TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/21 W140 2127284-1

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Entscheidungsdatum

21.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W140 2127284-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Alice HÖLLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst - ARGE Rechtsberatung, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.05.2016, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.11.2016 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 15.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am Folgetag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Am 26.04.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seiner Asylantragstellung niederschriftlich einvernommen. Mit Bescheid vom 09.05.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 15.05.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II). Dem BF wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 09.05.2017 erteilt (Spruchpunkt III). Der BF erhob fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.11.2016 eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ein Dolmetscher für die Sprache Dari und der Vertreter des BF teilnahmen. Das BFA blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

Die Verhandlung gestaltete sich u. a. wie folgt:

„R: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

BF: Afghanistan.

R: Woher aus Afghanistan stammen Sie?

BF: Ich bin aus Ghazni.

R: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren

Geburtsort sowie Ihre Staatsangehörigkeit.

BF: Ich XXXX , ich bin am XXXX in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX ,

im Dorf XXXX geboren.

R: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Hazara.

R: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin Moslem und Schiite.

R: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in

einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Nein.

R: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?

BF: Nein.

R: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

R: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich bin acht Jahre in die Schule gegangen, ich verfüge über keine Berufsausbildung.

R: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist

für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen? Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?

BF: Mein älterer Bruder hat für die Familie gesorgt und er sorgt nach wie vor für diese.

R: Haben Sie noch Familienangehörige in Afghanistan? Wenn ja, wo? Wovon lebt ihre

Familie?

Haben Sie Kontakt zu Ihren Familienangehörigen?

BF: In Afghanistan leben mein Vater, meine Mutter, zwei meiner Brüder und meine drei

Schwestern. Zwei Schwestern sind verheiratet und leben bei ihren Familien, eine davon in

Helmand. Ich habe einen weiteren Bruder, der im Iran lebt und dort arbeitet. Er finanziert

den Lebensunterhalt meiner Familie.

R: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu

Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Personalausweis, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde)?

BF: Nein.

R: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven

Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

Ermittlungsermächtigung:

R: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu

treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung

Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an

staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

R: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie

Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat

zurückkehren können (Fluchtgründe). Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die

Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: In meiner Heimat bin ich zur Schule gegangen. Ich habe die Schule abgebrochen und bin

in den Iran gegangen, um dort zu arbeiten. Im Iran habe ich ca. drei Jahre gearbeitet, bis ich

schließlich von der Polizei gefasst wurde und nach Afghanistan abgeschoben wurde. An der

Grenze habe ich meinen Bruder im Iran kontaktiert und ihm vom Vorfall berichtet. Ich habe

ihm gesagt, dass ich zurückkehren werde, er hat jedoch gemeint, ich soll nach XXXX reisen

und die Familie besuchen. Ich habe einige Zeit bei meiner Familie verbracht, als mein Bruder

aus dem Iran meinen Vater angerufen hat und ihm gesagt hat, dass er das alte Haus, dass auf unserem Grundstück neben der Moschee stand abreißen soll und ein neues Haus bauen soll.

Beim Abriss des Hauses ist eine Wand der Moschee, die an der Wand unseres Haus

angeschlossen war (gemeinsame Wand), zusammemgestürzt. Daraufhin haben die

Bewohner des Dorfes uns bei der Polizei angezeigt, wir wurden als „Nicht-Muslime“ und

„Ungläubige“ bezeichnet, weil wir ihrer Meinung nach absichtlich eine Moschee zerstört

haben. Nachdem ein Dorfbewohner namens XXXX die Polizei verständigt hat, ist diese zu

unserem Haus gekommen und hat meinen Vater verhaftet. Ich habe meinen Bruder im Iran

verständigt und ihm von diesem Vorfall erzählt. Er hat gesagt, dass er selbst nach

Afghanistan kommen wird und sich um alles kümmern wird. In der Zeit als mein Vater im

Gefängnis war, hat XXXX im Dorf verbreitet, dass ich die Frau von XXXX namens XXXX

