TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/22 W167 2165312-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.12.2020
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Entscheidungsdatum

22.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W167 2165312-1/53E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Daria MACA-DAASE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 und 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.

Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte III. – IV. behoben, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG in den Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 iVm § 54 Abs. 2 AsylG für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am Folgetag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschs als Fluchtgrund an, dass er seine Heimat wegen den Taliban verlassen hätte. In Afghanistan sei er als Ortspolizist tätig gewesen. Aufgrund seiner Tätigkeit sei sein Leben aufgrund der Taliban in Gefahr gewesen. Sie hätten sein Haus und seinen Stützpunkt attackiert. Sein Leben sei in Gefahr, deshalb hätte er die Flucht ergreifen müssen. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befürchte er die Rache der Taliban.

2. Am XXXX erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „belangte Behörde“) im Beisein eines Dolmetschs für die Sprache Paschtu. Der Beschwerdeführer brachte zusammengefasst im Wesentlichen vor, dass er eine polizeiliche Ausbildung habe und als Ortspolizist gearbeitet habe. Er sei alle zwei Wochen am Freitagabend nach Hause gekommen, einmal seien die Taliban gekommen und hätten ihn mitgenommen. Bei einem Angriff der Taliban auf einen Regierungsposten, zu dem die Taliban den Beschwerdeführer mitgenommen hätten, XXXX und sei dann nach Hause zurückgekehrt. Der Vater des Beschwerdeführers habe dann die Flucht des Beschwerdeführers organisiert.

3. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Die belangte Behörde erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung. Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei. (Spruchpunkt III.) Weiters sprach die belangte Behörde eine Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung aus (Spruchpunkt IV.).

Dem Beschwerdeführer wurde ein Rechtsberater beigegeben.

4. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht gegen diesen Bescheid Beschwerde und hielt sein Fluchtvorbringen aufrecht.

5. Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte XXXX eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seines Vertreters und eines Dolmetschers für die Muttersprache des Beschwerdeführers u.a. eingehend zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt. Es wurden auch die beantragten Zeug/innen zur Integration befragt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise nach Europa. Er stammt aus dem von ihm im Verfahren angegeben Ort in der Provinz Paktia. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Er war bereits zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich volljährig. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu, drüber hinaus spricht der nach eigenen Angaben wenig Dari.

Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet, seine Ehefrau und XXXX leben im Heimatort des Beschwerdeführers mit den Eltern des Beschwerdeführers zusammen und werden von diesen versorgt.

Der bereits bei der Einreise volljährige Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer besuchte sechs Jahre lang unregelmäßig die Schule.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan zuerst in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet, dann eine Ausbildung zum Polizisten gemacht und als Polizist gearbeitet.

Die Eltern, die Geschwister, die Ehefrau und XXXX leben im Heimatort in ihrem eigenen Haus. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch die Tätigkeit des Vaters XXXX sowie durch den Ertrag der Verpachtung eines familieneigenen landwirtschaftlichen Grundstücks. Der Beschwerdeführer hat mit seinem Vater regelmäßigen Kontakt.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 aus Afghanistan aus, gelangte unter Missachtung der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften ins Bundesgebiet und stellte am XXXX den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat Afghanistan keiner physischen und/oder psychischen Gewalt aus Gründen seiner Volksgruppenzugehörigkeit, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr zu befürchten.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nicht von den Taliban entführt und wird nicht von den Taliban aufgrund seiner Ausbildung und seinerzeitigen Tätigkeit als einfacher Polizei verfolgt. Darüber hinaus ist weder der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er sich in den letzten Jahren in Europa aufgehalten hat und hier eine „westliche Lebensweise“ kennengelernt hat, noch ist jeder afghanische Staatsangehörige, welcher von Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan allein aus diesem Grund zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Auch sonst haben sich im gesamten Verfahren keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer bezog zuerst Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung, ist aber aktuell erwerbstätig und selbsterhaltungsfähig und hat darüber hinaus eine Einstellungszusage vorgelegt.

Der Beschwerdeführer besuchte diverse Basisbildungs- und Deutschkurse und verfügt u.a. über ein Sprachzertifikat A2 vom XXXX sowie zuletzt über ein Sprachzertifikat B1.

