TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/20 G305 2238453-1

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Veröffentlicht am 20.01.2021
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Entscheidungsdatum

20.01.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76

Spruch


G305 2238453-1/12E

SCHRIFTLICHE AUSERFERTIGUNG DES AM 15.01.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Ernst MAIER, MAS über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistung GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD XXXX , vom XXXX .12.2020, Zl. XXXX , über die Anordnung der Schubhaft, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX .2021 zu Recht erkannt:

A)

In teilweiser Stattgebung der Beschwerde wird die seit XXXX .2020 anhaltende Schubhaft ab XXXX .2020 für unrechtmäßig erklärt und mit diesem Tag aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion XXXX , wurde gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 iVm. § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm. § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Überstellungsverfahrens über XXXX , geb. am XXXX , StA: Afghanistan (in der Folge: Beschwerdeführer oder kurz: BF) angeordnet.

2. Gegen diesen, ihm am selben Tag durch Übergabe persönlich zugestellten Bescheid brachte der BF am XXXX .2021 innerhalb offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde ein, die er mit den Anträgen auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Klärung des maßgeblichen Sachverhalts, auf Behebung des angefochtenen Bescheides und Verbindung mit dem Ausspruch, dass die bisherige Anhaltung in Schubhaft in rechtswidriger Weise erfolgt sei, und dass im Rahmen einer „Habeas Corpus Prüfung“ ausgesprochen werden möge, dass die Voraussetzungen zur weiteren Anhaltung des Beschwerdeführers nicht vorliegen und dass der belangten Behörde der Ersatz der Aufwendungen des BF gem. VwG-Aufwandersatz, der Kommissionsgebühren und Barauslagen, für die der BF aufzukommen hat, aufzuerlegen sei.

Er begründete die Beschwerde im Wesentlichen kurz zusammengefasst damit, dass die belangte Behörde vorliegend zu Unrecht vom Bestehen einer Fluchtgefahr ausgegangen wäre. Er habe sich bislang stets kooperativ verhalten und sei schon bei Durchsicht des Aktes bzw. genauer Würdigung des Sachverhalts schlicht nicht nachvollziehbar gewesen, wie die belangte Behörde zum Schluss kommt, dass gegenständlich Fluchtgefahr vorliege. Eine nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung habe die belangte Behörde nicht vorgenommen. Alternativ sei die Anwendung gelinderer Mittel (wie etwa die angeordnete Unterkunftsnahme oder eine periodische Meldeverpflichtung) zur Sicherung der Abschiebung ausreichend. Zudem habe er am XXXX .2020 im Stande der Schubhaft einen Asylantrag gestellt, wodurch ein Bleiberecht iSd Verfahrensrichtlinie entstanden sei. Bis zur neuerlichen Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung könne er nicht abgeschoben werden.

3. Am XXXX .2021 wurde eine mündliche Verhandlung in Abwesenheit des BF, jedoch in Anwesenheit seiner Rechtsvertreterin und eines Vertreters der belangten Behörde durchgeführt. Im Rahmen dieser mündlichen Verhandlung zog die Rechtsvertreterin des BF den in der Beschwerde gegen den Bescheid vom XXXX .2020 gestellten Antrag auf Zuspruch des Kostenersatzes zurück. Seitens der belangten Behörde wurde ein solcher Antrag nicht gestellt. Nach durchgeführter Verhandlung wurde das unter einem schriftlich ausgefertigte Erkenntnis mündlich verkündet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF führt die im Spruch angeführte Identität (Name und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger von Afghanistan.

1.2. Er ist nicht im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft und somit Fremder im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 1 FPG BGBl. I Nr. 100/2005 idF. BGBl. I Nr. 56/2018.

1.3. Er ist am XXXX .2020 von Italien kommend - unter Umgehung der Einreisebestimmungen - ins Bundesgebiet eingereist. Da er in Italien keine Arbeit gefunden hatte, beabsichtigte er, in die Schweiz weiterzureisen, um dort Arbeit zu finden.

1.4. Um 12:55 Uhr dieses Tages wurde er im Zuge einer Fremdenkontrolle in XXXX aufgegriffen und niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen seiner Einvernahme wurde er (bloß) zu seiner Reiseroute befragt, weiters danach, ob er Verwandte in Österreich hat und über den mitgeführten Geldbetrag. Weitere Fragen stellten die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nicht (Niederschrift der LPD XXXX vom XXXX .2020).

In der Folge wurde der BF festgenommen und in Schubhaft überstellt, die gegenwärtig im XXXX vollzogen wird (VH-Niederschrift vom XXXX .2021, S. 3 oben).

