TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/1 L519 2114540-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2020
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Entscheidungsdatum

01.12.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L519 2114540-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Armenien, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX wegen §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz (AsylG 2005) und §§ 46, 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bezeichnet), ein Staatsangehöriger von Armenien, brachte nach nicht rechtmäßiger Einreise am 24.10.2012 bei der belangten Behörde einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF im Wesentlichen Folgendes vor: Er wäre ca. zehn Jahre bei drei Personen in XXXX , Kasachstan, als Sklave beschäftigt gewesen. Weil er geschlagen worden sei, hätte er das Land verlassen.

Vor dem Bundesasylamt brachte der BF am 15.05.2013 zusammengefasst vor, dass er mit 14 Jahren begann, Hilfstätigkeiten auf Baustellen auszuführen. Diese Tätigkeiten hätte er ca. zehn Jahre verrichtet. Er wäre dabei mit zwei anderen Jugendlichen für einen Kasachen und zwei Russen tätig gewesen. Der BF und die beiden anderen Jugendlichen hätten in einer Baracke in einem Wald nahe XXXX genächtigt und wären von dort zu den jeweiligen Baustellen und am Abend wieder zurück transportiert worden. Der BF wäre zur Arbeit gezwungen und auch geschlagen worden. Eine Meldung bei der Polizei hätte die Situation noch verschlimmert, weil der Polizist auch Teil dieser Organisation gewesen sei. Im Mai 2012 wäre es dem BF schließlich gelungen, zu Fuß durch den Wald nach XXXX zu flüchten und von dort mit einem Auto nach XXXX zu gelangen, von wo er mit einem Flugzeug nach Österreich flog. Zur möglichen Rückkehr befragt, führt der BF an, dass er Angst habe umgebracht zu werden, weil er zur armenischen Volksgruppe gehöre.

Am 16.10.2013 wurde der BF vom Bundesasylamt einer Sprachanalyse durch das Sprachinstitut SPRAKAB zugeführt.

Zum Ergebnis der Sprachanalyse fand am 11.06.2015 vor dem BFA eine neuerliche Befragung des BF statt. Die Sprachanalyse ergab, dass der BF Armenisch auf Muttersprachenniveau spricht, weswegen der sprachliche Hintergrund mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in Armenien liegt. Zum Ergebnis der Sprachanalyse führte der BF aus, dass er nicht aus Armenien sei und das Gutachten auch nicht akzeptiere. Weiter wurden vom BF mehrere Bestätigungen und Diplome vorgelegt.

2. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des BF nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

2.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus:

Aufgrund der erfolgten Sprachanalyse gehe das BFA davon aus, dass es sich beim BF um einen armenischen Staatsbürger handle. Die Angaben des BF wären in sich grob widersprüchlich und nicht glaubhaft. Das Vorbringen beruhe auf allgemein gehaltenen Darlegungen, dem BF waren keine konkreten und detaillierten Angaben möglich. Der BF stellt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Ziel staatlicher Verfolgungsmaßnahmen aus den in der GFK oder anderen Gründen dar und ist infolgedessen kein internationaler Schutz erforderlich.

2.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Armenien traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

2.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK, noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam.

Es hätten sich weiter keine Hinweise für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK (§§ 55, 10 Abs. 2 AsylG 2005) dar.

3. Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

In der Beschwerde wurde mangelhaftes Verfahren geltend gemacht. Im Wesentlichen wurde weiter vorgebracht, dass es sich beim BF um keinen armenischen Staatsangehörigen handle. Der BF habe keinen Rückhalt durch ein familiäres Netzwerk in Armenien und würde eine Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in sein Privatleben darstellen. Bezüglich der Integration wird auf die absolvierten Deutschkurse und ehrenamtliche Tätigkeiten verwiesen.

4. Für den 22.10.2015 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung, an der der BF teilnahm.

5. Am 05.11.2015 wurde das BFA gem. § 55 Abs. 1 AVG mit der Erstellung einer Sprach- und Herkunftsanalyse beauftragt.

6. Am 04.07.2016 langte das beauftragte Gutachten ein. Zusammengefasst wurde darin vorgebracht, dass es sich bei der Herkunftsregion des BF aufgrund der geographisch-sprachlichen Zuordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit um Armenien handelt. Bei BF würde es sich demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Bewohner des Südkaukasus, Armenien, handeln.

6. Mit Schreiben des BVwG vom 15.07.2016 wurde dem BF das Ergebnis der Sprachanalyse mit der Einladung übermittelt, dazu innerhalb von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Gleichzeitig wurde der BF aufgefordert, relevante Änderungen in seinem Privat- und Familienleben unter gleichzeitiger Vorlage von Bescheinigungsmitteln bekanntzugeben.

7. Mit Eingabe vom 27.07.2016 teilte der BF zur Sprachanalyse zusammengefasst mit, dass er nicht aus Armenien sei, verweist auf die gute Integration und übermittelt einen Arbeitsvertrag mit der Fa. XXXX in XXXX .