Der Beschwerdeführer ist sozial in Österreich gut integriert. Er verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich. Der Beschwerdeführer hat sich während seines Aufenthalts in Österreich von seiner in Afghanistan lebenden Ehefrau abgewendet und möchte nach eigener Aussage auch die Ehe mit ihr nicht mehr fortführen. Er ist nunmehr in einer österreichischen Familie integriert und unterstützt dort bei der Betreuung der Kinder, für die er eine wichtige Bezugsperson geworden ist.

Der Beschwerdeführer war im Rahmen der Nachbarschaftshilfe und gemeinnützig tätig und ist mittlerweile erwerbstätig und selbsterhaltungsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Paktia aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem Beschwerdeführer steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative allerdings eine Rückkehr in eine Großstadt wie Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Dort ist es ihm auch möglich zu leben, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Seit seiner Ausreise aus Afghanistan werden seien Frau XXXX von den Eltern des Beschwerdeführers versorgt. Der Beschwerdeführer muss also auch im Falle einer Rückkehr nur für sein eigenes Auskommen und Fortkommen sorgen.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr – neben den eigenen Ressourcen – auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Es ist dem Beschwerdeführer daher möglich nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Sein Gesundheitszustand steht daher einer Rückführung in den Herkunftsstaat nicht entgegen.

Festgestellt wird, dass die aktuell auch in Afghanistan vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf sein Alter (deutlich jünger als 65 Jahre) und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Ein bei einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Afghanistan vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK ist nicht erkennbar.

1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        EASO Country of Origin Information Report Afghanistan – Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, August 2020 (EASO August 2020)

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB, Kapitel 1). Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1). Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO August 2020, Kapitel 2.1.1.).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Einer Schätzung der Weltbank zufolge wird der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Afghanen infolge der COVID-19-Maßnahmen im Jahr 2020 auf 61 bis 72 % steigen, dies aufgrund sinkender Einkommen und steigender Preise für Nahrungsmittel und andere Haushaltswaren (EASO 2020, Kapitel 2.3.1.).

Aufgrund der COVID-19-Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020). Einem FEWS-Bericht zur Ernährungssicherheit von April 2020 sind Haushalte in Kabul, Herat, Mazar-e Sharif und anderen großen Städten sowie jene, die von kleinen Geschäften oder Gewerben, Überweisungen, nicht-landwirtschaftlicher Lohnarbeit und geringbezahlten Jobs abhängig sind, am schlimmsten vom eingeschränkten Zugang zu Beschäftigung und den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen betroffen (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.

In Kabul hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60% der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87% der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO August 2020, Kapitel 2.6.1.).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurden einige medizinische Leistungen, wie routinemäßige Impfungen, das Polio-Programm, Schwangerschaftsuntersuchungen und psychische und psychosoziale Behandlungen, entweder eingestellt oder zumindest reduziert (EASO August 2020, Kapitel 2.6.2.).

Laut tagesaktueller Aufstellung der Johns Hopkins University wurden für Afghanistan insgesamt 49.817 bestätigte Covid-19 Fälle und 2.067 Tote gemeldet, dabei 1.290 neue Fälle und 102 Tote in der letzten Woche (https://coronavirus.jhu.edu/region/afghanistan, 21.12.2020, WHO vgl. https://covid19.who.int/region/emro/country/af).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10). Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1). Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Provinzen und Städte

Paktia (LIB, Kapitel 2.26)

