweiten Asylverfahren des BF beruhen auf den dazu vorgelegten Aktenbestandteilen, insbesondere dem Aktenvermerk vom 18.06.2020 und dem Beschluss des BVwG vom 30.07.2020. Der Vertreter des BFA gab am XXXX .2020 vor dem BVwG an, dass beabsichtigt sei, den Folgeantrag des BF zurückzuweisen, was jedoch bislang noch nicht erfolgt ist. Er konnte keine Angaben zur voraussichtlichen weiteren Dauer des Folgeantragsverfahrens machen, sodass dazu – da auch keine anderen Informationen zu dieser Frage aktenkundig sind – eine Negativfeststellung getroffen werden muss. Es ist kein Grund ersichtlich, warum das BFA noch nicht über den Folgeantrag des BF auf internationalen Schutz entschieden hat, zumal die Absicht, diesen zurückzuweisen, schon im Juni 2020 bestand und er dazu auch schon vernommen wurde.
Die Feststellungen zur geplanten Abschiebung und zur Stornierung der früheren Termine dafür basieren auf der Stellungnahme des BFA vom 28.10.2020 und auf den Angaben des Behördenvertreters am XXXX .2020. Dies korrespondiert mit den Angaben zu der für November geplanten Abschiebung im vorangegangenen Schubhaftprüfungsverfahren.
Die Haftfähigkeit des BF geht aus den dem BVwG am XXXX .2020 vorgelegten medizinischen Unterlagen hervor. Schwerwiegende gesundheitliche Probleme sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ergibt sich aus den Wohnsitzmeldungen laut ZMR und dem Bezug von Grundversorgungsleistungen laut GVS-Betreuungsinformationssystem. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Deutschland im Herbst 2019 und dem Ausreiseversuch im Juni 2020 sind keine Unterbrechungen des Inlandsaufenthalts aktenkundig.
Laut Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung besitzt der BF einen verfügbaren Geldbetrag von EUR 1.147,49. Bei seiner Festnahme hatte er EUR 1.112,29 bei sich. Diesen Betrag hatte er - wie sich aus seiner Aussage am 11.06.2020 ergibt - von Freunden ausgeborgt und muss ihn zurückzahlen, sodass die Annahme des BFA, er habe keine (ausreichenden) eigenen finanziellen Mittel nachvollziehbar ist.
Das Verfahren hat keine familiären oder beruflichen Anknüpfungspunkte des BF im Inland ergeben. Dies steht im Einklang mit den Beweisergebnissen in seinen anderen asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren.
Die vom BF bei der Verhandlung am XXXX .2020 angegebene Muttersprache ist angesichts seiner Herkunft plausibel, zumal keine Anhaltspunkte für Verständigungsprobleme mit Dolmetschern für diese Sprache aufgetreten sind. Die von ihm abgelegten Deutschprüfungen (zuletzt für das Sprachniveau B1) sind im GVS-Betreuungsinformationssystem dokumentiert.
Die Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus dem Strafregister. Abgesehen von der Verletzung der Ausreisepflicht sind keine anderen Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aktenkundig. Bei der Verhandlung am XXXX .2020 bekräftigte er seine fehlende Ausreisewilligkeit, erklärte aber auch mehrmals, dass er der Behörde nach der Entlassung aus der Schubhaft stets zur Verfügung stehen würde. Dies ist glaubhaft, weil er auch schon 2019 nach der Asylantragstellung in Deutschland freiwillig wieder nach Österreich zurückkehrte.
Rechtliche Beurteilung:
Der BF ist seit XXXX .2020 und damit schon länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft. Gemäß § 22a Abs 4 BFA-VG ist die Verhältnismäßigkeit seiner Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom BVwG zu überprüfen. Das BVwG hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Da das BVwG die Entscheidung im ersten Schubhaftprüfungsverfahren am XXXX .2020 erlassen hat, erfolgt die nunmehr zweite gerichtliche Schubhaftüberprüfung im dafür zur Verfügung stehenden Zeitraum von XXXX .2020 bis XXXX .2020.
Da der BF nicht ausreisewillig ist und versucht hat, trotz aufrechter Ausreiseverpflichtung nach Deutschland auszureisen, ist nach wie vor Fluchtgefahr iSd § 76 Abs 3 FPG anzunehmen.
§ 80 FPG mit der Überschrift „ Dauer der Schubhaft“ lautet:
(1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.
(2) Die Schubhaftdauer darf, vorbehaltlich des Abs 5 und der Dublin-Verordnung, grundsätzlich
1. drei Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen mündigen Minderjährigen angeordnet wird;
2. sechs Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, angeordnet wird und kein Fall der Abs 3 und 4 vorliegt.
(3) Darf ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil über einen Antrag gemäß § 51 noch nicht rechtskräftig entschieden ist, kann die Schubhaft bis zum Ablauf der vierten Woche nach rechtskräftiger Entscheidung, insgesamt jedoch nicht länger als sechs Monate aufrecht erhalten werden.
