Entscheidungsdatum
30.11.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
L510 2129265-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.05.2016, Zahl XXXX, nach mündlicher Verhandlung am 03.09.2020, zu Recht:
A)
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 06.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt (AS 3ff). Am 24.02.2016 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen (AS 79ff).
2. Das BFA wies den Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 25.05.2016 (I.) gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde (II.) dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm (III.) eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 25.05.2017 erteilt (AS 129ff).
3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde (AS 183ff).
4. Durch Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 20.10.2017 wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung neu zugewiesen (OZ 4)
5. Am 03.09.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des Beschwerdeführers sowie im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters eine Verhandlung durch. Das BFA blieb entschuldigt fern (OZ 9).
Mit der Ladung (OZ 7) wurde der Beschwerdeführer auch umfassend auf seine Mitwirkungsverpflichtung im Beschwerdeverfahren hingewiesen und er zudem auch konkret aufgefordert, insbesondere seine persönlichen Fluchtgründe und sonstigen Rückkehrbefürchtungen durch geeignete Unterlagen bzw. Bescheinigungsmittel glaubhaft zu machen, wobei im Rahmen der Verhandlung ein Konvolut an Berichten vorgelegt wurde.
Zugleich mit der Ladung wurden dem Beschwerdeführer ergänzend Berichte zur aktuellen Lage im Irak übermittelt bzw. namhaft gemacht, welche das BVwG in die Entscheidung miteinbezieht. Eine schriftliche Stellungnahmefrist bis zum Verhandlungstermin bzw. eine Stellungnahmemöglichkeit in der Verhandlung wurden dazu eingeräumt. Eine schriftliche Stellungnahme wurde nicht abgegeben, der Beschwerdeführer legte aber, wie bereits erwähnt, eigene Länderberichte und Artikel im Rahmen der Verhandlung vor.
6. Mit Schreiben vom 04.09.2020 reichte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme betreffend die in der Verhandlung von ihm vorgelegten Berichte und Artikel nach (OZ 10).
7. Mit Parteiengehör vom 18.09.2020 wurden dem Beschwerdeführer weitere Berichte zur aktuellen Lage im Irak betreffend Atheisten und Personen die sich vom Islam abgewandt haben, mit der Möglichkeit der Stellungnahme, übermittelt (OZ 11). Trotz Fristerstreckung (OZ 13) wurde bis dato keine Stellungnahme zu diesen Berichten vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen:
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum. Er ist Staatsangehöriger des Irak und gehört der Volksgruppe der Araber (AS 3) an. Er bekennt sich zu keiner Religionszugehörigkeit (AS 3), er ist Atheist. Seine Identität steht fest (AS 105-111).
Der Beschwerdeführer wurde in Bagdad geboren und lebte dort bis zu seinem fünften Lebensjahr. Die Familie zog dann bis 2007 nach Tikrit, bevor sie nach Syrien gegangen ist. 2013/14 ist die Familie wieder nach Tikrit zurückgekehrt. Für etwa neun Monate verblieb die Familie dort, bevor sie für kurze Zeit nach Kirkuk zog. 2015 reiste der Beschwerdeführer mit einer seiner beiden Schwestern aus dem Irak aus. Inzwischen leben die Eltern und der Bruder sowie eine weitere Schwester samt eigener Familie in Erbil (VHS, S 5).
Der Vater des Beschwerdeführers ist Sunnit, die Mutter ist Schiitin. Der Beschwerdeführer selbst wurde als Sunnit geboren, hat sich aber nie zu diesem Glauben bekannt (VHS, S 5).
Im Irak besuchte der Beschwerdeführer die Grundschule sowie nach dem Aufenthalt in Syrien eine elfte Klasse in Tikrit. Der Beschwerdeführer hat während der Sommerferien im Rahmen des Aufenthaltes in Syrien als Bote gearbeitet.
Beim Beschwerdeführer liegen aktuell keine relevanten behandlungsbedürftigen Krankheiten vor (VHS, S 5).
Der Beschwerdeführer ist in Österreich unbescholten.
1.2. Zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz bzw. seiner Rückkehrbefürchtung brachte der Beschwerdeführer im Wesentlich vor:
Im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 06.05.2015 gab der Beschwerdeführer an, ohne Bekenntnis zu sein und geflüchtet zu sein, da er Angst vor dem IS als auch Angst vor den schiitischen Milizen habe, da er sich ihnen nicht anschließe.
Bei der Einvernahme vor dem BFA brachte der Beschwerdeführer vor, dass er den Irak 2015 deshalb verlassen habe, da 2014 im Irak Krieg gewesen sei. Daesh habe Tikrit erobert und versucht, jeden Jugendlichen in den Krieg miteinzubeziehen. Die schiitischen Milizen würden versucht haben, Tikrit wieder zurückzuerobern. In dieser Zeit seien sie Feinde für beide Seiten gewesen, beide Seiten würden junge Männer rekrutieren haben wollen. Vorfälle gegen den Beschwerdeführer selbst oder seine Familie habe es nicht gegeben (AS 91). Der Krieg im arabischen Raum finde nur wegen der Religion statt. Er wolle nicht im Krieg kämpfen und nicht für oder gegen eine Religion, da er zu keiner gehöre. Er glaube an keine Religion (AS 93).
Bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer an, der IS habe Tikrit erobert, junge Menschen rekrutiert und Menschen umgebracht. Die schiitischen Milizen würde den IS aber auch die Zivilbevölkerung bekämpft haben. Die Milizen würden vom Iran unterstützt werden und ihre eigene Theologie verfolgen. Gegen ihn selbst habe es nie Verfolgungshandlungen gegeben, aber er gehöre als Atheist zu einer Gruppe die allgemein verfolgt werde. Der IS sei nunmehr nicht mehr an der Macht, sondern die schiitischen Milizen. Dieser würden seither viel stärker geworden sein und sie seien außer Kontrolle geraten. Es sei für den Beschwerdeführer ein religiöser Kampf, bei dem er für beide einen Feind darstelle, da er sich zu keiner Religion bekenne. Die in der irakischen Verfassung verankerte Religionsfreiheit werde in der Praxis anders interpretiert, die Verfassung werde seitens der Regierung, die mit den schiitischen Milizen gleichzusetzen sei, mit Füßen getreten. Atheismus sei indirekt strafbar, da jede Kritik an der islamischen Religion als Beleidigung oder Entwürdigung empfunden werde. Die Scharia sehe vor, dass Menschen die vom Islam abfallen, sprich Atheisten, mit dem Tod zu betrafen seien. Er als Atheist habe Angst in einem Land zu leben, welches ausschließlich von der Religion regiert werde. Die Familie des Beschwerdeführers habe kein Problem damit, dass die mit dem Beschwerdeführer nach Österreich gereiste Schwester inzwischen Christin sei (VHS, S 5-7).