1.5. Anlässlich einer von der belangten Behörde amtswegig durchgeführten Erhebung kam hervor, dass zwar ein EURODAC-Treffer der Kategorie 2 für Italien vorliegt. Der BF hat weder dort, noch in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt (BehV in VH-Niederschrift vom XXXX .2021, S. 3 unten).

1.6. Am XXXX .2020 stellte der BF im Stande der Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei handelt es sich nicht um einen Folgeantrag. Das Verfahren über seinen Asylantrag ist ergebnisoffen (BehH in VH-Niederschrift vom XXXX .2021, S. 4 oben).

1.7. Parallel zu dem in Österreich vor der belangten Behörde anhängig gemachten Asylverfahren hat die Behörde am XXXX .2021 ein Konsultationsverfahren mit Italien in Hinblick auf die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-VO) aufgenommen. Eine Reaktion steht bis laufend aus (BehV in VH-Niederschrift vom XXXX .2021, S. 4 Mitte).

1.8. Der BF hat weder wirtschaftliche, noch persönliche Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet (Niederschrift des BFA vom XXXX .2020, S. 3 Pkt. 5).

1.9. Zudem verfügt er weder über Immobilienbesitz im Bundesgebiet, noch über nennenswerte Barmittel, noch über eine (nicht nur vorübergehende) Unterkunft, die die Grundlage für einen legalen Aufenthalt bilden könnten (ZMR-Abfrage; VH-Niederschrift vom XXXX .2021).

1.10. Er ist im Bundesgebiet aus strafrechtlicher Sicht bis dato unbescholten. Anlassbezogen ist auch nicht hervorgekommen, dass er in einem der europäischen Mitgliedsstaaten, hier allen voran Italien, jemals Adressat von Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden bzw. einer strafgerichtlichen Verurteilung gewesen wäre.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unstrittigen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG, sowie auf den Angaben des Behördenvertreters in der am XXXX .2021 stattgehabten mündlichen Verhandlung.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Teilweise Stattgebung der Beschwerde:

3.1.1. Die belangte Behörde hat mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid vom XXXX .2020, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: XXXX , ausgesprochen, dass über den Beschwerdeführer gem. Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung iVm § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm. § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft über den BF angeordnet werde.

In der dagegen erhobenen Beschwerde wandte der BF ein, dass ihm wegen des am XXXX .2020 im Stande der Schubhaft gestellten Antrages auf Gewährung von internationalem Schutz gemäß § 3 AsylG in Hinblick auf seinen Herkunftsstaat ein Bleiberecht zukomme und faktischer Abschiebeschutz bestehe.

3.2. Für den gegenständlichen Anlassfall sind nachstehende Bestimmungen anzuwenden:

Die von der belangten Behörde herangezogene Bestimmung des Art. 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 lautet wörtlich wie folgt:

„Artikel 28

Haft

(1) Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt.

(2) Zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren, dürfen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Verordnung, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, nach einer Einzelfallprüfung die entsprechende Person in Haft nehmen und nur im Falle dass Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3) Die Haft hat so kurz wie möglich zu sein und nicht länger zu sein, als bei angemessener Handlungsweise notwendig ist, um die erforderlichen Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen, bis die Überstellung gemäß dieser Verordnung durchgeführt wird.

Wird eine Person nach diesem Artikel in Haft genommen, so darf die Frist für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs einen Monat ab der Stellung des Antrags nicht überschreiten. Der Mitgliedstaat, der das Verfahren gemäß dieser Verordnung durchführt, ersucht in derartigen Fällen um eine dringende Antwort. Diese Antwort erfolgt spätestens zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs. Wird innerhalb der Frist von zwei Wochen keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

Befindet sich eine Person nach diesem Artikel in Haft, so erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald diese praktisch durchführbar ist und spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Artikel 27 Absatz 3 keine aufschiebende Wirkung mehr hat.

Hält der ersuchende Mitgliedstaat die Fristen für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs nicht ein oder findet die Überstellung nicht innerhalb des Zeitraums von sechs Wochen im Sinne des Unterabsatz 3 statt, wird die Person nicht länger in Haft gehalten. Die Artikel 21, 23, 24 und 29 gelten weiterhin entsprechend.

(4) Hinsichtlich der Haftbedingungen und der Garantien für in Haft befindliche Personen gelten zwecks Absicherung der Verfahren für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, die Artikel 9, 10 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU.“

Die Bestimmung des § 76 FPG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF. BGBl. I Nr. 56/2018 hat folgenden Wortlaut:

„Schubhaft

§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z 1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.“

Gemäß § 76 Abs. 2 Z 3 FPG darf eine Schubhaft nur angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 der Dublin-Verordnung vorliegen.

