TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/23 W262 2174661-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.12.2020
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Entscheidungsdatum

23.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W262 2174647-1/15E

W262 2174657-1/14E

W262 2174655-1/11E

W262 2174651-1/11E

W262 2174653-1/11E

W262 2174661-1/11E

W262 2213465-1/11E

W262 2174658-1/13E

W262 2174640-1/14E

W262 2174660-1/13E

W262 2174643-1/15E

Schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Julia JERABEK über die Beschwerden von BF1: XXXX , BF2: XXXX , BF3: mj. XXXX , BF4: mj. XXXX , BF5: mj. XXXX , BF6: mj. XXXX , BF7: mj. XXXX , BF8: XXXX , BF9: XXXX , BF10: XXXX und BF11: XXXX , geboren am BF1: XXXX , BF2: XXXX , BF3: XXXX , BF4: XXXX , BF5: XXXX , BF6: XXXX , BF7: XXXX , BF8: XXXX , BF9: XXXX , BF10: XXXX , BF11: XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom BF1: 22.09.2017, BF2: 22.09.2017, BF3: 23.09.2017, BF4: 23.09.2017, BF5: 23.09.2017, BF6: 25.09.2017, BF7: 07.12.2018, BF8: 25.09.2017, BF9: 22.09.2017, BF10: 28.09.2017, BF11: 28.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX , XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer (BF1 bis BF11) sind afghanische Staatsbürger. Es handelt sich um eine Großfamilie, bestehend aus den Eltern BF1 und BF2, deren zum Zeitpunkt der Antragstellung und Verhandlung fünf minderjährigen Kindern (BF3 – BF5), der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige und nunmehr volljährige Sohn (BF9), die zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits verheiratete Tochter (BF10) und ihr Ehemann (BF11) sowie die fast 70-jährige Mutter des BF1 (BF8). BF1 – BF5 und BF8 – BF11 stellten ihre Anträge auf internationalen Schutz am 27.09.2015 (bzw. wurden diese im Falle der Minderjährigkeit durch die gesetzliche Vertretung gestellt). BF6 wurde am XXXX und BF7 am XXXX in Österreich geboren.

2. BF1 gab bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanischer Staatsangehöriger sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei mit der BF2 traditionell verheiratet. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass er von einem Mann namens XXXX , welcher Kommandant in seinem Dorf gewesen sei und zur Mujaheddin gehöre, bedroht worden sei. Dieser habe den BF1 dazu bringen wollen, gegen die Taliban zu kämpfen.

BF2 gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanische Staatsangehörige sei. Sie gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei mit dem BF1 traditionell verheiratet. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, Ihr Ehemann von einem Mann namens XXXX , welcher Kommandant in Heimatdorf gewesen sei und zur Mujaheddin gehöre, bedroht worden sei. Dieser habe den BF1 dazu bringen wollen, gegen die Taliban zu kämpfen.

BF8 gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanische Staatsangehörige sei. Sie gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei verwitwet und die Mutter des BF1. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass die Lage in Afghanistan sehr schlecht sei. Es herrsche Krieg und es würden jeden Tag Menschen ermordet. Sonst gebe es dort nichts. Es gebe überall Bombenanschläge.

BF9 gab bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanischer Staatsangehöriger sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei ledig und habe keine Kinder. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass sein Vater von einem Mann namens XXXX , welcher Kommandant in seinem Dorf gewesen sei und zur Mujaheddin gehöre, bedroht worden sei. Er habe diesen dazu bringen wollen, gegen die Taliban zu kämpfen. Da sein Vater dem nicht gefolgt sei, habe er mit seiner gesamten Familie das Land verlassen.

BF10 gab bei ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass sie am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanische Staatsangehörige sei. Sie gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei mit BF11 traditionell verheiratet. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass ihr Vater und ihre Brüder mehrmals bedroht worden seien. Sie glaube, dass sie von einem Mann namens XXXX bedroht worden seien. Aus diesem Grund habe ihr Vater beschlossen, das Land zu verlassen. Die BF10 habe dieselben Fluchtgründe wie ihr Vater.

BF11 gab bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.10.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er am XXXX in der Provinz Parwan geboren worden und afghanischer Staatsangehöriger sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und bekenne sich zum sunnitisch-islamischen Glauben. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei mit der BF10 traditionell verheiratet. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass er Afghanistan verlassen habe, weil er und seine Familie bedroht worden seien. Er sollte, wie andere Familienmitglieder, gegen die Taliban kämpfen, andernfalls würden alle getötet werden. Aus Angst um das Leben habe der BF11 mit den anderen Familienmitgliedern das Land verlassen.

3. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahmen durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge als „belangte Behörde“ oder BFA bezeichnet) am 03.07.2017 bestätigte BF1 seine bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, er sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe er auch bis zu seiner Ausreise gelebt. Sein Vater sei bei einem Selbstmordattentat getötet worden, seine Mutter sei mit ihm nach Österreich gekommen, ebenso seine restliche Familie. Lediglich eine Tochter befinde sich als Asylwerberin in Schweden. In Afghanistan gebe es noch zwei Onkel und eine Tante des BF1, zu diesen bestehe kein Kontakt. Der BF1 habe in Afghanistan keine Schule besucht und sei Analphabet. Er habe in verschieden Branchen (z.B. Landwirtschaft, Schneiderei, etc.) gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen gab BF1 zusammengefasst an, ein Mitglied des Mujaheddin namens XXXX habe ihn immer wieder unter Druck gesetzt, dass er an seiner Seite gegen die Taliban kämpfen solle. Der BF1 hasse aber Waffen, Krieg und Terrorismus. Hätte er sich ihm angeschlossen, wäre er im Kampf getötet worden. Dadurch wäre seine Familie ihres Beschützers und Ernährers beraubt worden. Der BF1 habe Angst um seine gesamte Familie gehabt, weshalb er das Land verlassen habe. Sein Verfolger habe gute Beziehungen zum (früheren) Außenminister Afghanistans.

Auch BF2 bestätigte ihre bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, sie sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe sie auch bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter würde noch in Afghanistan leben. Die Geschwister der BF2 hätten zum Zeitpunkt in Kabul gelebt, ob das immer noch der Fall sei, wisse sie nicht. Die restliche Familie der BF2 sei mit ihr nach Österreich gekommen, mittlerweile sei eine weitere Tochter geboren worden. Die BF2 habe keine Schule besucht und sei Analphabetin. Sie sei in Afghanistan nur Hausfrau gewesen.

Zu ihren Fluchtgründen gab die BF2 zusammengefasst an, sie habe 40 Jahre in Afghanistan gelebt und es sei dort kein menschliches Leben gewesen. Als Frau dürfe man dort nichts machen, man werde von allen Seiten unterdrückt. Weiters sei ihr Ehemann bedroht worden sei und die gesamte Familie sei in Gefahr gewesen. Von ihrem Ehemann und ihrem ältesten Sohn sei verlangt worden, dass sie kämpfen sollen. Mehr habe ihr der BF1 nicht erzählt, um sie nicht zu sehr zu beunruhigen. Für die minderjährigen Kinder, insbesondere die mittlerweile nachgeborene BF6, wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Die minderjährige BF3 wurde im Zuge der Befragungen durch die belangte Behörde am 03.07.2017 erstmals befragt. Dabei gab sie an, sie sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe sie auch bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihre gesamte Familie, mit Ausnahme einer Schwester, sei mit ihr nach Österreich gekommen. Zu ihren Fluchtgründen verwies die BF3 auf die Angaben ihrer Mutter, sie selbst habe nichts davon mitbekommen.

Die BF8 bestätigte bei ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde am 04.07.2017 ebenfalls ihre bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe sie auch bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihre gesamte Familie, mit Ausnahme einer Schwester und einem Bruder in Afghanistan sowie einer Enkelin in Schweden, sei mit ihr nach Österreich gekommen. Zu ihren Fluchtgründen gab die BF8 zusammengefasst an, sie habe dieselben Fluchtgründe wie BF1, mehr könne sie nicht angeben.

Auch BF9 bestätigte seine bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, er sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe er auch bis zu seiner Ausreise gelebt. Seine gesamte Familie, mit Ausnahme einer Schwester, sei mit ihm nach Österreich gekommen. Zu seinen Fluchtgründen gab der BF9 zusammengefasst an, seine gesamte Familie sei in Gefahr gewesen. Sie seien von einem Mann namens XXXX bedroht worden. Der BF9 bekomme bereits Angst, wenn er diesen Namen höre. Als er eines Tages von der Schule nach Hause gegangen sei, seien plötzlich mehrere mit Kalaschnikows bewaffnete Männer vor ihm gestanden und hätten ihn gefragt, ob er der Sohn des BF1 sei. Die Männer hätten gesagt, dass entweder dieser oder der BF9 sich der Gruppe anschließen müssten, sonst würde die ganze Familie ausgelöscht werden. Der BF9 habe nachträglich erfahren, dass auch BF1 mehrmals auf dieselbe Weise bedroht worden sei. Der BF9 sei in Panik gewesen und habe erst später seiner Mutter davon erzählen können. Daraufhin habe der BF9 nicht mehr zur Schule gehen können und einige Zeit später sei die Familie geflüchtet.

Auch BF10 bestätigte ihre bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, sie sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Dort habe sie auch bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihre gesamte Familie, mit Ausnahme einer Schwester, sei mit ihr nach Österreich gekommen. Zu ihren Fluchtgründen gab die BF10 zusammengefasst an, sie habe dieselben Fluchtgründe wie BF11 (Bedrohung durch mehrere Männer und Zwangsrekrutierung).