Paktia/Paktya befindet sich im Osten Afghanistans, an der Grenze Afghanistan und Pakistan. Die Provinz grenzt an Logar im Norden, Pakistan im Osten, Khost im Südosten, Paktika im Süden und Ghazni im Westen. Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Paktia für den Zeitraum 2019-20 auf 601.230 Personen. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken. Eine Autobahn verbindet Kabul mit der Provinzhauptstadt Gardez und führt weiter durch die Distrikte Shawak und Zadran in die Provinz Khost nach Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Eine weitere Autobahn verbindet Ghazni mit Gardez. Paktika hat eine interreligiöse Bevölkerung, in Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, lebt eine kleine schiitische Gemeinschaft, die sogenannten Sadats (Sayyeds). Außerdem leben in der Provinz größtenteils sunnitische Tadschiken. Diese Bevölkerungsgruppen sprechen Dari und leben in Khwajah Hassan mit Pashtunen scheinbar konfliktfrei miteinander.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure: Sowohl die Taliban als auch das Haqqani-Netzwerk sind in gewissen unruhigen Distrikten der Provinz aktiv; in diesen Distrikten versuchen sie terroristische Aktivitäten gegen Regierungs- und Sicherheitsinstitutionen auszuführen. Die Provinz beherbergt viele ehemalige Mujahedin-Kommandanten, die Mitglieder der Harakat-e Enqelab-e Islami-e Afghanistan (The Islamic Revolutionary Movement of Afghanistan) sind. Auch al-Qaida versucht im Distrikt Barmal Fuß zu fassen, dieser wird vom Haqqani-Netzwerk beansprucht. Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos. Auf Regierungsseite ist eine Spezialeinheit namens Khost Protection Force (KPF) ein Sicherheitsakteur in der Provinz. Die KPF wird Berichten zufolge von der CIA unterstützt und ist gegenüber der Provinzregierung nicht rechenschaftspflichtig. Der KPF wurden Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Tötungen, Folter und willkürliche Verhaftungen vorgeworfen. In Bezug auf die Anwesenheit von regulären staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Paktia in der Verantwortung des 203. ANA Corps, das der Task Force Southeast angehört, die von US-Truppen geleitet wird.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung: Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 218 zivile Opfer (78 Tote und 140 Verletzte) in der Provinz Paktia. Dies entspricht einem Rückgang von 49% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von gezielten Tötungen und Suchoperationen. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch afghanische und ausländische Sicherheitskräfte. In manchen Fällen kamen auch Zivilisten zu Schaden. Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften fanden statt.

Auch EASO teilt diese Einschätzung, dass in der Provinz Paktia willkürliche Gewalt ein hohes Ausmaß erreicht (EASO).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

In Mazar-e Sharif findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

Situation für Rückkehrer/innen

Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierte Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22). Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 22). Unter Rückkehrhilfe wird in Österreich Beratung und – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auf Antrag - Unterstützung in Form von Organisation und Übernahme der Reise- und Dokumentenkosten sowie ein finanzieller Beitrag verstanden.

Die Höhe der finanziellen Starthilfe bemisst sich grundsätzlich nach einem „2-Phasen Modell“:

- 500 EUR für Asylwerber im laufenden Verfahren I. Instanz,

- 250 EUR nach abgeschlossenem negativen Asylverfahren I. Instanz bzw. Fremde (BMI Rückkehrhilfe).

Zudem kann bei Erfüllung der Kriterien eine zusätzliche Reintegrationsunterstützung (Geld- und Sachleistung) vor Ort erfolgen. Das Projektziel dieses Reintegrationsprojektes mit dem Namen RESTART II mit IOM Österreich ist es, die freiwillige Rückkehr und Reintegration der Projektteilnehmer sowie der mit ihnen gemeinsam zurückgekehrten Familienmitglieder zu erleichtern. Rückkehrer sollen mithilfe der gewährten individuellen Unterstützung befähigt werden, sich erfolgreich in ihrem Herkunftsland einzugliedern. Die Reintegrationsleistung betragen 500 EUR Bargeldleistung und 2.800 EUR Sachleistung (BMI Rückkehrhilfe). Erfolgt keine freiwillige Rückkehr, wird bei Zwangsrückführungen, sofern keine eigenen Mittel vorhanden sind, ein Zehrgeld in der Höhe von 50 EUR gewährt. Dieser Betrag kann im Fall von besonderen Bedürfnissen erhöht werden (BMI Rückkehrhilfe). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 22).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

- Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

- Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 22).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 22).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des Beschwerdeführers in Afghanistan beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben zu seinem Gesundheitszustand beruhen auf seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung, welche auch in den ergänzenden Übermittlungen des Vertreters nicht relativiert wurden.