(= XXXX ), ebenfalls ein Dorfbewohner, vergewaltigt hätte. Die Polizei ist

wieder zu unserem Haus gekommen und sie hat nach mir gefragt. Als meine Mutter gesagt

hat, dass ich nicht zu Hause bin, hat ein Polizist meine Mutter geschlagen. In diesem

Moment bin ich nach Hause gekommen und habe nach dem Grund gefragt, daraufhin wurde

ich von der Polizei festgenommen. Nachdem ich einige Zeit im Gefängnis war, hat mich mein

Bruder besucht. Er hat mir erzählt, dass mein Vater freigelassen wurde und er hat mich nach

dem Grund meiner Festnahme gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich beschuldigt werde, die

Frau von XXXX vergewaltigt zu haben und dass XXXX den Dorfbewohner XXXX bezahlt hat um

Anzeige zu erstatten. Mein Bruder hat mir gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll,

weil er nach einer Lösung suchen wird. Nach einigen Tagen wurde im Gefängnis mein Name

gerufen, als ich hinausgegangen bin, wurden meine Hände und meine Augen verbunden, ich

wurde in ein Auto gesetzt und das Auto fuhr los. Nach einer gewissen Fahrtzeit hielt das

Fahrzeug an, ich hörte Schüsse, kurze Zeit später, hörte ich meinen Bruder. Er sagte zu mir,

dass ich aussteigen soll, ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann, weil meine Hände

verbunden sind. Er ist zum Auto gekommen und hat mich in ein anderes Auto getragen.

Nach einer kurzen Fahrt hat er bei einem kleinen Fluss angehalten, er hat meine Handfesseln

aufgemacht und mir gesagt, dass ich mich waschen soll. Ich habe ihn gefragt wohin wir

fahren würden, er hat mir gesagt, dass ich keine Fragen dazu stellen soll. Wir sind dann von

diesem Ort nach Kandahar gefahren und von dort sind wir über Pakistan in den Iran

geflüchtet.

R: In Ihrem Dorf herrscht sicher ein streng-religiöses Umfeld, können Sie dazu etwas sagen?

BF: Jene Personen, die damals noch im Dorf gelebt haben, waren sehr strenggläubig. Allein

mein Aufenthalt im Iran wurde als negativ aufgefasst. Dadurch, dass es wegen dem

Grundstück mit XXXX Probleme gab, hat er mich beschuldigt, er eine sehr schwere

Straftat begangen zu haben. Da die Leute nicht gebildet sind, glauben sie alles, was man

ihnen erzählt. Aus Sicht des Islam habe ich ebenfalls eine schwere Straftat begangen. Es hat

sich niemand für meine Aussage interessiert und ich bin mir sicher, dass mir Schlimmes

zugestoßen wäre, wenn mein Bruder mich nicht befreit hätte.

R: Gibt es viele Taliban in Ihrem Heimatort?

BF: In meinem Heimatdorf leben hauptsächlich Hazara, in den umliegenden Dörfern leben

jedoch auch Taliban.

R: Wie religös ist XXXX ?

BF: XXXX war ein einflussreicher Mann im Dorf. Er hat viel Geld. Wegen des Grundstückes

gab es bereits mit meinem Großvater väterlicherseits einen Konflikt. Er war der Meinung,

dass das Grundstück ihm gehört, mein Großvater bzw. mein Vater waren nicht bereit, ihm

das Grundstück einfach so zu überlassen.

BFV: Ich möchte noch ergänzen, dass ich davon ausgehe, dass in einer geschlossenen

schiitischen-religiösen Gemeinschaft ein wenn auch unterstellter Angriff gegen religiöse

Stätten oder Mitglieder der Moschee, zu einer Verfolgung durch die gesamte

Dorfgemeinschaft führen kann.

R: Ich werde eine diesbezüglich Recherche durchführen lassen und Ihnen das Ergebnis

zukommen lassen.“

Mit Beschluss vom 06.12.2016 wurde eine Sachverständige aus dem Fachgebiet Allgemeine Informationen über Afghanistan bestellt.