Schließlich bestätigte auch BF11 vor der belangten Behörde seine bisherigen Angaben im Verfahren und führte darüber hinaus aus, dass er sei in Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. Zu seinen Fluchtgründen gab der BF11 zusammengefasst an, er habe in Afghanistan zwar zunächst ein gutes Leben gehabt und es sei ihm finanziell gut gegangen. Er sei jedoch immer wieder von einem Mann namens XXXX und dessen Männern bedroht worden. Diese seien häufig zum Geschäft des BF11 gekommen und hätten ihn belästigt. Die Männer hätten verlangt, dass er sich ihnen anschließe und mit Waffen kämpfe, was BF11 nicht gewollt habe. Daraufhin sei er mit dem Tode bedroht worden. Das Leben sei immer schwieriger geworden, diese Männer hätten auch Waren aus seinem Geschäft ohne Bezahlung mitgenommen, weshalb die gesamte Familie geflohen sei.

4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden der belangten Behörde vom 22.09.2017 (BF1 und BF9), 23.09.2017 (BF2, BF3, BF4, und BF5), 25.09.2017 (BF6 und BF8), 28.09.2017 (BF10 und BF11) sowie 07.12.2018 (BF7) wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 27.09.2015 (BF1 - BF5, und BF8 – BF11) bzw. vom 09.08.2016 (BF6) und 26.09.2018 (BF7) hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen beträgt (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde traf Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu den Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates, zur Situation im Falle ihrer Rückkehr sowie zur Lage in Afghanistan.

Es sei keine individuelle Verfolgungssituation in Afghanistan glaubhaft gemacht worden und eine staatliche Verfolgung sei nicht ersichtlich. Für die minderjährigen BF seien keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht worden.

Eine Rückkehr nach Afghanistan sei den Beschwerdeführern möglich, da keine Umstände bekannt seien, dass jeder der dorthin zurückkehre einer Gefahr nach Art. 2 und Art. 3 EMRK ausgesetzt sei oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrsche, welche das Überleben sämtlicher dort lebenden Personen mangels Nahrung und Wohnraum in Frage stellen würde.

Im Anschluss unterzog die belangte Behörde den von ihr festgestellten Sachverhalt unter Bezugnahme auf die einzelnen Spruchpunkte der Bescheide einer rechtlichen Beurteilung.

5. Gegen diese Bescheide richten sich die (jeweils) fristgerecht erhobenen Beschwerden, mit denen die Bescheide wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts (unrichtige rechtliche Beurteilung) sowie Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften angefochten wurden. Im Wesentlichen wurden die bereits vorgebrachten Fluchtgründe wiederholt und konkretisiert. Weiters seien die Bescheide mangelhaft begründet. Darüber hinaus wurde eine „westliche Orientierung“ der weiblichen BF vorgebracht.

Die Beschwerdeführer beantragten, das Bundesverwaltungsgericht möge den Beschwerden Folge geben und die Bescheide dahingehend abändern, dass den Asylanträgen stattgegeben werde. In eventu wurde beantragt, den Beschwerdeführern den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig zu erklären und einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilen bzw. in eventu die bekämpften Bescheide zu beheben und an die belangte Behörde zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.

6. Die Beschwerden und die Verwaltungsakten langten am 25.10.2017 (BF1 – BF6 und BF8 – BF11) bzw. am 23.01.2019 (BF7) beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Die Beschwerdeführer erstatteten Stellungnahmen zur Sicherheitslage in Afghanistan und legten diverse Integrationsunterlagen vor.

8. Am 26.08.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer und ihr Rechtsvertreter teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde teilte mit Beschwerdevorlage mit, dass auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verzichtet werde.

Die volljährigen Beschwerdeführer und die mündige minderjährige BF3 wurden vom erkennenden Gericht eingehend zu ihrer Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu ihren Fluchtgründen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Im Zuge der Verhandlung wurden vom erkennenden Gericht auch weitere Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer in das Verfahren eingebracht. Den Beschwerdeführern wurden weiters zuvor gemeinsam mit den Ladungen Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan übermittelt. Die belangte Behörde erstattete dazu keine Stellungnahme. Die Beschwerdeführer gaben dazu bereits im Vorfeld der Verhandlung eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderberichten ab. Am Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage der Niederschriften über die Erstbefragungen der volljährigen BF, der Niederschriften über die weitere Einvernahme der volljährigen Beschwerdeführer und der mündigen minderjährigen BF3 durch die belangte Behörde, des Beschwerdevorbringens, der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie der Länderberichte zur Lage in Afghanistan, der dazu erstatteten Stellungnahme der Beschwerdeführer und der von ihnen vorgelegten Unterlagen werden folgende Feststellungen getroffen:

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsbürger, führen die im Spruch angegebenen Geburtsdaten, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zum sunnitischen Islam. Ihre Muttersprache ist Dari. BF1 und BF2 sind die Eltern von BF3 - BF7 bzw. BF9 und BF10. BF8 ist die Mutter von BF1 und BF11 ist der Ehemann von BF10.