Die Identität des Beschwerdeführers konnte mangels Vorlage geeigneter Dokumente nicht festgestellt werden. Die Angaben im Einleitungssatz dienen zur Identifizierung im Asylverfahren, wobei antragsgemäß (OZ 10) die zweite Schreibweise des Vornamens ergänzt wurde, zumal diese Schreibweise auch bereits bei der Erstbefragung (Erstbefragung S. 1, VwAkt S. 1) und bei der Befragung durch die belangte Behörde (Einvernahmeprotokoll S. 3, VwAkt S. 57) aufgenommen wurde.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer gab bereits bei der Erstbefragung an, er habe seine Heimat aufgrund der Taliban verlassen müssen. In Afghanistan sei er als Ortspolizist tätig gewesen, aufgrund seiner Tätigkeit sei sein Leben aufgrund der Taliban in Gefahr gewesen. „Sie attackierten unser Haus und unseren Stützpunkt. Mein Leben war in Gefahr, deshalb musste ich die Flucht ergreifen.“ Im Falle seiner Rückkehr befürchte er die Rache der Taliban. (Erstbefragung, VwAkt AS 11). Bei der Befragung durch die belangte Behörde legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung über seine polizeiliche Ausbildung vor. Zu seinen Ausreisegründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst im Wesentlichen an, die Taliban hätten das Haus seiner Eltern durchsucht, als er zu Hause war und hätten ihn mitgenommen. Er sei zu einem Talibanstützpunkt gebracht und fotografiert worden, in weiterer Folge sei er zu einem Angriff auf einen Regierungsposten mitgenommen worden, wobei er Patronen und Munition von Raketen am Rücken tragen sollte. XXXX Der Beschwerdeführer habe sich versteckt, gewartet bis es hell war und sei dann nach Hause gegangen. Aufgrund des Umstands, dass er von den Taliban fotografiert worden sei, war sein Vater der Ansicht, dass eine konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer bestünde und habe die Ausreise des Beschwerdeführers organisiert. (Einvernahme BFA, VwAkt S. 60 f.) Über Nachfrage der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer an, dass er den Taliban keine Informationen über die Stützpunkte von Regierungskräften gegeben habe und ihn die Taliban ihn lediglich zum Munitionstragen mitgenommen hätten (Einvernahme BFA, VwAkt S. 61).

Die belangte Behörde wertete das Vorbringen des Beschwerdeführers als unglaubhaft aufgrund nicht nachvollziehbarer sowie lebensferner Darstellung (bekämpfter Bescheid Seite 83, VwAkt S. 343) und zweifelte an, dass der Beschwerdeführer überhaupt als Polizist tätig war (bekämpfter Bescheid S. 84, VwAkt S. 344).

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen sein Vorbringen dazu, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als einfacher Polizist ins Visier der Taliban geraten und von diesen mitgenommen und fotografiert worden sei. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer aufgefordert seine Arbeit als Polizist zu beenden und für die Taliban als Informant zu arbeiten ( XXXX OZ 31) Der Beschwerdeführer schilderte ausführlich seine Ausbildung, seine Mitnahme durch die Taliban, sein Entkommen sowie die Organisation seiner Ausreise (OZ 31, S. 19 bis 24). Er nahm auch zu den Fragen betreffend sein Fluchtvorbringen Stellung (OZ 37, S. 6 bis 12).

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert; die Verwaltungsbehörde bzw. das BVwG können in ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen. Es wird im Beschwerdefall zwar nicht verkannt, dass sich die Erstbefragung des Beschwerdeführers nicht in erster Linie auf seine Fluchtgründe bezog, und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden. Dennoch fällt auf, dass Beschwerdeführer in der Erstbefragung zwar die Bedrohung durch die Taliban im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit angegeben hat, aber insbesondere das zentrale Vorbringen (nämlich seiner Entführung durch die Taliban) nicht erwähnt hat.

Betreffend die Ausbildung und eineinhalb-jährige Tätigkeit (OZ 37, S. 8) des Beschwerdeführers als einfacher Polizist ohne Rang wird von den lebensnah geschilderten Angaben des Beschwerdeführers ausgegangen. Die Unschärfen bei angegebenen Fachbezeichnungen, welche teilweise für Soldaten als auch Polizisten benutzt werden, sind in der Verhandlungsschrift dokumentiert. Die Aufgaben des Beschwerdeführers umfassten im Wesentlichen den Wachdienst und die Patrouille, welche bewaffnet durchgeführt wurde (OZ 37, S. 7 f.).