(4) Kann ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil
1. die Feststellung seiner Identität und der Staatsangehörigkeit, insbesondere zum Zweck der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, nicht möglich ist,
2. eine für die Ein- oder Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staates nicht vorliegt,
3. der Fremde die Abschiebung dadurch vereitelt, dass er sich der Zwangsgewalt (§ 13) widersetzt, oder
4. die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint,
kann die Schubhaft wegen desselben Sachverhalts abweichend von Abs 2 Z 2 und Abs. 3 höchstens 18 Monate aufrechterhalten werden.
(5) Abweichend von Abs 2 und vorbehaltlich der Dublin-Verordnung darf die Schubhaft, sofern sie gegen einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, angeordnet wurde, bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Dauer von 10 Monaten nicht überschreiten. Wird die Schubhaft über diesen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten oder nach diesem Zeitpunkt neuerlich angeordnet, ist die Dauer der bis dahin vollzogenen Schubhaft auf die Dauer gemäß Abs 2 oder 4 anzurechnen.
(5a) In den Fällen des § 76 Abs 2 letzter Satz ist auf die Schubhaftdauer gemäß Abs 5 auch die Dauer der auf den Festnahmeauftrag gestützten Anhaltung anzurechnen, soweit sie nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 40 Abs 5 BFA-VG aufrechterhalten wurde. Die Anrechnung gemäß Abs 5 letzter Satz bleibt davon unberührt.
(6) Das Bundesamt hat von Amts wegen die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft längstens alle vier Wochen zu überprüfen. Ist eine Beschwerde gemäß § 22a Abs 1 Z 3 BFA-VG anhängig, hat diesfalls die amtswegige Überprüfung zu entfallen.
(7) Das Bundesamt hat einen Fremden, der ausschließlich aus den Gründen des Abs 3 oder 4 in Schubhaft anzuhalten ist, hievon unverzüglich schriftlich in Kenntnis zu setzen.
Wenn die Abschiebung des BF innerhalb der Schubhafthöchstdauer nicht durchführbar ist, darf die Schubhaft nicht verhängt werden oder ist – wenn sich das erst später herausstellt – umgehend zu beenden (vgl. VwGH 20.12.2013, 2013/21/0014). Eine Schubhaft darf nur verhängt oder aufrechterhalten werden, wenn ihr Zweck innerhalb der Schubhafthöchstdauer voraussichtlich realisiert werden kann (siehe VwGH 17.04.2020, Ro 2020/21/0004).
Der BF befand sich bei seinem Folgeantrag auf internationalen Schutz bereits in Schubhaft. Gegen ihn besteht eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung, weil der faktische Abschiebeschutz aufgrund des Folgeantrags gemäß § 12a Abs 2 AsylG weniger als einen Monat nach Einbringung des Antrags aberkannt wurde. Die in § 80 Abs 5 FPG normierte Schubhafthöchstdauer von zehn Monaten, die sich auf die während des laufenden Asylverfahrens angeordnete Schubhaft und die bis zum Eintritt der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme vollzogene Anhaltung bezieht (siehe RV 1523 d.B. XXV. GP, Erläuterungen zu Art 2 Z 61), ist daher hier nicht maßgeblich.
Für den BF liegt ein Ersatzreisedokument vor; seine Identität und Staatsangehörigkeit sind geklärt. Seine Abschiebung nach Afghanistan soll nunmehr (frühestens) am XXXX .2020 durchgeführt werden, sodass er bis dahin länger als sechs Monate lang in Schubhaft angehalten würde. Somit würde die gemäß § 80 Abs 2 Z 2 FPG zulässige Schubhafthöchstdauer überschritten werden.
Entgegen der Ansicht des BFA ist der Tatbestand des § 80 Abs 4 Z 4 FPG nicht erfüllt. Der BF hat zwar versucht, nach Deutschland auszureisen und dadurch seiner Rückführung nach Afghanistan zu entgehen. Da damals aber noch kein konkreter Abschiebetermin festgesetzt war, begründet dies zwar Fluchtgefahr; es liegen aber keine zusätzlichen Elemente vor, die die Annahme rechtfertigen würden, dass die Abschiebung darüber hinaus besonders gefährdet wäre, zumal der BF zugesichert hat, dass er sich der Behörde auch nach seiner Entlassung aus der Schubhaft zur Verfügung halten wird und aufgrund des anhängigen Asylverfahrens die Möglichkeit besteht, dass er Grundversorgungsleistungen erhält. Ein vom BF zu vertretendes Abschiebungshindernis, das die Aufrechterhaltung der Schubhaft für länger als sechs Monate notwendig machen würde, liegt nicht vor. Die eingetretenen Verzögerungen bei der Durchführung der Abschiebung, die nicht dem Verhalten des BF zuzurechnen, sondern auf die mit der weltweiten Pandemie einhergehenden (Flug-)Reisebeschränkungen zurückzuführen sind, rechtfertigen keine Fortsetzung der Schubhaft über die in § 80 Abs 2 Z 2 FPG vorgesehene Höchstdauer hinaus.