BF1 – BF5 und BF8 – BF11 sind in Afghanistan in der Provinz Parwan, XXXX , geboren und aufgewachsen. BF1- BF5 sowie BF8 haben in Afghanistan im selben Haushalt gewohnt, BF10 und BF11 haben nach Ihrer Heirat etwa fünf Monate bis zur Ausreise gemeinsam im eigenen Haushalt im selben Dorf gelebt. BF6 und BF7 sind in Österreich geboren.

Der Vater des BF1 ist verstorben, seine Mutter (BF8) befindet sich in Wien, Österreich. Ein Bruder des BF1 ist verstorben, sonst hat er keine Geschwister. Er ist mit der BF2 traditionell islamisch verheiratet und hat sieben Kinder. Bis auf eine Tochter, welche als Asylwerberin in Schweden lebt, befinden sich alle Familienmitglieder des BF1 in Wien, Österreich (BF2 – BF11).

Der BF1 hat keine Schule besucht und ist Analphabet. Er hat in Afghanistan verschiedene Tätigkeiten in der Landwirtschaft und in einer Schneiderei ausgeübt.

Der Vater der BF2 ist verstorben, ihre Mutter lebt in Afghanistan Der Aufenthaltsort der Geschwister der BF2 sowie deren noch lebenden Onkel und Tanten kann nicht festgestellt werden. Sie ist mit dem BF1 traditionell islamisch verheiratet und hat sieben Kinder. Bis auf eine Tochter, welche als Asylwerberin in Schweden lebt, befinden sich alle Familienmitglieder der BF2 in Wien, Österreich (BF1 und BF3 – BF11).

Die BF2 hat keine Schule besucht und ist Analphabetin. Sie war in Afghanistan Hausfrau.

Sämtliche Familienmitglieder der BF3, mit Ausnahme einer Schwester, welche in Schweden lebt, leben in Wien, Österreich. BF3 hat in Afghanistan vier Jahre eine Schule besucht, sie war bis zu ihrer Flucht Schülerin.

Sämtliche Familienmitglieder von BF4 - BF7, sowie BF9 und BF10 mit Ausnahme einer Schwester, welche in Schweden lebt, leben in Wien, Österreich.

Die Eltern und der Ehemann der BF8 sind verstorben, ein Bruder und eine Schwester leben noch in Afghanistan, deren Aufenthaltsort kann nicht festgestellt werden. Mit Ausnahme einer Enkelin in Schweden leben alle Familienmitglieder der BF8 in Wien, Österreich (B1 - BF7 und BF10 und BF11). Die fast 70-jährige BF8 ist mutimorbid, Analphabetin und war in Afghanistan Hausfrau.

Der Vater des BF11 befindet sich in Indien, seine Mutter ist verstorben. Der BF11 hat drei Brüder und drei Schwester, deren Aufenthaltsort nicht festgestellt werden kann. Eine Schwester des BF11 ist verstorben. Sämtliche weitere Familienmitglieder des BF11 leben in Wien, Österreich. BF10 und BF11 haben wenige Monate vor ihrer Ausreise in Afghanistan geheiratet.

Die strafmündigen BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten, die minderjährigen Kinder (mit Ausnahme der BF3 und des BF4) sind strafunmündig.

Die Identitäten der BF1 - BF5 und BF8 - BF11 stehen nicht fest, jene von BF6 und BF7 stehen fest.

Die BF können bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht auf finanzielle Unterstützung durch ihre Angehörigen zählen.

Zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer begründeten ihre Anträge auf internationalen Schutz im Wesentlichen mit einer Verfolgung durch einen Mann namens XXXX bzw. dessen Gefolgsleuten, welcher im Heimatdorf der Beschwerdeführer sehr mächtig gewesen sei und Verbindungen zur afghanischen Regierung, insbesondere zum damaligen Außenminister XXXX , habe. XXXX habe BF1, BF9 und BF11 persönlich oder durch seine Gefolgsleute bedroht, um sie für den Kampf gegen die Taliban zu rekrutieren. Die weiblichen Beschwerdeführerinnen brachten im Wesentlichen die Lage der Frauen in Afghanistan als Fluchtgrund vor oder verwiesen auf die Fluchtgründe der männlichen Beschwerdeführer. Für die minderjährigen BF3 - BF7 wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung gab BF1 dazu an:

„Dort wo wir gelebt haben, musste man entweder bewaffnet sein oder irgendwelche Unterstützer seitens der Regierung haben, um überleben zu können. Sie können im Internet Recherche betreiben und Details herausfinden. Sie sagten, wir sollen uns ihnen anschließen. Einmal sind vier Personen in meinem Geschäft erschienen. Einige Zeit später erschienen zwei weitere Personen. Einige Zeit später, als ich auf dem Weg zur Arbeit war, ich fuhr immer mit dem Rad, da erschien XXXX und sagte mir, dass die Personen, die zuvor erschienen sind, ihm angehörten und er verlangte von mir, mich ihm anzuschließen. Ich sagte aber, dass nun der Monat Ramadan sei und danach das Fest und ich deshalb in der Schneiderei sehr viel zu tun hätte, denn für das Fest hätte ich sehr viele Aufträge und müsste viele Kleider nähen. Ich sagte ihm, sobald dies vorbei sei, würde ich zu ihm gehen. Ein Mann namens XXXX , der mit uns im Dorf gelebt hat, bedrohte mich und sagte, dass nun der Ramadan vorbei sei und das Fest ebenfalls und ich mich an mein Versprechen halten sollte. Er war ein sehr dünner Mann und man bezeichnete ihn als ‚Stock‘. Nach dieser Bedrohung, die am Abend stattfand, habe ich am nächsten Tag in der Früh meine Kinder genommen und habe das Dorf verlassen, denn diese Person hat jeden geschlagen, der ihm nicht gehorchte. In der Früh sind wir zuerst nach Jamschad Khel gegangen, von dort aus sind wir mit dem Bus nach Kabul gefahren.“