In seiner Stellungnahme vom 04.09.1010 brachte der Beschwerdeführer ergänzend vor, dass die schiitischen Milizen nach dem Sieg über den IS Tikrit nach ihrer Ideologie kontrollieren würden. Sie würden auch bestimmen, wer in die Stadt dürfe und wer sie verlassen dürfe. Die Verletzlichkeit der religiösen Gefühle der Gesellschaft im Irak sei sehr groß. Es gehe dem Beschwerdeführer um die Einstellung gegenüber der regierenden Religion. Auch wenn keine Drohung gegen die Person des Beschwerdeführers vorliege, so stelle allein die Ablehnung des Islam und die Kritik am Islam, eine Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers dar. Der Beschwerdeführer faste auch nicht im Ramadan, was zu Haftstrafen und Folter führe. Er würde den islamischen Feiertagen keine Wichtigkeit schenken, würde an religiösen Veranstaltungen nicht teilnehmen, würde kurze Hosen tragen und mit all dem vom islamischen Wertesystem abweichen. Bereits kleine Abweichungen vom Islam würden zu willkürlichen Strafen führen und der Beschwerdeführer würde nicht nur vom Islam abweichen, sondern würde ihm in jeder Hinsicht widersprechen, was ihn in Gefahr bringe (OZ 10).
1.3. Der Beschwerdeführer hat nicht glaubhaft dargelegt und es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass er im Falle einer Rückkehr in seine Heimat einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt wäre.
1.4. Mit Bescheid des BFA vom 25.05.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Begründend wurde vom BFA diesbezüglich auf die instabile Sicherheitslage im Irak verwiesen.
1.5. Zur Lage im Irak
Im Juni 2014 startete der sog. Islamische Staat Irak (IS) oder Da'esh, einen erfolgreichen Angriff auf Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak. Der IS übernahm daraufhin die Kontrolle über andere Gebiete des Irak, einschließlich großer Teile der Provinzen Anbar, Salah al-Din, Diyala und Kirkuk. Im Dezember 2017 erklärte Premierminister Haider al-Abadi den endgültigen Sieg über den IS, nachdem die irakischen Streitkräfte die letzten Gebiete, die noch immer an der Grenze zu Syrien unter ihrer Kontrolle standen, zurückerobert hatten. Der IS führt weiterhin kleine Angriffe vorwiegend auf Regierungstruppen und Sicherheitspersonal an Straßenkontrollpunkten aus. Am 25. September 2017 hat die kurdische Regionalregierung (KRG) ein unverbindliches Referendum über die Unabhängigkeit der kurdischen Region im Irak sowie über umstrittene Gebiete, die unter Kontrolle der KRG stehen, abgehalten. Das Referendum wurde für verfassungswidrig erklärt. Bei den nationalen Wahlen im Mai 2018 gewann keine Partei die Mehrheit, obwohl die meisten Stimmen und Sitze an die Partei des schiitischen Klerikers Muqtada al-Sadr gingen, ein ehemaliger Anti-US-Milizenführer (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 09.10.2018, S. 6)
Genaue, aktuelle offizielle demographische Daten sind nicht verfügbar. Die letzte Volkszählung wurde 1987 durchgeführt. Das US-Außenministerium schätzt die Bevölkerung im Irak auf rund 39 Millionen. Araber (75 Prozent) und Kurden (15 Prozent) bilden die beiden wichtigsten ethnischen Gruppen. Andere Ethnien sind Turkmenen, Assyrer, Yazidis, Shabak, Beduinen, Roma und Palästinenser. 97 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Schiiten machen 55 bis 60 Prozent der Bevölkerung aus und umfassen Araber, Shabak und Faili-Kurden. Der Rest der Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Sunniten, einschließlich der sunnitischen Araber, die schätzungsweise 24 Prozent der Gesamtbevölkerung des Irak ausmachen. Die meisten Kurden sind auch Sunniten und machen etwa 15 Prozent der nationalen Bevölkerung aus. Die schiitischen Gemeinden leben in den meisten Gebieten des Irak, konzentrieren sich jedoch im Süden und Osten. Die Mehrheit der Bevölkerung von Bagdad sind Schiiten, insbesondere Vororte wie Sadr City, Abu Dashir und Al Dora. Sunniten leben hauptsächlich im Westen, Norden und im Zentralirak. Die Anzahl der in Bagdad als gemischt betrachteten Gebiete nimmt ab. In einigen Bezirken Bagdads gibt es immer noch bedeutende sunnitische Gemeinden, darunter Abu Ghraib. Die Bezirke A'adamia, Rusafa, Za'farania, Dora und Rasheed haben kleinere Gebiete sunnitischer Gemeinschaften. Gemischte sunnitische-schiitische Gemeinden leben in den Bezirken Rusafa und Karada, kleinere gemischte Gemeinden auch in den Bezirken Doura, Rasheed, Karkh, Mansour und Kadhimiya (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 09.10.2018, S. 7).
Die irakische Verfassung garantiert grundlegende Menschenrechte einschließlich Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Chancengleichheit, Privatsphäre und Unabhängigkeit der Justiz. Die Verfassung verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Nationalität, der Herkunft, der Hautfarbe, der Religion, der Meinung, des wirtschaftlichen oder sozialen Status. Die Verfassung macht den Islam zur offiziellen Religion des Staates. Es garantiert die Glaubens- und Religionsfreiheit für alle Personen, einschließlich Christen, Yazidis und Sabäer-Mandäer. Auf der Scharia beruhende Regelungen verbieten zwar eine Konversion vom islamischen Glauben, doch ist keine Strafverfolgung hierfür bekannt. Nach irakischem Recht wird ein Kind unter 18 Jahren automatisch zum Islam konvertiert, wenn auch einer seiner nicht-muslimischen Eltern konvertiert ist. Nach der Absetzung von Saddam Hussein und der (von Sunniten dominierten) Ba'ath-Partei aus der Regierung fühlten sich viele Sunniten ausgegrenzt (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 09.10.2018, S. 9,14, 16).
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen. Im Juli 2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilizations Forces (PMF), Trival Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US-geführten Koalition teilnahmen. Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel. Die zivilen Todesopfer im gesamten irakischen Gebiet belaufen sich im Jahr 2017 auf 13.183, im Jahr 2018 auf 3.319 und von Jänner bis inkl. September 2019 auf 1.542. Es handelt sich dabei im vorläufige Zahlen, andere sind nicht verfügbar. Im Gesamtirak wurden im Laufe des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Tote und 119 Verletzten registriert; im August 2019 waren es 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 93 Toten und 141 Verletzten und im September 2019 123 Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten (Kurzinformation der Staatendokumentation, Irak, Sicherheitsupdate 3. Quartal 2019 und jüngste Ereignisse, 30.10.2019).