8. Mit Eingabe vom 20.05.2020 langte eine Meldung des Bundeskriminalamtes betreffend Personsfeststellung iSd § 65 Sicherheitspolizeigesetz ein. Darin wird mitgeteilt, dass eine Person mit den Daten des BF in der Einwohner-, den grenzpolizeilichen und kriminalpolizeilichen Evidenzen in Armenien nicht aufscheint.

9. Mit Schreiben des BVwG vom 22.10.2020 wurden dem BF die aktuellen Länderfeststellungen zur asyl- und abschieberelevanten Lage in Armenien und in Aserbaidschan mit der Einladung übermittelt, dazu bis 03.11.2020 (Einlangen BVwG) eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Gleichzeitig wurde der BF aufgefordert, relevante Änderungen in seinem Privat- und Familienleben unter gleichzeitiger Vorlage von Bescheinigungsmitteln bekanntzugeben.

10. Die gewillkürte Vertretung des Beschwerdeführers übermittelte mit Eingabe vom 02.11.2020 eine Stellungnahme, in der primär auf die Eingaben vom 11.09.2015 und 27.07.2016 verwiesen wird. Wiederholt wurde ausgeführt, dass es sich beim BF um keinen Staatsangehörigen von Armenien handelt. Verwiesen wurde zudem auf die Lage der Armenier in Aserbaidschan und die aktuelle Situation in Berg-Karabach. Der BF würde im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten und würde somit ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK drohen. Abschließend wird noch auf die gute Integration verwiesen und wurden zudem ein Arbeitsvertrag, diverse Bestätigungen und Unterstützungsschreiben übermittelt.

11. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, er ist Staatsangehöriger von Armenien, Angehöriger der armenischen Volksgruppe und der christlich armenischen Glaubensrichtung. Die Identität steht nicht fest.

Der BF ist ledig und kinderlos. Der Beschwerdeführer beherrscht die Sprachen Armenisch, Russisch und Deutsch.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in XXXX , Aserbaidschan, geboren wurde und bis zur Ermordung seiner Eltern mit diesen bis 1990 in XXXX lebte. Weiter kann nicht festgestellt werden, dass der BF von 1990 bis 1995 bei seiner Großmutter in XXXX (Russland) und danach in XXXX (Kasachstan) lebte. Auch nicht festgestellt werden konnte, dass der BF ab 2002 zehn Jahre lang mit Hilfstätigkeiten auf diversen Baustellen seinen Lebensunterhalt verdiente.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Er leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer keine Schule besuchte.

Ob in Armenien Familienangehörige des BF aufhältig sind, kann nicht festgestellt werden.

Am 24.10.2012 verließ der Beschwerdeführer Kasachstan illegal mit dem Flugzeug nach Österreich, wo er am gleichen Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine Ausweisdokumente.

1.2. Zu den Ausreisegründen des Beschwerdeführers und zur Rückkehrgefährdung:

1.2.1. Der BF gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten aufgrund seiner armenischen Volksgruppenzugehörigkeit oder aufgrund seines christlich armenischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der BF hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/ oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Der BF ist im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht der Gefahr von Übergriffen durch extremistische Gruppierungen ausgesetzt.

Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass wider den Beschwerdeführer in Armenien ein Haftbefehl besteht oder er in anderer Weise von zivilen oder militärischen Behörden oder Gerichten gesucht würde oder ihm im Fall einer Rückkehr Strafverfolgung drohen würde.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge.

Die armenische Hauptstadt Jerewan ist im Luftweg mit Linienflügen direkt und gefahrlos erreichbar.

1.2.3. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch und verfügt über eine Berufserfahrung als Hilfsarbeiter im Baugewerbe. Der BF wird in Armenien in die Gesellschaft integriert, er hat Zugang zu allen Berufsgruppen und überdurchschnittlich gute Chancen, Arbeit zu finden. Der armenische Migrationsdienst steht Rückkehrern mit vorübergehender Unterkunft und Beratung zur Seite. Dem BF ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Die Hauptstadt Jerewan ist für den BF – wie zuvor festgestellt – auch direkt erreichbar.

1.3. Zur Lage des Beschwerdeführers im Bundesgebiet:

1.3.1. Der Beschwerdeführer hält sich seit etwa Oktober 2012 im Bundesgebiet auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Für die Gemeinde XXXX war er 2013 als Aushilfskraft im Schwimmbad beschäftigt. Im September verrichtete der BF für die Gemeinde XXXX an 13 Tagen handwerkliche Tätigkeiten. Die „ XXXX Sozialen Dienste“ bestätigen, dass der BF seit Jänner 2014 im Wohnheim mitarbeitet und dort das Reinigungsteam unterstützt. In der Zahnarztpraxis des XXXX in XXXX führt der BF fallweise kostenlose Dolmetschdienste durch. Vom BF wurde am 26.07.2016 ein mit dem Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels aufschiebend bedingter Arbeitsvertag mit der XXXX in XXXX (Vollzeit, Nettolohn € 1.300,-) und am 02.11.2020 mit der Firma XXXX in XXXX (Vollzeit, Bruttogehalt von € 2.000,-) eingebracht.