BF2 gab in der mündlichen Beschwerdeverhandlung dazu an:

„Jedes Mal, wenn mein Mann von der Arbeit nach Hause kam, war er sehr beunruhigt, bis ich ihn einmal danach gefragt habe. Er sagte mir darauf hin, dass wir ausreisen müssen, denn es ist gefährlich. Eines Tages würde unseren Kindern etwas geschehen. Ich hatte große Angst und dachte, dass uns etwas passieren würde.

Als mein Sohn nach Hause kam ist er davor sehr geschlagen worden und ich habe das gesehen. Er ist am Kopf und an der Schulter geschlagen worden. Das werde ich nie vergessen. Ich werde auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkehren, wegen meiner Kinder nicht. Sie können sich hier bilden und in Ruhe leben. Ich würde lieber sterben, als nach Afghanistan zurückzukehren.“

BF9 gab in der mündlichen Beschwerdeverhandlung dazu an:

„Ich kam von der Schule. Dort hatte ich um 12:30 Uhr aus. Ich war fast in der Mitte des Weges. Es kamen vier oder fünf Personen. In Afghanistan darf man nicht in die Augen von älteren Menschen schauen, das gilt als respektlos. Ich wollte weitergehen, aber sie kamen zu mir und haben mich gefragt, ob ich der Sohn des BF1 sei, ich bejahte dies. Sie haben gesagt: ‚Du musst deinem Vater sagen, dass wir es ernst meinen‘. Sie haben mich geschlagen. Zuerst haben sie mit einer Art Waffe auf mich gerichtet und dann haben sie mich verprügelt. Dann haben Sie gesagt, ich solle meinem Vater sagen, dass sie mich verprügelt haben. Danach war ich verletzt und ging nach Hause. Mein Mutter hat es gesehen und hat gesagt, dass ich es nicht meinem Vater erzählen solle. Ich weiß nicht, ob sie es ihm erzählt hat.“

BF11 gab in der mündlichen Beschwerdeverhandlung dazu an:

„Ich hatte ein Geschäft, was ich zuvor auch erwähnt habe. Zwei Männer von XXXX sind erschienen. Sie haben nicht einmal gegrüßt. Ein Auto stand vor dem Geschäft. Ich weiß nicht, wie viele Leute im Auto waren. Die zwei Leute sprachen mich an und sagten, ich solle mich ihrer Gruppe anschließen. Ich hatte aber kein großes Interesse daran und ich sagte ihnen, dass ich mit meinen Geschäften beschäftigt sei. Sie nahmen sich einige Lebensmittel, ohne dafür zu bezahlen und sagten, dass sie mir eine Chance geben würden, mir dies zu überlegen. Ich hätte mein Leben selbst in der Hand. Sollte ich mich dagegen entscheiden, dann wären das die letzten Momente meines Lebens.

Das zweite Mal erschienen wieder zwei Personen und eine Person war auch beim ersten Mal da. Er fragte mich, wie ich mich entschieden hätte. Ihr Umgang war sehr scharf. Sie haben die Lebensmittel mit ihren Füßen getreten und sie sagten auch, dass ich bei ihnen mehr verdienen würde als in meinem Geschäft. Ich sagte ihnen, dass ich mit meiner Arbeit zufrieden sei und eine Familie hätte und Zeit benötigen würde, um das Ganze zu überdenken. Sie nahmen wieder Lebensmittel mit, ohne dafür zu bezahlen.

Eine Woche später, nach den ersten beiden Bedrohungen, sind sie wiedergekommen. Das ist schon vier Jahre her, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Wenn eine Gruppe einen auffordert, sich ihnen anzuschließen, dann wird man getötet, wenn man sich anschließt oder auch, wenn man es ablehnt. Als sie das dritte Mal erschienen, sagte ich ihnen, dass nun der Monat Ramadan sei und ich gerne diesen Monat abwarten würde. Meinem Schwiegervater erzählte ich von der ersten Bedrohung nichts, erst von der zweiten. Nach dem Monat Ramadan haben wir beschlossen, unsere Heimat zu verlassen, denn diese Bedrohungen waren ernst zu nehmen, vor allem die dritte.“

Die anderen Beschwerdeführer hatten keine eigenen Wahrnehmungen zu diesen Bedrohungen.