Mit Bescheid des BFA vom 07.05.2019 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF bis zum 09.05.2021 verlängert.


Mit Parteiengehör vom 25.04.2019 wurde dem BF die Möglichkeit gegeben neue Unterlagen binnen einer Frist von zwei Wochen vorzulegen. Mit Eingabe vom 07.05.2019 wurde eine Stellungnahme vorgelegt, in der sich auch Unterlagen zur Integration des BF (Absolvierung eines Deutschkurses der Niveaustufe A2, Zeitbestätigung als Hilfsarbeiter bei einer Firma für Hoch- und Tiefbau) befinden.

Mit Eingabe vom 25.08.2020 erstattete die Sachverständige nachstehendes Gutachten:
„1. Einleitung

Der Rechercheauftrag bezieht sich auf die Angaben des Herrn XXXX , die er in seinem Asylverfahren getätigt hat. Hiermit wird das Ergebnis der Recherche hinsichtlich der Frage des Gerichts, ob es möglich ist, dass in einer geschlossenen schiitisch-religiösen Gemeinschaft, ein, wenn auch unterstellter Angriff, gegen religiöse Stätten oder Mitglieder der Moschee, zu einer Verfolgung durch die gesamte Dorfgemeinschaft führen kann, erörtert.

2. Der Recherche-Auftrag

Vom Bundesverwaltungsgericht wurden Recherchen in Afghanistan zum Fluchtgrund des Herrn XXXX in Auftrag gegeben. Die Frage des Gerichts lautet: „Ist es möglich, dass in einer geschlossenen schiitisch-religiösen Gemeinschaft, ein, wenn auch unterstellter Angriff gegen religiöse Stätten oder Mitglieder der Moschee, zu einer Verfolgung durch die gesamte Dorfgemeinschaft führen kann?

3. Ergebnis der Recherchen

Für die Durchführung der Recherchen zur Frage „ob es möglich ist, dass in einer geschlossenen schiitisch-religiösen Gemeinschaft, ein, wenn auch unterstellter Angriff gegen religiöse Stätten oder Mitglieder der Moschee, zu einer Verfolgung durch die gesamte Dorfgemeinschaft führen kann“ sprach ich mit meinen in Afghanistan lebenden Kontaktpersonen und bat diese, in diesem Zusammenhang Informationen zu beschaffen. Ich ersuchte meine Kontaktpersonen, in shiitischen Dörfern Personen zu befragen, um deren Standpunkt zu eruieren.

Die Recherchen wurden im Zeitraum von mehreren Monaten in der Stadt Kabul im von Hazara und Shiiten bewohnten, Orten XXXX , XXXX und XXXX , wie auch in den Provinzen Ghazni, Bamyan, sowie in Maidan Wardak durchgeführt.

Befragt wurden mehrere Besucher einer Moschee, sowie einige Professoren und Studenten an einer Universität, wie auch einige Passanten.

Die meisten der befragten Personen erzählten einstimmig, dass den meisten Bürgern in Afghanistan die Religion und im Allgemeinen der Islam sehr wichtig seien. Eine Religionsfreiheit sei allerdings faktisch nicht vorhanden. Befragt, ob sie wissen, wie Religionskritik in Afghanistan geahndet wird, erzählten einige Studenten einer Privatuni in Kabul, dass Kritik am Islam ein Tabu sei und ihres Wissens nach, in ganz Afghanistan bestraft werde.