Der IS hat im April 2020 eine neue Gewaltoffensive gestartet, die in der dritten Woche des Mai ihren Höhepunkt erreichte. Es wurden dabei die gleich hohe Anzahl von Attacken wie zuletzt zur selben Zeit 2018. In der vierten Mai-Woche gingen die Attacken wieder zurück (Musings on Iraq, 01.06.2020). Die Anzahl der Attacken ging weiter zurück und erreichte in der letzten Juniwoche 2020 einen Niedrigstand von zehn Sicherheitsvorfällen. Nur vier Provinzen waren in jener Woche im Irak von Gewalt betroffen, nämlich Kirkuk, Salahaddin, Bagdad und Diyala.
Hinsichtlich der rezenten Vorfälle ist für den gesamten Irak folgende Statistik zu verzeichnen (Musings on Iraq 30.06.2020):
Monat
Sicherheitsrelevante Vorfälle
Tote
Verletzte
September 2019
123
122
131
Oktober 2019
70
92
53
November 2019
55
47
98
Dezember 2019
120
134
133
Jänner 2020
91
53
139
Februar 2020
85
80
103
März 2020
69
47
90
April 2020
111
81
165
Mai 2020
196
125
180
Im dritten Quartal 2019 wurden in der Provinz Salahad-Din (Tikrit) 45 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 84 Toten erfasst. In der Provinz At-Ta’mim [=Kirkuk] wurden 53 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 28 Todesopfern erfasst (ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Irak, 3. Quartal 2019: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) 26.02.2020).
Landinfo schreibt in einem Bericht zur Sicherheitslage in Kirkuk vom August 2018, dass PMF-Milizen als wichtigster Sicherheitsakteur in der gesamten Provinz mit Ausnahme der Stadt Kirkuk präsent sind. Strategisch wichtige Straßen, darunter die Straße nach Bagdad, werden in Koordination zwischen PMF, irakischer Armee und Bundespolizei kontrolliert. Manche Gruppen wie die Turkmenen stellen ihre eigenen lokalen Milizen. Während die PMF außerhalb der Städte operieren, sind reguläre irakische Streitkräfte innerhalb der Städte stationiert (Landinfo, 24. Oktober 2018, S. 18-19). Im Jänner 2019 wird ein PMF-Kämpfer bei einem Angriff der Gruppe IS auf einen Checkpoint der Milizen im Nordwesten der Provinz getötet (Iraqi News: 14. Jänner 2019). Im Februar 2019 gibt der Kommandant des Joint Operation Command in Kirkuk bekannt, dass die PMF-Milizen Aufgaben im Bereich der Sicherheit in der Provinz zusammen mit Armee und Polizei übernehmen werden. Einer der drei persönlichen Stellvertreter des Kommandanten ist ein Mitglied der PMF-Milizen (Kurdistan 24, 19. Februar 2019). Ende Oktober werden laut Auskunft der PMF drei IS-Mitglieder südwestlich von Kirkuk getötet (Shafaq News, 31. Oktober 2019). Im November gibt die PMF-Führung bekannt, dass PMF-Einheiten Versuche des IS, Distrikte der Provinz Kirkuk zu kontrollieren, vereitelt haben, und IS-Verstecke aufgefunden und zerstört haben. (Radio Nawa, 16. November 2019). Im April 2020 werden bei einem Angriff des IS im Distrikt Daquq zwei PMF-Kämpfer getötet und 11 weitere verletzt (Basnews, 13. April 2020) (ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, vom 27.04.2020)
Seit dem Ausbruch der Syrienkrise im Jahr 2011 und dem Vormarsch des sogenannten Islamischen Staates (IS) haben rund eine Million Binnenvertriebene und etwa 250.000 syrische Flüchtlinge in der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak Schutz gesucht. Für die Region, die sonst sechs Millionen Einwohner hat, eine große Herausforderung: die Mehrheit der Neuankömmlinge lebt in normalen Gemeinden, oftmals bei Verwandten oder Freunden. Lediglich 40 Prozent der Geflüchteten sind in Camps untergebracht. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt seit 2014 die kurdische Regionalregierung dabei, die Flüchtlinge und Binnenvertriebenen im Nordirak zu versorgen. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wird zum einen die Lebenssituation der Geflüchteten unmittelbar verbessert. Zum anderen müssen Bildungsangebote sowie die Gesundheits- und Trinkwasserversorgung ausgebaut werden. Eine der wichtigsten Aufgaben ist, den vielen betroffenen Kindern weiterhin den Schulbesuch zu ermöglichen. Die bestehenden Schulgebäude reichten für die zusätzlichen Schüler nicht aus, 46 neue Schulen hat die GIZ seit 2015 in den Camps sowie in den Städten, aber auch ländlichen Regionen innerhalb des Gouvernorats Dohuk gebaut oder renoviert. Zwei davon entstanden in Zusammenarbeit mit UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Vom Schulneubau profitieren mehr als 45.000 Kinder und Jugendliche. Doch nicht nur die Gebäude kamen an ihre Grenzen: In einer einzelnen Klasse sind nicht selten bis zu 60 Kinder. Mehr als 4.000 Lehrer/innen haben an methodisch-didaktischen Fortbildungen teilgenommen, um so große Klassen erfolgreich unterrichten zu können. Die Menschen sind aber auch auf Rechtsberatung, Fortbildung und Freizeitangebote angewiesen. All dies wird für rund 250.000 Menschen in mehreren Gemeindezentren geleistet, die von der GIZ errichtet wurden. Aktuell betreibt das Bundesunternehmen zusammen mit einem kurdischen Partner sechs dieser Zentren. Da viele der Flüchtlinge stark traumatisiert sind, benötigen sie psychosoziale Betreuung. Deshalb haben 20 Sozialarbeiter eine dreimonatige Ausbildung zu psychologischer Beratung erhalten und 480 Personen wurden in psychologischer Ersthilfe geschult. Die verschiedenen Angebote der sechs Zentren werden nachgefragt – mehr als 200.000 Teilnahmen sind bislang zu verzeichnen. Auch die körperliche Gesundheit steht im Fokus der Arbeit vor Ort: In den Camps wurden sechs Gesundheitszentren errichtet und ausgestattet – eines davon mit einer Geburtenstation. Vier der Zentren werden von kurdischen und internationalen Partnern betreut. Sie bieten den Bewohnern der Camps und der umliegenden Gemeinden unentgeltlich eine medizinische Grundversorgung. Allein rund 325.000 Binnenvertriebene profitieren davon. Bauarbeiten, kulturelle und soziale Aktivitäten benötigen viele helfende Hände. Gleichzeitig ist ein eigenes Einkommen und Beschäftigung einer der dringendsten Wünsche der geflüchteten Menschen. Eine schnelle und unmittelbare Hilfe bietet das sogenannte „Cash for Work“-Programm: Seit April 2016 konnten mehr als 43.000 Menschen bei Bauprojekten und sozialen Aktivitäten mitarbeiten und ein temporäres Einkommen von rund 20 Euro am Tag verdienen. So auch die 39-jährige Asma aus Mosul, die seit einigen Jahren mit ihrer Familie in Erbil lebt. Gemeinsam mit anderen Binnenvertriebenen und bedürftigen Bewohnern half sie dabei, eine Vielzahl an öffentlichen Kindergärten in Stand zu halten. Dadurch hat sich Asma einen Verdienst von ca. einer Million Irakischer Dinar, rund 800 Euro, erarbeiten können. „Mein Mann ist schwer krank, deswegen gehe ich für meine Familie arbeiten. Es war kein leichter Start hier in Erbil: fünf Kinder, mein Mann und ich in einer fremden Stadt. Aber ich arbeite gerne in dem Projekt. Nur so kann ich es meinen Kindern ermöglichen, weiterhin zur Schule zu gehen und die Kosten für die Pflege meines Mannes tragen. Ich bin stolz darauf, ein Vorbild für meine Kinder sein zu können. Sie sollen sehen, dass Frauen genauso viel schaffen können.“ (Nordirak: Ein Leben nach der Flucht, Oktober 2019)
Die meisten der Schutzmauern, die in den letzten zehn Jahren errichtet wurden, um öffentliche und private Gebäude zu sichern, wurden abgerissen. Stattdessen finden sich dort jetzt Parks und Grünflächen. Im Zuge der Veränderungen wurde in Bagdad auch das erste Frauencafé eröffnet. Dort können sich Frauen ohne Begleitung von Männern treffen und ihre Kopftücher und die lange Abaya ablegen, die auf den Straßen so verbreitet sind.