Gemäß Art 28 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 dürfen Mitgliedsstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft nehmen, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt. Gemäß Abs. 2 dürfen die Mitgliedstaaten zur Sicherstellung von Überstellungsverfahren, die betreffende Person nach durchgeführter Einzelfallprüfung in Haft nehmen, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, und nur im Falle, dass Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

Gemäß § 76 Abs. 2a FPG ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

3.2.1. Umgelegt auf den gegenständlichen Beschwerdefall bedeutet dies:

Der im Schengenraum nicht zum Aufenthalt berechtigt gewesene Beschwerdeführer ist am XXXX .2020 unter Umgehung der Einreisebestimmungen ins Bundesgebiet eingereist, um auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz weiterzureisen. Nach erfolgter fremdenbehördlicher Kontrolle und niederschriftlicher Einvernahme wurde er festgenommen und in der Folge in Schubhaft genommen. Im Zeitpunkt seiner Betretung verfügte er nicht über die für einen legalen Aufenthalt im Schengenraum bzw. im Gebiet der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union notwendigen Ausweisdokumente. Zudem hatte er weder in Österreich, noch in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union eine eigene Unterkunft. In Österreich verfügt er weder über familiäre, noch über nennenswerte private Bindungen. Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme einer sozialen Verankerung oder einer umfassenden Integration in Österreich fehlen zur Gänze. Zudem verfügt er im Bundesgebiet weder über Immobilienbesitz, noch über Ersparnisse, die ihm einen legalen Aufenthalt ermöglichen könnten.

Am XXXX .2020, 14:30 Uhr, stellte er im Stande der Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz gem. § 3 und § 8 AsylG in Hinblick auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan. Das in Österreich anhängig gemachte Asylverfahren ist ergebnisoffen. Anlassbezogen ist nicht hervorgekommen, dass der BF, wie es der Behördenvertreter in der am XXXX .2021 stattgehabten mündlichen Verhandlung vermeinte, einen missbräuchlichen Asylantrag gestellt hätte. Abgesehen davon, dass die belangte Behörde - entgegen der üblichen Praxis, über einen Asylantrag unmittelbar nach Durchführung der niederschriftlichen Einvernahme des Antragstellers zu entscheiden - bis dato noch keine Entscheidung über den auf die Gewährung von internationalem Schutz gerichteten Antrag erlassen hat, liegt auch eine effektuierbare Rückkehrentscheidung nicht vor.

Zwar ist der BF von Italien kommend ins Bundesgebiet eingereist und gibt es dort auch einen ihn betreffenden EURODAC-Treffer vom XXXX .2020, doch handelt es sich dabei um einen solchen der Kategorie 2, der belegt, dass der BF in Italien keinen Asylantrag gestellt hat. Er hat auch in keinem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (sieht man von Österreich ab) einen Antrag auf Zuerkennung von internationalem Schutz in Hinblick auf den Herkunftsstaat gestellt. Ebensowenig liegt ein Hinweis auf eine aufrechte Aufenthaltsbewilligung für einen europäischen Mitgliedsstaat vor [BehV in VH-Niederschrift vom XXXX .2021, S. 3 unten].

Darüber hinaus liegt gegen ihn weder in Österreich noch in Italien eine strafrechtliche Verurteilung vor, sodass der Schutz seiner persönlichen Freiheit das Interesse am Vollzug des Fremdenrechts überwiegt. Gemäß § 76 Abs. 2a FPG ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet im Zeitraum XXXX .2020 bis XXXX .2020 (dem Tag der Asylantragstellung) illegal war, weshalb die Verhängung der Schubhaft zunächst rechtmäßig war.

Im Falle der Stellung eines Asylantrages aus der Schubhaft iSd § 76 Abs. 6 FPG darf diese nur aufrechterhalten werden, wenn Missbrauchsabsicht greifbar ist. Der darüber zu erstellende Aktenvermerk beseitigt den für den Schubhaftbescheid maßgeblichen Rechtsgrund; eine Schubhaftbeschwerde muss sich daher am geänderten Sachverhalt orientieren (vgl Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 76 FPG 2005 Anm 32 (rdb.at)).