Zu den geltend gemachten Fluchtgründen wird vom erkennenden Gericht Folgendes festgehalten:

Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan in asylrelevanter Intensität einer Verfolgung durch einen Mann namens XXXX , welcher Verbindungen zur afghanischen Regierung hat, welche bis zum damaligen afghanischen Außenminister und jetzigen Regierungschef, XXXX , reicht, bzw. seinen Gefolgsleuten ausgesetzt waren und dass ihnen eine derartige Verfolgung bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht. Zwar handelt es sich dabei um eine von einer privaten Gruppierung ausgehenden Verfolgung, sie beruht jedoch auf die den Beschwerdeführern in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer Familie von der Gruppierung unterstellte politische bzw. religiöse Gesinnung (Weigerung, die Gruppierung im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen) und der Staat Afghanistan ist nicht in der Lage, den Beschwerdeführern ausreichenden Schutz zu gewähren.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wären die Beschwerdeführer in Gefahr, aufgrund ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Diese Bedrohung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

Zur Lage in Afghanistan:

Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o.D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, 'Kammer des Volkes’, genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch ‘Ältestenrat’ oder ‘Senat’ genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o.D.). Der Terminus ‘Partei’ umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für ‘vergangene politische und militärische’ Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle ‘Coalition for the Salvation of Afghanistan’, auch ‘Ankara Coalition’ genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People‘s Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. ‘Sicherheitslage’).

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine ‘Amnestie’. In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen – insbesondere die Taliban – ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Taliban

Die Taliban führten auch ihre Offensive ‘Mansouri’ weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer ‘Regierungsführung’ der Taliban (Engl. ‘governance’) bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser ‘Kampfsaison’ laut US-Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017).

Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Aufgrund der Komplexität der in Selbstmord- und komplexen Anschlägen involvierten Akteure hat die UNAMA oft Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zivilen Opfer spezifischen regierungsfreundlichen Gruppierungen zuzuschreiben, wenn keine Erklärungen zur Verantwortungsübernahme abgegeben wurde. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht – es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (UNAMA 2.2018).

Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US-amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld – insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friendens-Konferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala zu abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).

Die Taliban geben im Kurznachrichtendienst Twitter Angaben zu ihren Opfern oder Angriffen (FAZ 19.10.2017; vgl. Pajhwok 13.3.2018). Ihre Angaben sind allerdings oft übertrieben (FAZ 19.10.2017). Auch ist es sehr schwierig Ansprüche und Bekennermeldungen zu verifizieren – dies gilt sowohl für Taliban als auch für den IS (AAN 5.2.2018).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Höchst umstritten ist von Expert/innen die Größe und die Gefahr, die vom IS ausgeht. So wird von US-amerikanischen Sicherheitsbeamten und weiteren Länderexpert/innen die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan mit zwischen 500 und 5.000 Kämpfern beziffert. Jeglicher Versuch die tatsächliche Stärke einzuschätzen, wird durch den Umstand erschwert, dass sich die Loyalität der bewaffneten radikalen Islamisten oftmals monatlich oder gar wöchentlich ändert, je nach ideologischer Wende, Finanzierung und Kampfsituation (WSJ 21.3.2018). Auch wurde die afghanische Regierung bezichtigt, die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan aufzublasen (Tolonews 10.1.2018). Zusätzlich ist wenig über die Gruppierung und deren Kapazität, komplexe Angriffe auszuführen, bekannt. Viele afghanische und westliche Sicherheitsbeamte bezweifeln, dass die Gruppierung alleine arbeitet (Reuters 9.3.2018).

Die Fähigkeiten und der Einfluss des IS sind seit seiner Erscheinung im Jahr 2015 zurückgegangen. Operationen durch die ANDSF und die US-Amerikaner, Druck durch die Taliban und Schwierigkeiten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, störten das Wachstum des IS und verringerten dessen Operationskapazitäten. Trotz erheblicher Verluste von Territorium, Kämpfern und hochrangigen Führern, bleibt der IS nach wie vor eine Gefährdung für die Sicherheit in Afghanistan und in der Region. Er ist dazu in der Lage, öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) in städtischen Zentren zu verüben (USDOD 12.2017). Der IS hat sich nämlich in den vergangenen Monaten zu einer Anzahl tödlicher Angriffe in unterschiedlichen Teilen des Landes bekannt – inklusive der Hauptstadt. Dies schürte die Angst, der IS könne an Kraft gewinnen (VoA 10.1.2018; vgl. AJ 30.4.2018). Auch haben örtliche IS-Gruppen die Verantwortung für Angriffe auf Schiiten im ganzen Land übernommen (USDOD 12.2017).