Im Café "La Femme" werden Wasserpfeifen angeboten und von einer Frau zubereitet. Es werden alkoholfreie Champagnercocktails, Softgetränke und Snacks serviert. Bisher haben sich noch keine Männer in dieses weibliche Heiligtum gewagt - obwohl sich das Café in einem Hochhaus zusammen mit anderen Restaurants, einer Sporthalle für Männer und nur einem Aufzug befindet. Der Kundenkreis von Adel-Abid umfasst vor allem Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. Für ihre jungen Kundinnen organisiert sie reine Frauenfeste zu Geburtstagen, Verlobungen und Abschlussfeiern. Die ältere Generation trinkt lieber Kaffee und hört den alten irakischen Sängern zu, die auf der Musikanlage bevorzugt gespielt werden.
Frauen können jetzt Unternehmen führen. Da der "Islamische Staat" verdrängt und die gegenwärtige politische Stabilität zu spüren ist, fordern irakische Frauen immer mehr ihren Anteil am öffentlichen Raum der Stadt. In Mansour, dem Stadtviertel, in dem sich "La Femme" befindet, sind die meisten Cafés und Restaurants heute gemischt, und auch Frauen rauchen dort Wasserpfeife. Der frische Wind des Wandels hat auch das Straßenbild verändert.
Frauen kleiden sich wieder bunter, anstatt sich hinter schwarzen Schleiern zu verstecken. Die Entwicklung geht so weit, dass junge Frauen sich immer seltener ein Kopftuch umbinden. Ehen zwischen Sunniten und Schiiten erleben ein Comeback im Irak; unter den Jugendlichen in Bagdad sind sie sogar zum neuen Standard geworden. So wie bei Merry al-Khafaji, die kürzlich Mustafa al-Ani geheiratet hat. Gemeinsam sitzen die beiden Mittzwanziger bei einer Wasserpfeife in einem beliebten Bagdader Garten, sie trägt ihr dunkles Haar offen und ein grünes T-Shirt mit Jeans. Traditionell wählen Eltern die Partner ihrer Kinder, aber Merry al-Khafaji und Mustafa al-Ani lernten sich in dem Telekommunikationsunternehmen kennen, für das sie beide arbeiten. Mittlerweile entwickeln sich immer mehr Liebesbeziehungen bei der Arbeit, im Studium oder in Workshops. Auch soziale Medien haben eine starke Wirkung. Sie eröffnen jungen Menschen einen neuen Weg, neue Freunde in der konservativen irakischen Gesellschaft zu finden (Die neuen Freiheiten von Bagdad, qantara.de 01.07.2019).
Mitglieder rivalisierender irakischer Motorrad-Clubs, die in Leder mit Nieten und schwarzen Baskenmützen gekleidet waren, tanzten Breakdance und ließen mit ihren tätowierten Armen Neon-Leuchtstäbe kreisen. Der Tanzkreis des Mongols Motorcycle Club war einer von mehreren bei der ‚Riot Gear Summer Rush‘, einer Automobilshow samt Konzert in einem Sportstadion im Herzen von Bagdad. Die Szene hatte etwas ganz anderes als jene Bilder, die üblicherweise aus der Stadt der Gewalt und des Chaos ausgestrahlt wurden. Aber fast zwei Jahre, nachdem der Irak den islamischen Staat besiegte, hat die Hauptstadt ihr Image stillschweigend verändert. Seit die Explosionsschutzwände – ein Merkmal der Hauptstadt seit der US-geführten Invasion im Jahr 2003, bei der Saddam Hussein gestürzt wurde – gefallen sind, hat sich eine weniger restriktive Lebensweise etabliert. „Wir haben diese Party veranstaltet, damit die Leute sehen können, dass der Irak auch über diese Art von Kultur verfügt und dass diese Menschen das Leben und die Musik lieben“, sagte Arshad Haybat, ein 30-jähriger Filmregisseur, der die Riot Gear Events Company gründete. Riot Gear hat bereits zuvor ähnliche Partys im Irak veranstaltet, aber dies war die erste, die für die Öffentlichkeit zugänglich war. Der Tag begann damit, dass junge Männer importierte Musclecars und Motorräder vorführten. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde die Show zu einer lebhaften Veranstaltung für elektronische Tanzmusik (EDM). Das irakische Hip-Hop-Kollektiv „Tribe of Monsters“ spielte eine Mischung aus EDM- und Trap-Musik, während junge Männer Verdampfer in ihren Händen hielten und neben Blitzlichter und Rauchmaschinen tanzten, während sie ihre Bewegungen live auf Snapchat und Instagram übertrugen. Es war eine berauschende Mischung aus Bagdads aufkeimenden Subkulturen: Biker, Gamer und EDM-Enthusiasten. Was die meisten gemeinsam hatten, war, dass sie im Irak noch nie einer solchen Veranstaltung beigewohnt hatten. Obwohl von jungen Männern dominiert, nahmen auch viele Frauen an der Veranstaltung teil. Einige von ihnen tanzten in der Nähe der Hauptbühne. Die Veranstalter stellten jedoch sicher, dass eine „Familiensektion“ zur Verfügung stand, damit Frauen, Familien und Liebespaare auch abseits der wilden Menschenmenge tanzen konnten (Tanzpartys kehren nach Bagdad zurück, mena-watch, 22.08.2019).