Eine Fortsetzung der Schubhaft nach erfolgter Asylantragstellung erscheint nach Maßgabe der in § 76 Abs. 6 FPG normierten Voraussetzungen im Anwendungsbereich der Aufnahme-Richtlinie als bedenklich. Umgekehrt liegt die Bindung der Aufrechterhaltung einer - offenkundig wegen Fluchtgefahr verhängten - Schubhaft bei nachträglicher Asylantragstellung an die in § 76 Abs. 6 FPG im Wesentlichen in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL normierten weiteren Voraussetzungen (insbesondere das Vorliegen einer Umgehungsabsicht) schon innerstaatlich die Deutung nahe, dass Fluchtgefahr als solche, ohne Hinzutreten weiterer Gesichtspunkte, Schubhaft gegenüber Asylwerbern (außerhalb von „Dublin-Konstellationen“) nicht zu rechtfertigen vermag (vgl VwGH vom 05.10.2017, Ro 2017/21/0009).

Der BF hat gegenständlich am XXXX .2020, sohin im Stande der Schubhaft, seinen (ersten) Asylantrag gestellt (die EURODAC-Anfrage verlief ergebnislos). Es handelt sich dabei nicht um einen Folgeantrag. Anlassbezogen kann nicht ersehen werden, dass der Asylantrag in Missbrauchsabsicht gestellt worden sein könnte.

Beim Asylantrag des BF vom XXXX .2020 handelt es sich um einen Erstantrag, über den die belangte Behörde bisher nicht abgesprochen hat Der Inhalt der Entscheidung der belangten Behörde kann nicht vorhergesehen werden.

Damit liegt gegen den Beschwerdeführer eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung nicht vor.

Gemäß § 12 Abs. 1 AsylG kann ein Fremder, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, außer in den Fällen des § 12a leg. cit. - diese im vorliegen Fall nicht relevante Bestimmung betrifft ausschließlich den faktischen Abschiebeschutz bei Asylfolgeanträgen - bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder nach einer Einstellung bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 24 Abs. 2 leg. cit. nicht mehr zulässig ist, weder zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben werden (faktischer Abschiebeschutz). Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet erweist sich vom Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft am XXXX .2020 bis zur Asylantragstellung am XXXX .2020 als illegal und erweist sich die Schubhaft im angeführten Zeitraum als berechtigt. Ab dem Zeitpunkt der Asylantragstellung ( XXXX .2020) erweist sich sein Aufenthalt als zulässig und sind die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Gründe ab diesem Zeitpunkt weggefallen.

Gemäß § 13 Abs. 1 AsylG ist ein Asylwerber, dessen Asylverfahren zugelassen ist, bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Einstellung oder Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder bis zum Verlust des Aufenthaltsrechtes (Abs. 2) zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein auf Grund anderer Bundesgesetze bestehendes Aufenthaltsrecht bleibt unberührt.

Die Zulassung zum und damit einhergehend die Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet kann denklogisch nicht schon vor der Asylantragstellung gegeben sein.

Daraus folgt, dass anlassbezogen die Anhaltung des BF in Schubhaft bis zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung (sohin vom XXXX .2020 bis zum XXXX .2020) unter Berücksichtigung der oben genannten Umstände berechtigt war und die Gründe für seine Anhaltung in Schubhaft erst mit der Asylantragstellung weggefallen sind.

Die Fortsetzung der Schubhaft gegen den BF ab dem XXXX .2020 (Zeitpunkt der Asylantragstellung) kommt daher nicht in Betracht (vgl etwa VwGH vom 19.09.2019, Ra 2019/21/0204).

Anhaltspunkte in Hinblick auf das Bestehen einer etwaigen Fluchtgefahr oder einer mangelnden Kooperationsbereitschaft mit den für den Vollzug des Fremdenrechts zuständigen Behörden konnte anlassbezogen nicht objektiviert werden.

3.2.2. Von den Verfahrensparteien hat lediglich der BF einen Antrag auf Zuerkennung der ihm erwachsenen Kosten gestellt, jedoch wurde dieser Antrag in der am XXXX .2021 durchgeführten mündlichen Verhandlung zurückgezogen.

Die belangte Behörde hat keinen Antrag auf Ersatz ihrer Aufwendungen gestellt.

Aus diesem Grunde kann ein Abspruch über einen Antrag auf Ersatz der Aufwendungen entfallen.

3.3. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B.):

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.

Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der einschlägigen Erkenntnisse des VwGH vom 19.02.2015, Zl. Ro 2013/21/0075, vom 23.04.2015, Zl. Ro 2014/21/0077, und vom 19.05.2015, Zl. Ro 2014/21/0071, sowie auch der die Schubhaft betreffenden Erkenntnisse des VfGH vom 12.03.2015, G 151/2014 ua., und E 4/2014.

Schlagworte

Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G305.2238453.1.00

Im RIS seit

11.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.03.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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