Befragt wurden zu diesem Thema Personen, die nach einem Gemeinschaftsgebet eine Moschee in der Stadt Ghazni verlassen haben:

Laut meiner Kontaktperson hätten einige leidlich entsetzt geblickt und den Kopf geschüttelt und sie hätten sich nicht dazu geäußert. Einige Wenige hingegen hätten den Fragen zugehört und Folgendes angegeben: Der Islam sei ihr Glaube und sie würden ihren Glauben aus freiem Willen ausüben. Ihr Glaube würde ihnen Kraft und Geduld schenken und sie würden sich rein fühlen. Sie würden immer wieder hören, dass Afghanen im Ausland von ihrem Glauben abfallen und entweder den Glauben des Propheten Issah (Jesus) annehmen oder gar dem Weg der Atheisten folgen. Die Religionskritik sowie der Religionswechsel (Konversion) wird mit harten Strafen belegt, so ist der Atheismus als Glaubensabfall, sowie die Apostasie nicht nur in Afghanistan, sondern in mehreren Ländern der Welt auch mit der Todesstrafe bedroht. Die gebildete Gesellschaftsschicht in Afghanistan kann sich denken und vorstellen, dass auch in Afghanistan viele tausende Menschen den Islam absolut gar nicht oder nicht vollständig ausüben. Dies hänge jedoch von der elterlichen Erziehung ab. Solche Personen suchen mehr den Kontakt zu Leuten, die ähnlich eingestellt sind, weil sie dann nichts zu befürchten haben. Viele wahren nur den Schein, muslimisch zu sein, indem sie sich ab und zu in der Dorfmoschee sehen lassen. Jene Menschen, die den Islam offenkundig nicht praktizieren, müssen mit Sanktionen rechnen, aber sie werden nicht gleich mit dem Tode bestraft. Jene Menschen hingegen, die den Islam öffentlich verbal kritisieren oder Gebetsstätten angreifen, müssen mit sehr harten Strafen rechnen.

Befragt wurden in diesem Zusammenhang auch zwei Professoren an der Universität von Bamyan und diese äußerten sich zu diesem Thema wie folgt:

Afghanistan ist ein muslimisches Land und 99% der Bevölkerung sind Muslime, die sich in die zwei großen Gruppen, den Schiiten und den Sunniten teilen. Diese beiden Gruppen können ihren Glauben frei ausüben. Shiitische Gebetsstätten, Moscheen und Schreinen sind immer wieder Ziele von Angriffen, aber auch Sunniten würden bei vielen, wenn auch nicht auf ihren Glauben abgezielten Angriffen, getötet. Viele Länder haben Blasphemie-Gesetze und verurteilen Kritik am Islam, an religiösen Überzeugungen, religiöse Figuren oder religiöse Institutionen und Stätten. Diese Kritik wird als ein „Verbrechen“ angesehen. Manche nennen dieses Verbrachen Blasphemie, andere wiederum sprechen von „Beleidigung der Religion“ oder Verletzung von Gefühlen der Gläubigen“. Im afghanischen Strafgesetzbuch und in der Verfassung gäbe es dazu keine eigenen Bestimmungen, sondern nur ein Hinweis darauf, dass die Gerichte die Bestimmungen der sunnitischen Hanafi-Rechtsschule für Verbrechen des Abfalls im Islam anwenden sollen. Die vorherrschende Hanafi-Rechtsprechung sieht für das Verbrechen des Glaubensabfalles die Todesstrafe vor. Diejenigen, die der Blasphemie beschuldigt werden, ihnen eine Hadlung gegen eine Gebetsstätte, einen Islamgelehrten, oder Respektlosigkeit des heiligen Qoran unterstellt wird, erhalten 3 Tage Zeit, um ihre Handlungen zu widerrufen, andernfalls würden sie zum Tode durch Erhängen verurteilt werden. Nachgefragt, ob ihnen solche Fälle aus der Praxis in Afghanistan bekannt wären, sagten die Professoren, dass ihnen der Fall eines afghanischen Journalisten bekannt wäre, der im Jahr 2007 festgenommen wurde, weil ihm zur Last gelegt wurde, dass er einen Artikel von einer iranischen Website heruntergeladen und verteilt hätte, in dem die Rolle der Frau im Islam kritisch behandelt wurde. Die Professoren führten aus, dass es keine Meinungsfreiheit gibt und dadurch sich die Menschen, auch bei geringfügigen kritischen Äußerungen und Handlungen in Gefahr bringen können.