In Bagdad wurde ein neues deutsch-irakisches Beratungszentrum für Jobs, Migration und Reintegration eröffnet. Es ist das zweite seiner Art im Irak neben dem Beratungszentrum in Erbil, das seine Arbeit bereits im April 2018 aufgenommen hatte. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Schaffung attraktiver und langfristiger Bleibeperspektiven. Zu den angebotenen Leistungen gehören Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie die Unterstützung bei Existenzgründungen. Das Zentrum steht Rückkehrenden ebenso offen wie Binnenvertriebenen und der lokalen Bevölkerung und fördert damit auch die Stärkung des irakischen Privatsektors. In den kommenden Jahren soll das Beratungszentrum schrittweise in die lokalen Strukturen überführt werden, um den langfristigen und nachhaltigen Betrieb zu sichern (Neues deutsch-irakisches Beratungszentrum in Bagdad eröffnet, BMZ 13.06.2019).
Bis Ende April 2020 wurden etwa 4,7 Millionen Personen im Irak gezählt, die nach Vertreibung an ihren gewöhnlichen Wohnsitz rückkehrten; diese verteilten sich auf 8 Gouvernements, 38 Distrikte und über 2.000 Orte. In den Monaten März und April 2020 wurden über 44.000 neue Rückkehrer registriert. Diese Anzahl ist niedriger als zuletzt, was auf die von den Behörden erlassenen Mobilitätbeschränkungen aufgrund des Coronavirus zurückzuführen ist. Die meisten Rückkehrer wurden in den Gouvernements Anbar, Ninewa und Salah al-Din gezählt. Die Gesamtzahl der gezählten Binnenvertriebenen belief sich im März und April 2020 auf etwa 1,4 Millionen Personen, aufgeteilt auf 18 Gouvernements, 104 Bezirke und knapp 3.000 Orte. Trotz des kontinuierlichen Rückgangs von Binnenvertriebenen (etwa -9.600 Personen im Vergleich zur Zählung in den Monaten Jänner und Februar 2020) wurden in den Monaten März und April 2020 knapp 2.700 neue Binnenvertriebene gezählt, welche überwiegend bereits zum zweiten Mal vertrieben wurden. 60% der in den Monaten März und April 2020 gezählten Binnenvertriebenen stammten aus dem Gouvernement Ninewa (die meisten aus Mossul, Sinjar und Al-Ba’aj), jeweils 11% stammten aus den Gouvernements Salah al-Din und Anbar (Displacement Tracking Matrix, Iraq Master List Report 115, March-April 2020).
Religionsfreiheit
Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung Iraks fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten.
Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht.
Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft. Allerdings wurde auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 des Gesetzes zum Personalausweis stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden. Darüber hinaus gilt, dass Kinder mit einem muslimischen Elternteil oder einem unbekannten Elternteil automatisch als muslimischen Glaubens registriert werden. Dies führt zu rechtlichen Schwierigkeiten und verstärkt soziale Ausgrenzung von Kindern aus „IS“-Zwangsehen bzw. -Vergewaltigungen.
Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Sabäer, Schabak und Fayli Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen und Christen sowie einen für Armenier vor.
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Religiöse Minderheiten leiden im Alltag jedoch unter weitreichender faktischer Diskriminierung. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet.
Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des „IS“ standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor.
Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert.
In der RKI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand März 2020).
Lage von Atheisten und Personen, die sich vom Islam abgewandt haben:
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) gibt in einer Mitschrift eines Herkunftsländertreffens bezüglich Irak vom Juli 2017 die Aussage von Mark Lattimer, dem Leiter der Initiative Ceasefire Centre for Civilian Rights zum Thema Atheismus im Irak wieder. Laut Lattimer seien im Irak junge Menschen einer Reihe von Einflüssen ausgesetzt und es gebe auch eine Menge älterer Leute, die nicht religiös seien. Nur weil das Land immer stärker konfessionell geprägt sei, bedeute dies nicht notwendigerweise, dass alle Menschen religiöser würden. Es gebe eine starke kommunistische Strömung mit einer säkularen Einstellung im Irak, die immer noch stark in der irakischen Zivilgesellschaft verankert sei. Religion werde unterschiedlich stark praktiziert, dies heiße jedoch nicht, dass es leicht sei, sich als Atheist zu identifizieren, und nur selten geschehe so etwas öffentlich. Manchmal würden Personen angeben, sie seien Muslime, würden sich aber im Privaten als Atheisten definieren.
Die in den USA ansässige Online-Zeitung Al-Monitor berichtet in mehreren Artikeln über Atheismus im Irak. In einem älteren Artikel vom März 2013 wird die Auffassung vertreten, dass der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln habe, seine Verbreitung in allen gesellschaftlichen Gruppen und Altersgruppen allerdings neu sei. Zusätzlich zum Atheismus gebe es Personen, die sich als Agnostiker bezeichnen würden, und solche, die gewisse religiöse Erscheinungsformen oder Überzeugungen kritisieren würden, ohne den allgemeinen Rahmen der Religiosität zu verlassen. Al-Monitor habe sich mit einer Reihe von nicht gläubigen Personen getroffen, um über ihre Forderungen zu erfahren. Unter anderem hätten sie die Notwendigkeit einer rechtlichen und sozialen Anerkennung ihrer Existenz, einer Richtigstellung des Bildes, das die Gesellschaft von ihnen habe, sowie einer Gewährleistung öffentlicher Freiheiten betont. Die vorherrschende gesellschaftliche Meinung sei, dass es sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen wie den Zionisten oder Freimaurern („Masons“) handle. Es sei notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten vor religiösem Fundamentalismus zu schützen. Atheisten, Agnostiker und Säkularisten wären als Gruppe nicht anerkannt und es gebe keine irakischen oder internationalen Einrichtungen, die sie schützen oder verteidigen würden.