Im Jahr 2017 wurden dem IS 1.000 zivile Opfer (399 Tote und 601 Verletzte) zugeschrieben sowie die Entführung von 81 Personen; er war damit laut UNAMA für 10% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich – eine Zunahme von insgesamt 11% im Vergleich zum Jahr 2016. Im Jahr 2017 hat sich der IS zu insgesamt 18 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen oder zivile Objekte bekannt (UNAMA 2.2018); er agiert wahllos – greift Einrichtungen der afghanischen Regierung und der Koalitionskräfte an (AAN 5.2.2018), aber auch ausländische Botschaften (UNAMA 2.2.018). Fast ein Drittel der Angriffe des IS zielen auf schiitische Muslime ab (UNAMA 2.2018; vgl. AAN 5.2.2018) – sechs Angriffe waren auf schiitische Glaubensstätten (UNAMA 2.2018). Der IS begründet seine Angriffe auf die schiitische Gemeinschaft damit, dass deren Mitglieder im Kampf gegen den IS im Mittleren Osten involviert sind (AAN 5.2.2018).

Zusätzlich dokumentierte die UNAMA im Jahr 2017 27 zivile Opfer (24 Tote und drei Verletzte) sowie die Entführung von 41 Zivilist/innen, die von selbsternannten IS-Anhängern in Ghor, Jawzjan und Sar-e Pul ausgeführt wurden. Diese Anhänger haben keine offensichtliche Verbindung zu dem IS in der Provinz Nangarhar (UNAMA 2.2018).

Der IS rekrutierte auf niedriger Ebene und verteilte Propagandamaterial in vielen Provinzen Afghanistans. Führung, Kontrolle und Finanzierung des Kern-IS aus dem Irak und Syrien ist eingeschränkt, wenngleich der IS in Afghanistan nachhaltig auf externe Finanzierung angewiesen ist, sowie Schwierigkeiten hat, Finanzierungsströme in Afghanistan zu finden. Dieses Ressourcenproblem hat den IS in einen Konflikt mit den Taliban und anderen Gruppierungen gebracht, die um den Gewinn von illegalen Kontrollpunkten und den Handel mit illegalen Waren wetteifern. Der IS bezieht auch weiterhin seine Mitglieder aus unzufriedenen TTP-Kämpfern (Tehreek-e Taliban in Pakistan – TTP), ehemaligen afghanischen Taliban und anderen Aufständischen, die meinen, der Anschluss an den IS und ihm die Treue zu schwören, würde ihre Interessen vorantreiben (USDOD 12.2017).

Auch ist der IS nicht länger der wirtschaftliche Magnet für arbeitslose und arme Jugendliche in Ostafghanistan, der er einst war. Die Tötungen von IS-Führern im letzten Jahr (2017) durch die afghanischen und internationalen Kräfte haben dem IS einen harten Schlag versetzt, auch um Zugang zu finanziellen Mitteln im Mittleren Osten zu erhalten. Finanziell angeschlagen und mit wenigen Ressourcen, ist der IS in Afghanistan nun auf der Suche nach anderen Möglichkeiten des finanziellen Überlebens (AN 6.3.2018).

Haqqani-Netzwerk

Der Gründer des Haqqani-Netzwerkes – Jalaluddin Haqqani – hat aufgrund schlechter Gesundheit die operationale Kontrolle über das Netzwerk an seinen Sohn Sirajuddin Haqqani übergeben, der gleichzeitig der stellvertretende Führer der Taliban ist (VoA 1.7.2017). Als Stellvertreter der Taliban wurde die Rolle von Sirajuddin Haqqani innerhalb der Taliban verfestigt. Diese Rolle erlaubte dem Haqqani-Netzwerk seinen Operationsbereich in Afghanistan zu erweitern und lieferte den Taliban zusätzliche Fähigkeiten in den Bereichen Planung und Operation (USDOD 12.2017).

Von dem Netzwerk wird angenommen, aus den FATA-Gebieten (Federally Administered Tribal Areas) in Pakistan zu operieren. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge soll das Netzwerk zwischen 3.000 und 10.000 Mitglieder haben. Dem Netzwerk wird nachgesagt finanziell von unterschiedlichen Quellen unterstützt zu werden – inklusive reichen Personen aus den arabischen Golfstaaten (VoA 1.7.2017).

Zusätzlich zu der Verbindung mit den Taliban, hat das Netzwerk mit mehreren anderen Aufständischen Gruppierungen, inklusive al-Qaida, der Tehreek-e Taliban in Pakistan (TTP), der Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) und der ebenso in Pakistan ansässigen Lashkar-e-Taiba (VoA 1.7.2017).

Sowohl die afghanische, als auch die US-amerikanische Regierung haben Pakistan in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, keine eindeutigen Maßnahmen gegen terroristische Elemente zu ergreifen, die darauf abzielen, die Region zu destabilisieren – zu diesen Elementen zählen auch die Taliban und das Haqqani-Netzwerk (RFE/RL 23.3.2018; vgl. AJ 8.3.2018, UNGASC 27.2.2018).