Wenngleich nicht verkannt wird, dass der Beschwerdeführer aus einer Provinz mit Talibanaktivität stammt und der Beschwerdeführer der amtsbekannten Zielgruppe der Taliban für Rekrutierungen von Personen mit militärischem Hintergrund entspricht, sind im Beschwerdefall die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Entführung nicht nachvollziehbar und daher nicht glaubhaft. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass das zentrale Vorbringen der Entführung durch die Taliban erstmals bei der belangten Behörde erwähnt wurde. Wesentlich ist allerdings, dass das Vorbringen betreffend die konkrete Entführung als solches nicht stimmig und nachvollziehbar ist. Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass Polizisten ins Visier der Taliban rücken und Entführungen aufgrund ihrer Tätigkeit für die Regierung und/oder wegen ihrer Kenntnisse in Afghanistan vorkommen. Allerdings erweist sich das konkrete Vorbringen des Beschwerdeführers insbesondere in folgenden Punkten nicht nachvollziehbar: Der Beschwerdeführer gibt an, dass die Taliban ihn nach etwa 1,5 Jahren Tätigkeit für die Polizei im Haus seiner Eltern aufgesucht und mitgenommen hätten, als er Zeit zu Hause mit seiner Familie verbracht habe. Seinem Vorbringen nach, ist also anzunehmen, dass die Taliban über seine Person, seine (familiären) Umstände und wohl auch darüber informiert waren, dass bzw. wann er sich zu Hause aufhielt. Darüber hinaus gab der Beschwerdeführer an, die Taliban hätten von ihm verlangt, dass er seine Tätigkeit als Polizist aufgebe. Wieso es vor diesem Hintergrund nötig gewesen sein soll, den Beschwerdeführer – wie von ihm vorgebracht — zu fotografieren, erschließt sich nicht, sondern scheint lediglich der Untermauerung einer landesweiten Verfolgung des Beschwerdeführers zu dienen. So gibt der Beschwerdeführer selbst an, sein Vater und dessen Freund hätten eine landesweite Gefährdung des Beschwerdeführers wegen der angefertigten Fotos gesehen (OZ 31 S. 24). In der Tatsache, dass die Familie des Beschwerdeführers weiterhin im Heimatort lebt, wurde nach Einschätzung der Familie kein Risiko für den Beschwerdeführer erblickt. Darüber hinaus scheint es nicht nachvollziehbar, wieso die Taliban einen Gefangenen – selbst wenn er sich im Rahmen der Entführung zur Unterstützung der Taliban verpflichtet hat – in eine Auseinandersetzung mit Regierungskräften mitnehmen sollten, da dieser wohl eher ein Sicherheitsrisiko wäre, da seine Loyalität im konkreten Fall noch nicht gesichert war. Zudem gab der Beschwerdeführer an, dass er zu einem Stützpunkt der Taliban gebracht worden sei, bei dem offenbar auch Vorkehrungen zur Festsetzung von Gefangenen bestanden, weshalb ein Zurücklassen von Gefangenen wohl möglich gewesen wäre. Diese Unstimmigkeit wurde dem Beschwerdeführer auch vorgehalten und konnte von diesem nicht aufgeklärt werden, da er lediglich darauf verwies, dass er fotografiert worden sei (OZ 34 S. 11). Letztlich scheint es auch nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer gelungen sein soll, in der von ihm geschilderten Art und Weise vom Schauplatz der gewaltsamen Auseinandersetzung zu entkommen. Mag es auch aufgrund der Auseinandersetzung Chaos gegeben haben, so ist doch nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer gelungen sein soll – sowohl von den regierungsnahen Personen, als auch von den Taliban – unbemerkt zu Fuß zu entkommen. Den Schilderungen des Beschwerdeführers nach hat es sich um eine gewaltsame Auseinandersetzung gehandelt, welche auf Regierungsseite XXXX unterstützt wurde und auch die Taliban empfindlich getroffen hat. Dass keine der beiden Seiten Überlebende hatte und/oder eine entsprechende zeitnahe Nachschau vor Ort gehalten hat, ist im Hinblick auf die Schilderung des Beschwerdeführers ebenfalls nicht anzunehmen. Somit ist bei Zugrundelegung der Angaben des Beschwerdeführers zur Entführung und Involvierung in den Angriff davon auszugehen, dass es sich um keine lebensnahe Schilderung handelt und das Vorbringen des

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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