Für die Erfüllung des Tatbestands des § 80 Abs 4 Z 4 FPG genügt es nicht, auf jene Umstände abzustellen, die eine Fluchtgefahr iSd § 76 Abs 3 FPG begründen; es ist vielmehr ein darüber hinausgehendes Verhalten des BF notwendig, durch das seine Abschiebung so gefährdet erscheint, dass die Schubhaft länger als sechs Monate aufrechterhalten werden muss. Ein solches vom BF zu vertretendes besonderes Abschiebungshindernis liegt hier nicht vor. Er konnte bislang nicht deshalb noch nicht abgeschoben werden, weil er sich dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, sondern deshalb, weil bereits festgesetzte Termine für die Abschiebung wegen der Covid-19-Pandemie storniert werden mussten. Eine auf § 80 Abs 4 Z 4 FPG gestützte Verlängerung der Schubhaft über sechs Monate hinaus ist daher nicht gerechtfertigt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ein anderer Verlängerungstatbestand des § 80 Abs 3 oder 4 FPG verwirklicht sein könnte.
Zusammengefasst ergibt sich, dass die Abschiebung des BF innerhalb der Frist des § 80 Abs 2 Z 2 FPG nicht deshalb gefährdet ist, weil er sich dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis zu vertreten hat, sondern deshalb, weil aufgrund der Covid-19-Pandemie innerhalb von sechs Monaten keine Abschiebung nach Afghanistan realisiert werden konnte. Dies rechtfertigt eine auf § 80 Abs 4 Z 4 FPG gestützte Verlängerung der zulässigen Schubhafthöchstdauer auf 18 Monate nicht.
Die Schubhaft gegen den BF ist somit nach sechs Monaten jedenfalls zu beenden. Da seine Abschiebung innerhalb dieser Frist voraussichtlich nicht durchgeführt werden kann, zumal der frühestmögliche Termin erst am XXXX .2020 ist, ist die weitere Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht mehr verhältnismäßig.
Die Fortsetzung der Schubhaft gegen den BF ist auch deshalb nicht mehr verhältnismäßig, weil über seinen Folgeantrag bislang noch nicht entschieden wurde, obwohl die Entscheidungsfrist, die gemäß § 22 Abs 6 AsylG maximal drei Monate beträgt, abgelaufen ist und schon seit Ende Juni 2020 die Absicht besteht, den Antrag zurückzuweisen, wobei die Voraussetzungen dafür grundsätzlich erfüllt wären. Trotzdem ist die voraussichtliche weitere Dauer des Folgeantragsverfahrens vor dem BFA derzeit noch nicht absehbar (vgl. dazu etwa VwGH 17.04.2020, Ro 2020/21/0004). Da das BFA darauf hinwirken muss, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert (§ 80 Abs 1 erster Satz FPG), und über Anträge auf internationalen Schutz vordringlich und schnellstmöglich zu entscheiden hat, wenn sich der Asylwerber in Schubhaft befindet (§ 22 Abs 6 erster und zweiter Satz AsylG), liegen die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht mehr vor, zumal der BF trotz der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes als Asylwerber anzusehen ist und eine Entscheidung über den Folgeantrag zu ergehen hat.
Auch unabhängig von der Erfüllung eines Tatbestands nach § 80 Abs 4 FPG ist aus heutiger Sicht nicht mit einer zeitnahen Abschiebung des BF zu rechnen, weil zuletzt mehrere Abschiebetermine nach Afghanistan abgesagt werden mussten, seit Februar 2020 keine Abschiebungen dorthin mehr stattgefunden haben und aufgrund der „zweiten Welle“ der Covid-19-Pandemie, zu der es derzeit weltweit kommt, auch in weiterer Folge nicht davon auszugehen ist, dass eine Abschiebung nach Afghanistan in absehbarer Zeit möglich sein wird. Auch aus diesem Gesichtspunkt liegen die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vor und erweist sich die weitere Anhaltung des BF in Schubhaft als nicht verhältnismäßig.
Die Revision ist gemäß § 133 Abs 4 B-VG zuzulassen, weil (soweit überblickbar) keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung von § 80 Abs 4 Z 4 FPG vorliegt, insbesondere dazu, ob für die Erfüllung dieses Tatbestands noch weitere Elemente (zusätzlich zur Fluchtgefahr) vorliegen müssen, um eine Aufrechterhaltung der Schubhaft über sechs Monate hinaus zu rechtfertigen.
Schlagworte
Interessenabwägung Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2235679.2.00Im RIS seit
11.03.2021Zuletzt aktualisiert am
11.03.2021