Al-Qaida

Al-Qaida konzentriert sich hauptsächlich auf das eigene Überleben und seine Bemühungen sich selbst zu erneuern. Die Organisation hat eine nachhaltige Präsenz in Ost- und Nordostafghanistan, mit kleineren Elementen im Südosten. Manche Taliban in den unteren und mittleren Rängen unterstützen die Organisation eingeschränkt. Nichtsdestotrotz konnte zwischen 1.6.-20.11.2017 keine Intensivierung der Beziehung zu den Taliban auf einem strategischen Niveau registriert werden (USDOD 12.2017).

3.26. Parwan

Die strategisch bedeutsame Provinz Parwan liegt 64 km nördlich von Kabul (Pajhwok o.D.a). Die Provinz grenzt im Norden an Baghlan, im Osten an Panjshir und Kapisa, im Süden an Kabul und (Maidan) Wardak und im Westen an (Maidan) Wardak und Bamyan (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: Bagram, Jabal Saraj/Jabalussaraj, Salang, Sayed Khel/Saydkhel, Shinwar/Shinwari, Shikh Ali/Shekhali, Shurk Parsha/Surkh-e-Parsa, Charikar, Koh-e-Safi und Syiah Gird/Seyagerd/Ghorband (Pajhwok o.D.b, vgl. UN OCHA 4.2014, NPS o.D., LWJ 10.11.2017). Charikar ist die Provinzhauptstadt (Pajhwok o.D.b). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 687.243 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Quizilbasch, Kuchi und Hazara (NPS o.D.).

Im Distrikt Bagram gibt es einen Militärflughafen (vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation, Kapitel 3.35.). Das Bagram Airfield liegt in der Provinz Parwan (VoA 1.2.2017; vgl. LWJ 12.11.2016); es ist der größte US-amerikanische militärische Stützpunkt der Provinz und ist manchmal von „high-profile“-Angriffen durch Aufständische betroffen (FP 20.6.2017; vgl. NYT 20.6.2017).

Ein Abschnitt der Autobahn Kabul-Bamyan verbindet die Provinz mit Kabul und weiter mit anderen Provinzen (Khaama Press 2.11.2015; vgl. Pajhwok 1.3.2017). Die Provinzhauptstadt von Parwan, Charikar, ist durch die Kabul-Charikar Road, auch „A76“ genannt, mit Kabul verbunden (UN Habitat 3.2016).

In der Provinz werden Programme des Afghan Rural Enterprise Development Program (AREDP) zur Förderung der ländlichen Bevölkerung implementiert; zahlreiche Frauen profitieren von diesen Maßnahmen (Reliefweb 3.10.2017).

Parwan gehört zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans (UNODC 11.2017).

Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage

Parwan gehört zu den volatilen Provinzen Afghanistans, in der Talibanaufständische in einigen abgelegenen Distrikten aktiv sind (TN 22.2.2018; vgl. Khaama Press 22.2.2018, Khaama Press 15.11.2017, Khaama Press 9.5.2017, OI 9.5.2017). Aus unruhigen Distrikten in der Provinz Parwan wird von Straßenbomben, Selbstmordangriffen, gezielten Tötungen und anderen terroristischen Angriffen berichtet. Deshalb werden Anti-Terrorismus Operationen durchgeführt, um die Aufständischen zu verdrängen (Khaama Press 22.2.2018). Talibanaufständische führen in einigen Teilen der Provinz Angriffe auf die Sicherheitskräfte aus (ATN 6.2.2018; vgl. AP 6.9.2017, AJ 20.7.2017).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 63 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 77 zivile Opfer (20 getötete Zivilisten und 57 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenoffensiven. Dies bedeutet einen Rückgang von 31% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Militärische Operationen in Parwan

Militärische Operationen werden in der Provinz durchgeführt (Tolonews 6.2.2018; vgl. Tolonews 20.12.2017, Tolonews 9.12.2017, Tolonews 4.10.2017, Tolonews 2.10.2017); dabei werden Talibankämpfer getötet (Tolonews 6.2.2018) und Waffen gefunden (Tolonews 9.12.2017). Auch werden Luftangriffe durchgeführt (Tolonews 2.10.2017). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Taliban finden statt (Tolonews 30.9.2017; vgl. Tolonews 29.9.2017, Tolonews 27.7.2017, Tolonews 8.7.2017).

Regierunsfeindliche Gruppierungen

Talibanaufständische sind in abgelegenen Distrikten der Provinz Parwan aktiv (Khaama Press 15.11.2017; vgl. Tolonews 30.9.2017, Khaama Press 9.5.2017). Die Distrikte Seyagerd/Ghorband und Shinwari zählten im November 2017 zu den umkämpften Distrikten der Provinz (LWJ 10.11.2017; vgl. Tolonews 2.10.2017, NYT 1.10.2017).

Im Zeitraum 1.1.2017 – 15.7.2017 wurden in der Provinz Parwan IS-bezogene Vorfälle (Gefechte) an der Grenze zu Kabul registriert; zwischen 16.7.2017 – 31.1.2018 wurden in der Provinz hingegen keine sicherheitsrelevanten Ereignisse bzgl. des IS gemeldet (ACLED 23.2.2018).

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council – AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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