Befragt wurden zu diesem Thema Passanten in den Städten Kabul, Ghazni und Bamyan und sie äußerten sich wie folgt:

In den muslimischen Ländern wird Gotteslästerung und Beleidigung des Islam und Kritik am Prophet Mohammad, das Zerbrechen eines Fensters einer Moschee, das Verunreinigen eines heiligen Schreins, sowie der respektlose Umgang mit dem heiligen Qoran als Handlungen gegen den Islam angesehen und entsprechend geahndet. In Afghanistan sind 99% der Bevölkerung Muslime. Der Islam und die damit verbundenen Gebote und Verbote sind einzuhalten. Das Sharia – Recht kommt in juristischen Angelegenheiten zur Anwendung und bildet praktisch eine Grundlage für das Rechtssystem in Afghanistan. Nicht jeder praktiziert in Afghanistan den Islam so, wie es vorgeschrieben ist, aber die Menschen verheimlich es, weil sie Probleme, ja sogar Gefahr befürchten. Befragt, ob ihnen konkrete Fälle, aus ganz Afghanistan“ bekannt wären, bei denen Menschen wegen Blasphemie bzw. Handlungen gegen religiöse Stätten oder Personen bestraft wurden, erzählten sie übereinstimmend von dem Fall der Frau „Farkhonda“, die im Jahr 2015 unter einem Hagel von Steinen, durch Tritte und Schlägen getötet wurde. Sie wurde von einem Mullah beschuldigt, einen Qoran verbrannt zu haben. Aber in Wahrheit hatte sie lediglich dem Mullah, der selbstgefertigte Talismane als religiöse Symbole verkauft hat, widersprochen und ihm gegenüber persönlich geäußert, dass er damit ein Geschäft mache und diese Talismane in Wahrheit nichts mit dem Islam zu tun hätten. Der Mullah hetzte daraufhin die Menge in Kabul auf die 27-jährige Frau und sie wurde Opfer der „Lynchjustiz“ mitten in der Stadt Kabul. Die Polizei habe ihr keinen Schutz gegeben. Personen, die eine solche oder ähnliche religionskritische Handlung begehen, bzw. ihnen eine solche unterstellt wird, erfahren keinerlei Schutz vom Staat und sie werden von der Bevölkerung selbst bestraft.

4. Beantwortung der Frage des Gerichts: „Ist es möglich, dass in einer geschlossenen schiitisch-religiösen Gemeinschaft, ein wenn auch unterstellter Angriff gegen religiöse Stätten oder Mitglieder der Moschee, zu einer Verfolgung durch die gesamte Dorfgemeinschaft führen kann?“

Aus den im Zuge der Recherchen erhaltenen Informationen geht hervor, dass es sehr wohl möglich ist, wegen eines Angriffes beziehungsweise auch eines nur unterstellten Angriffes gegen eine religiöse Stätte, gegen eine Person, die eine Moschee leitet oder gegen ein Mitglied einer Moschee, auch von der Dorfgemeinschaft verfolgt zu werden. Aufgrund der fehlenden Religionsfreiheit in ganz Afghanistan werden Angriffe gegen den Islam mit Strafen seitens der lokalen Bevölkerung, wie auch seitens der Regierung belegt. Der Staat ist somit nicht gewillt, die Religionsfreiheit zu fördern und betroffenen Personen Schutz zu gewähren.“

Mit Parteiengehör vom 02.09.2020 wurde das Gutachten dem BF sowie dem BFA mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.