In einem Artikel vom 06.04.2014 wird ebenfalls dargelegt, dass der Atheismus im Irak tiefe historische Wurzeln bis ins 9. Jahrhundert habe. Neu sei jedoch die breite und umfassende Verbreitung durch alle Gesellschafts- und Altersklassen. Während es Atheismus ein „elitäres Phänomen“ gewesen sei, das auf Intellektuelle und Gelehrte beschränkt war, sei es heutzutage ein allumfassendes Phänomen und nehme immer mehr zu. Der Artikel stellt fest, dass einer der möglichen Gründe dafür der religiöse Extremismus sein könnte, der in den letzten zwei Jahrzehnten im Irak präsent sei sowie die Auswirkungen von Religiosität auf das tägliche Leben sowie seinen autoritären Einfluss auf die Gesellschaft. Es gebe neben Atheisten auch jene Iraker, die sich als Agnostiker und nicht als vollwertige Atheisten bezeichnen. Darüber hinaus gebe es auch eine große Anzahl von Menschen, die bestimmte religiöse Manifestationen oder Glaubensvorstellungen kritisieren, jedoch den allgemeinen Rahmen der Religiosität nicht aufgeben. Viele von ihnen wären Absolventen religiöser Schulen. Al-Monitor stellt jedoch fest, dass das Phänomen (Atheismus und Agnostizismus) nicht auf junge Menschen beschränkt ist.
Im Jahr 2017 berichtet Al-Monitor in einem weiteren Artikel vom 22.06.2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die
Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solchen Gedankengutes mit einer „eisernen Faust“ entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. Hakims Aufruf richte sich gegen die irakische Verfassung, die Glaubensfreiheit und freie Meinungsäußerung garantiere sowie Anstiftung gegen Andere und Zwang, eine bestimmte Glaubensrichtung zu übernehmen oder abzulehnen, kriminalisiere. Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Wer die fundamentalen Glaubensvorstellungen des Islam und / oder die Grundprinzipien von Religion im Allgemeinen in Frage stellen würde, würde von der Gesellschaft geächtet.
Al-Monitor berichtet weiter zum Phänomen Atheismus im Irak, dass ein bekannter Buchladen in Bagdad eine steigende Anzahl junger Leute verzeichnet habe, die Bücher über Atheismus kaufen würden. Selbst in der heiligen Stadt Najaf und innerhalb religiöser schiitischer Einrichtungen habe Al-Monitor mit mehreren religiösen Studenten gesprochen, die nicht nur damit begonnen hätten, die grundsätzlichen Bekenntnisse des Islam in Frage zu stellen, sondern sogar die grundsätzlichen Prinzipien von Religion im Allgemeinen. Diese Studenten würden unverzüglich von der Gesellschaft ausgeschlossen wenn sie ihre Auffassungen offen kundtun würden. Der Menschenrechtsaktivist, Autor und Satiriker Faisal al-Mutar habe al-Monitor gegenüber berichtet, dass Atheisten im Irak unter schwierigen Umständen leben würden, da die Regierung mehrheitlich aus islamischen Parteien bestehe und islamisch geprägte Milizen die Gesellschaft kontrollieren würden. Laut Faisal, der irakischen Atheisten auf sozialen Medien folgen würde, sei die Anzahl von Atheisten in verschiedenen Regionen des Irak steigend. Er habe vor kurzem die Organisation Ideas Beyond Borders gegründet, die irakische Atheisten verteidige und ihnen helfe, sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Viele (eine genaue Anzahl wird nicht genannt) Atheisten seien aufgrund von Schikanen und Drohungen gezwungen gewesen, aus dem Irak zu fliehen.
In einem Artikel vom 01.04.2018 berichtet Al-Monitor, dass Aussagen über die Dimension Atheismus im Irak sei aufgrund von Missverständnissen über das Konzept schwierig wären. Viele Kleriker, die den islamischen politischen Parteien nahestehen, setzen den Säkularismus mit dem Atheismus gleich. Andere Geistliche würden den Standpunkt einnehmen, dass liberale und kommunistische Ideen inhärent antireligiös sind und lehren würden, dass Gott nicht existiert. Nach dem gleichen Artikel haben gegen Atheismus gerichtet Aktivitäten starke politische Verbindungen zu islamischen Parteien, die den Irak seit 2003 regieren. Einer Gallup-Studie zufolge waren im Jahr 2012 88% der Iraker religiös. In einem von PRI (Public Radio International, ein in Minneapolis beheimatetes Non-Profit-Netzwerk von weltweiten öffentlich-rechtlichen Sendern) am 17. Januar 2018 veröffentlichten Artikel heißt es, dass Atheismus im Irak eher selten vertreten ist, die Zahl der Atheisten jedoch steigt.
Einem Artikel im Atlantic vom Juli 2018 zufolge nimmt unter den Jugendlichen im Irak die Säkularisierung zu. Buchhandlungen, Cafés und Facebook bieten Foren, in denen säkulare Ideen diskutiert werden. Der Artikel erwähnt Facebook-Gruppen mit Tausenden von Mitgliedern.
Senyar, eine Online-Zeitschrift für Kultur und Unterhaltung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, berichtet im März 2015 über die Mutanabbi-Straße in Bagdad, die als Kulturzentrum bekannt sei und in der man allerlei Bücher mit sensiblem Inhalt kaufen könne, darunter auch die Werke des britischen Atheisten Richard Dawkins oder „Die Satanischen Verse“ des Schriftstellers Salman Rushdie. Der Artikel erwähnt, dass zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels die meisten strenggläubigen Strafverfolgungsbeamten, die normalerweise den Bücher- und Alkoholverkäufern hinterherjagen würden, an der Front gegen den Islamischen Staat kämpfen würden. Daher gebe es weniger Aufsicht von offizieller Seite. Wie es scheine, seien die Behörden stärker darauf bedacht, Bücher und Websites zu verbieten, die die konfessionellen Spaltungen anheizen würden, als Atheisten zu verfolgen.
Die Religion News Service (RNS) berichtet im Dezember 2013, dass es laut Abdul Sattar Jawad, einem Gastprofessor an der Duke University (USA) und Experten für Nahost-Studien, falsch, anzunehmen, dass es im Nahen Osten eine weit verbreitete Verfolgung nicht religiöser Menschen gebe. Obwohl es religiöse Führer gebe, die nicht gläubige Menschen hassen oder ablehnen würden, werde die meiste Gewalt von „Extremisten“ verübt. Atheismus könne toleriert werden, wenn man sich nicht gegen die herrschenden Familien, Parteien, aufwiegelnden Geistlichen, Politiker und despotischen Herrscher und Regierungen stelle.
Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Jänner 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiters. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen.
Die in saudischem Besitz befindliche, in London herausgegebene Onlinezeitung Elaph schreibt im August 2017, dass sich in den letzten Jahren das Phänomen des Atheismus insbesondere unter jungen Leuten im Irak ausgebreitet habe. Dies sei auf die Korruption in der Regierung und die Verbreitung von Technologie in allen Bereichen des Lebens zurückzuführen. Andere würden das Phänomen hingegen nicht als einen „echten Atheismus“, sondern viel mehr als eine Reaktion auf religiöse politische Parteien deuten. Der Autor des Artikels, der aus Bagdad berichtet, habe sich schließlich mit jemandem, der sich als Atheist bezeichne und weder an Gott noch die Propheten glaube, in einem Café getroffen. Weit entfernt von allen anderen Cafébesuchern habe der Atheist begonnen, von seiner Überzeugung zu erzählen und davon, wie er vor Jahren Zweifel an der Existenz Gottes bekommen habe und diese dann durch das Töten bestätigt worden sei, das gerade im Irak vorherrsche. Ein Bettler, der das Café betreten habe, habe laut zum Gebet aufgerufen. Der Atheist habe laut hörbar den Ruf mit der gebräuchlichen Antwort erwidert.