Mit Eingabe vom 07.09.2020 übermittelte der BF durch seine Vertretung eine Stellungnahme zum Sachverständigengutachten. In dieser wurde u. a. Folgendes ausgeführt: „(…)Wie Frau (…)ausführt, ist es sehr wohl möglich, wegen eines Angriffes bzw. auch eines nur unterstellten Angriffes gegen eine religiöse Stätte, gegen eine Person, die eine Moschee leitet oder gegen ein Mitglied einer Moschee, auch von der Dorfgemeinschaft verfolgt zu werden. Aufgrund der fehlenden Religionsfreiheit in ganz Afghanistan werden Angriffe gegen den Islam mit Strafen seitens der lokalen Bevölkerung, wie auch seitens der Regierung belegt. Der Staat ist somit nicht gewillt, die Religionsfreiheit zu fördern und betroffenen Personen Schutz zu gewähren. Dem BF droht wie die Länderrecherche bestätigt sowohl private als auch staatliche Verfolgung aufgrund seiner (unterstellten) religiösen Überzeugung. Es ist ihm daher Asyl zu zuerkennen.(…)“


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die beschwerdeführende Partei ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Islam an. Der BF führt den im Spruch genannten Namen. Er stammt aus der Provinz Ghazni, Distrikt XXXX , Dorf XXXX . Der BF ist unbescholten. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. In Afghanistan leben der Vater, die Mutter, zwei Brüder sowie drei Schwestern des BF. Ein weiterer Bruder des BF - der im Iran lebt - finanziert den Lebensunterhalt der Familie. Der BF ging in Afghanistan acht Jahre in die Schule, er verfügt über keine Berufsausbildung. Der BF brach die Schule ab und ging in weiterer Folge in den Iran, um dort zu arbeiten. Nach einem dreijährigen Aufenthalt im Iran wurde der BF nach Afghanistan abgeschoben. Der BF verbrachte dann einige Zeit bei seiner Familie. In weiterer Folge rief der Bruder des BF aus dem Iran den Vater des BF an und sagte ihm, dass er das alte Haus - welches auf dem Grundstück der Familie neben der Moschee stand - abreißen soll und ein neues Haus bauen soll. Beim Abriss des Hauses stürzte eine Wand der Moschee, die an der Wand des Hauses der Familie angeschlossen war - gemeinsame Wand - zusammen. Daraufhin zeigten die Bewohner des Dorfes die Familie bei der Polizei an. Sie wurden als „Nicht-Muslime“ und „Ungläubige“ bezeichnet, weil sie absichtlich eine Moschee zerstört hätten. In weiterer Folge wurde der Vater des BF verhaftet. Der BF verständigte seinen Bruder im Iran und erzählte ihm von diesem Vorfall. Dieser sagte ihm zu, nach Afghanistan zu kommen und sich um Alles zu kümmern. Als der Vater des BF sich im Gefängnis befand, verbreitete ein Dorfbewohner, dass der BF die Frau des Hausmeisters der Moschee vergewaltigt hätte. Der BF wurde in weiterer Folge festgenommen. Durch die Unterstützung seines Bruders kam der BF aus dem Gefängnis frei und es gelang ihm in weiterer Folge die Flucht mit diesem in den Iran.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan besteht auch aktuell die Gefahr, dass der BF wegen eines unterstellten Angriffes gegen eine religiöse Stätte/Moschee von der Dorfgemeinschaft verfolgt wird. Aufgrund der fehlenden Religionsfreiheit in ganz Afghanistan werden Angriffe gegen den Islam mit Strafen seitens der lokalen Bevölkerung, wie auch seitens der Regierung belegt.

Dem BF wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde zuletzt am 07.05.2019 erteilt und ist bis zum 09.05.2021 gültig. Asylausschließungsgründe sind keine zutage getreten.

1.2. Feststellungen zur Lage in der Islamischen Republik Afghanistan:

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung. Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren. Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit. Die usbekische Minderheit ist im nationalen Durchschnitt mit etwa 8% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 16.4).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (LIB, Kapitel 16.5).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (LIB, Kapitel 16.5).

Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (LIB, Kapitel 16.5).


Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Christen - Konvertiten:

Ausländische Christen und die wenigen Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (LIB, Kapitel 15.2).

Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum der Abtrünnigen konfiszieren und deren Erbrecht einschränken. Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden. Missionierungen sind illegal. Die öffentliche Meinung stehe Christen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (LIB, Kapitel 15.2).

Apostaten (Abfall vom Islam):

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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