Die Wochenzeitung TheArab Weekly, die in den USA, in Großbritannien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten gedruckt wird, schreibt in einem Artikel vom 20.7.2019, dass Atheisten im Irak eine wachsende Minderheit sind, die sich nicht mehr im politischen Abseits befindet und zunehmend am Radar des Staates aufscheint. Die zunehmende Prävalenz von Atheismus und Agnostizismus zeigt einen Wandel der öffentlichen Meinung. Im Irak könne ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus oder Unglaube an den Islam jedoch ein Todesurteil sein. Es erscheinen immer mehr Aussagen/Erfahrungsberichte von mutigen Frauen dazu online, die sich der Zensur entgegenstellen.
Über die Lage einzelner Atheisten geben nachstehende Berichte Aufschluss:
Die US-amerikanische Tageszeitung The Washington Times veröffentlicht im August 2017 einen Artikel über die Lage von Atheisten in der arabischen Welt. Sie berichtet unter anderem über Lara Ahmed, eine Studentin an der Universität Babylon (Provinz Babil) die ein Kopftuch trage und sich wie eine Muslimin verhalte, jedoch Atheistin sei. Sie wage es nicht, ihre Ansichten mit Fremden zu teilen. Es sei auch schwierig, im Südirak kein Kopftuch zu tragen, und die wenigen Frauen, die sich kein Kopftuch anziehen würden, würden laufend schikaniert. Viele Atheisten in der arabischen Welt würden angeben, sich weniger davor zu fürchten, für ihre Ansichten bestraft zu werden, als von gewaltsamen konfessionellen Gruppen, die die politische Unterstützung der Gläubigen suchen würden, angegriffen zu werden. Osama Dakhel, ein 21-jähriger Student der bildenden Künste in Bagdad, berichtet wie seine atheistischen Freunde sich zunächst ausgiebig mit dem Islam befasst, dann die Werke islamischer Reformatoren gelesen und sich schließlich mit Atheisten online ausgetauscht und so zu ihrer atheistischen Weltanschauung gekommen seien.
Khaleej Online berichtet in einem Artikel vom November 2016 über den 26-jährigen Hussein al-Nujaifi, der, obwohl er aus einer muslimischen Familie stamme, nun der atheistischen Strömung angehöre. Hussein habe vor drei Jahren sein Studium beendet und arbeite nun in einem Büro in Bagdad. Laut ihm seien „die Gläubigen“ für das Töten und die Zerstörung verantwortlich, die es seit 2003 im Land gebe. Hussein und viele andere Leute, so Al-Khaleej Online, seien davon überzeugt, dass der Irak von einer Gruppe Geistlicher kontrolliert werde, die das Töten Unschuldiger und die Zerstörung des Landes unterstützen würden. Für gebildete junge Leute stelle der Atheismus eine Art Zuflucht für ihre Ambitionen dar, da sie nach Frieden suchen würden und davon ausgehen würden, dass die Klasse von Politikern, die islamischen Gremien vorstehen und religiöse Predigten halten würden, diesen verloren hätten.
Ahmad al-Dschumaili, ein Maler, habe al-Khaleej Online gesagt, dass Atheismus für ihn die Rettung vor der „Brutalität der Extremisten“ sei, jedoch sei es für eine Person nicht leicht, sich zu ihrem Atheismus zu bekennen, dies gelte insbesondere in den Gebieten, in denen Einheiten der Volksmobilisierung Kontrolle ausüben würden. Dort, so al-Dschumaili, würden solche Personen bestimmt getötet.
Dschamal al-Bahadli, ein Atheist der auf sozialen Medien offen über seine Auffassungen spreche, hat gegenüber Al-Monitor angegeben dass er Todesdrohungen von schiitischen Milizen in Bagdad erhalten habe, was ihn 2015 dazu veranlasst habe, nach Deutschland zu emigrieren.
Die schwedische non-profit Organisation und Medienplattform Your Middle East berichtet in einem Beitrag zum Thema Atheismus im Irak vom Februar 2014 über einen irakischen Aktivisten, dessen Mission es sei, seine Freunde und andere junge Menschen über Atheismus aufzuklären. Der Aktivist, der sich den Namen Omar al-Baghdadi gegeben habe, lebe in einem zumeist von Sunniten bewohnten Viertel in Bagdad. Seine Freunde und Eltern wüssten, dass er Atheist sei. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der nicht mehr existenten kurdischen Nachrichtenagentur AKnews seien irakische Bürger befragt worden, ob sie an Gott glauben würden. Vier Prozent hätten mit „wahrscheinlich nicht“ und sieben Prozent mit „Nein“ geantwortet. Laut Nawaf Al-Kaabi, einem Studenten aus Basra, könne die Zahl der Atheisten 2014 noch weit höher liegen. Junge Iraker seien des religiösen Extremismus und der Politiker überdrüssig, die für die konfessionellen Spaltungen im Land verantwortlich seien. Sie würden reisen, lesen, Fernsehen und Internet nutzen; durch die vielen verfügbaren Informationen seien sie daher zunehmend der Religion gegenüber skeptisch eingestellt. Al-Kaabi stimme jedoch auch zu, dass viele
Atheisten im Irak, wenn sie offen über ihre Auffassungen sprechen würden, einer Gefahr durch Extremisten und Milizen, die in Verbindung mit religiösen Gruppen stehen würden, ausgesetzt sein könnten.
Eine irakische Biologin aus Kerbala berichtete dem bereits zitierten Artikel der Wochenzeitung TheArab Weekly zufolge davon, von ihren Brüdern verprügelt worden zu sein, weil sie Zweifel an ihrem Glauben geäußert hatte. Sie wurde dann unter Polizeischutz gestellt.
Zur Rechtslage wird berichtet, dass die Verfassung der Republik Irak besagt, dass der Islam die offizielle Religion des Staates ist und dass kein Gesetz, das dem Islam widerspricht, erlassen werden kann. Die Verfassung sieht vor, dass „jeder Einzelne die Freiheit des Denkens, des Gewissens und des Glaubens“ (Artikel 42) hat, und garantiert „die vollen religiösen Rechte aller Menschen auf Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit wie Christen, Yeziden und Saba-Mandäer“ (Artikel 2) und sieht vor, dass alle Iraker vor dem Gesetz gleich sind und nicht aufgrund der Religion oder der Weltanschauung diskriminiert werden dürfen.
Atheismus ist im Irak nicht unter Strafe gestellt. Nach Artikel 372 des irakischen Strafgesetzbuches 1969 ist jedoch die Beleidigung einer Religion bzw. einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Praktiken, oder die öffentliche Beleidigung eines Symbols oder einer Person, die Gegenstand der Heiligung, des Gottesdienstes oder des Gottesdienstes ist, strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe von höchstens drei Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 300 irakischen Dinar bestraft.
Einer Quelle zufolge kann der Straftatbestand der Religionsbeleidigung von Behörden in der Praxis auch gegen Atheisten eingesetzt werden. Als Beispiel dafür wie die Ausstellung von Haftbefehlen gegen vier Personen im Distrikt Garraf (Provinz Dhi Qar) angeführt. Den Personen wurde vorgeworfen, „Seminare während geselliger Treffen abzuhalten, um die Idee von der Nichtexistenz Gottes zu verbreiten und den Atheismus zu verbreiten und zu popularisieren“. Die Ankündigung löste eine heftige Reaktion in den Medien und sozialen Netzwerken aus, da viele Iraker der Meinung sind, dies würde die Rechte des irakischen Volkes verletzen, dessen Verfassung ihnen Glaubens-und Meinungsfreiheit garantiert. Andere Beobachter haben eine politischen Aspekte dieser Aktion betont. Von den vier Personen wurde nur eine Person festgenommen. Ein Analyst kritisierte die Erlassung der Haftbefehle als gesetzwidrig. Medienberichten zufolge wurde eine Person in der Folge erstinstanzlich zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, ob das Urteil in Rechtskraft erwuchs bzw. vollzogene wurde, kann nicht festgestellt werden.
Weitere Berichte in Medien betreffen Ahmad Sherwan, der 16-jährigen Schüler aus Erbil, der im Jahr 2014 behauptete, er sei von der kurdischen Polizei gefoltert worden, weil er sich zum Atheisten erklärt habe. Er behauptete, er sei zu Hause verhaftet worden, nachdem sein Vater ihn als Atheist der Polizei gemeldet hatte. Laut seiner Aussage wurde er auf der Polizeiwache Azadi in Erbil und anschließend im Strafgefängnis Erbil gefoltert, wo er nach 13 Tagen gegen eine Sicherheitsleistung freigelassen wurde. Sherwan erklärte auch, dass er während seiner Haft von einem Sozialarbeiter und einem Richter beleidigt und bedroht wurde. Der Richter, der ihn schließlich gegen Kaution freiließ, nannte ihn angeblich einen „Ungläubigen“. Die Polizei von Erbil erklärte, dass der Jugendliche festgenommen worden sei, bestritt jedoch, dass er gefoltert worden sei. Weitere Informationen zu einem späteren Gerichtsverfahren konnten nicht gefunden werden.
Der Buchhändler Ihsan Mousa wurde Medienberichten zufolge Ende 2018 bei einer Razzia der Polizei in seiner Buchhandlung verhaftet. In einer offiziellen Erklärung wurde mitgeteilt, dass Mousa wegen „des Versuchs der Förderung und Verbreitung des Atheismus" angeklagt sei. Die Gemeinde habe sich daraufhin sich hinter Mousa gestellt. Der irakische Schriftsteller Ahmad al-Saadawi kritisierte die Verhaftung und die sich daraus entwickelnde Diskussion als „trivial und dumm" und fügte hinzu, dass „die Behörden versuchen, durch die Einführung einer Kultur der Prävention und Kontrolle Legitimität aufzubauen". Das Klima der Zensur im Irak, wie der Fall Mousa unterstreicht, erklärt die Existenz eines weitläufigen, frei denkenden Online-Netzwerks von Atheisten. Mousa wurde in der Folge nach dem Versprechen freigelassen, „beleidigende Bücher“ nicht mehr zu verkaufen.
Zu allfälligen Einschränkungen für Atheisten beim Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt liegen keine Erkenntnisse vor (Quellen: European Asylum Support Office: Treatment of atheists in Iraq, 11.08.2018; ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen, 18.09.2017; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.12.2018 betreffen Probleme durch westliches Auftreten in Basra; EASO Country of Origin Information Report Iraq, Targeting of Individuals, März 2019; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 01.10.2019 betreffend Verfolgungshandlungen gegenüber Atheisten im Irak).
2. Beweiswürdigung
Beweis wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, der von ihm vorgelegten Beweismittel, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes, durch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und die Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften länderkundlichen aktuellen Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers, welche ihm, wie bereits ausgeführt, übermittelt wurden und dieser dazu Stellung bezog.
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Die personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen in diesem Punkt einheitlichen, im Wesentlichen widerspruchsfreien Angaben sowie seinen im Verfahren vorgewiesenen Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens des Beschwerdeführers vorgelegten Bescheinigungsmitteln. Die Identität des Beschwerdeführers steht aufgrund der vorgelegten irakischen Dokumente fest, welche dadurch bekräftigt werden, dass der Beschwerdeführer stets gleichbleibende Angaben zu seiner Identität abgab.
Der Beschwerdeführer gab glaubhaft an, dass er zwar ursprünglich moslemischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung war, der Glaube jedoch nie besonderen Stellenwert für ihn gehabt hat. Dass der Beschwerdeführer inzwischen seine Religion gänzlich abgelegt hat, war festzustellen, da er diesbezüglich seit der Erstbefragung im Mai 2015 in Einklang stehende Angaben gemacht hat. Auch sein vorgebrachter Beweggrund dafür, jegliche Religion abzulehnen, ist für das Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar, da der Beschwerdeführer diesbezüglich vorbrachte, dass die kriegerischen Vorgänge im arabischen Raum seiner Ansicht nach ihren Ursprung in religiösen Rivalitäten habe, was der Beschwerdeführer nicht nachvollziehen könne. Zudem wolle er weder für die eine noch die andere Seite kämpfen, zumal er für keine Religion tätig sein wolle.
2.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu den Rückkehrbefürchtungen
Zur Ausreise aufgrund der Sicherheitslage:
Es ist glaubhaft, dass der Beschwerdeführer mit seiner Familie 2015 zunächst den Heimatort Tikrit verlassen hat, da die Familie Angst vor dem IS gehabt hat. Es ist auch glaubhaft, dass der Beschwerdeführer danach den Irak verlassen hat, da er Angst gehabt hat, gezwungen zu werden, in den Krieg ziehen zu müssen. Aktuell ist eine derartige Gefährdungslage bei einer Rückkehr in den Irak jedoch nicht glaubhaft.
Aufgrund der Länderberichte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer solchen extremen Gefährdungslage gesprochen werden, dass gleich