Der Beschwerdeführer legte eine Bestätigung der Institution XXXX über den Besuch des Kurses „Grundlagen Deutsch“ im Ausmaß von 30 UE vor. Vom BF wurden folgende Diplome vorgelegt: ÖSD A2 Grundstufe Deutsch 2, vom 18.12.2013, ÖSD B1 Zertifikat Deutsch vom 07.10.2014, Zeugnis zur Integrationsprüfung des ÖIF vom 22.11.2019 über die bestandene Prüfung auf Niveau B1.

Zur Vorlage gelangte weiters eine ärztliche Bestätigung vom 11.09.2014, in der dem BF Migräne attestiert wird. Ein neurologischer Befund bestätigt die Migräne und empfiehlt zur Behandlung weiterhin Nasenspray bei Bedarf zu verwenden.

Der Beschwerdeführer legte ein undatiertes Schreiben des SK XXXX vor, in dem bestätigt wird, dass er Mitglied des Vereins ist und dort Fußball spielt. Weiter wurde ein Konvolut von Unterstützungsschreiben vorgelegt.

Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und hat in Österreich keine nahen Verwandten. Er pflegt geringe soziale Kontakte und ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig.

1.3.2. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

1        Politische Lage

Letzte Änderung: 02.09.2020

Armenien (arm.: Hayastan) umfasst knapp 29.800 km2 und hatte im ersten Quartal 2019 eine Einwohnerzahl von 2,96 Millionen, was einen Rückgang von 0,3% zum Vergleichszeitraum des Vorjahres ausmachte (ArmStat 7.5.2019). Davon sind laut der Volkszählung von 2011 98,1% ethnische Armenier. Den Rest bilden kleinere Ethnien wie Jesiden und Russen (CIA 14.2.2019).

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 findet in Armenien ein umfangreicher Re-formprozess auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene hin zu einem demo-kratisch und marktwirtschaftlich strukturierten Staat statt. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9.12.2018 konnten nach übereinstimmender Meinung aller Wahlbeobachter als frei und fair bezeichnet werden. Die im Dezember 2015 per Referendum gebilligte Verfassungsreform zielt auf den Umbau von einer semi-präsidialen in eine parlamentarische Demokratie ab. Die Än-derungen betreffen u.a. eine Ausweitung des Grundrechtekatalogs sowie die weitere Stärkung des Parlaments (auch der Opposition). Das Amt des Staatspräsidenten wurde im Wesentli¬chen auf repräsentative Aufgaben reduziert, gleichzeitig die Rolle des Premierministers und des Parlaments gestärkt (AA 27.4.2020). Der Premierminister und der Präsident werden vom Parlament gewählt. Der Premierminister ist der Regierungsvorsitzende, während der Präsident vorwiegend zeremonielle Funktionen ausübt (USDOS 11.3.2020).

Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde im Mai 2018 vom Parlament zum Premierminister gewählt, nachdem er wochenlange Massenproteste gegen die Regierungspartei angeführt und damit die politische Landschaft des Landes verändert hatte. Er hatte Druck auf die regierende Republikanische Partei durch eine beispiellose Kampagne des zivilen Ungehorsams ausgeübt, was zum schockartigen Rücktritt Serzh Sargsyans führte, der kurz zuvor das verfassungsmä¬ßig gestärkte Amt des Premierministers übernommen hatte, nachdem er zehn Jahre lang als Präsident gedient hatte (BBC 20.12.2018; vgl. AA 27.4.2020). Bei den als „Samtene Revo¬lution" bezeichneten Demonstrationen im April/Mai 2018 verhielten sich die Sicherheitskräfte zurückhaltend. Auch die Demonstranten waren bedacht, keinerlei Anlass zum Eingreifen der Sicherheitskräfte zu bieten (AA 27.4.2020).

Am 9.12.2018 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, welche unter Achtung der Grund-freiheiten ein breites öffentliches Vertrauen genossen. Die offene politische Debatte, auch in den Medien, trug zu einem lebhaften Wahlkampf bei. Das generelle Fehlen von Verstößen gegen die Wahlordnung, einschließlich des Kaufs von Stimmen und des Drucks auf die Wäh¬ler, ermöglichte einen unverfälschten Wettbewerb (OSCE/ODIHR 10.12.2018). Die Allianz des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan unter dem Namen „Mein Schritt" erzielte einen Erdrutschsieg und erreichte 70,4% der Stimmen. Die ehemalige mit absoluter Mehrheit regie-rende Republikanische Partei (HHK) erreichte nur 4,7% und verpasste die 5-Prozent-Marke, um in die 101-Sitze umfassende Nationalversammlung einzuziehen. Die Partei „Blühendes Armenien" (BHK) des Geschäftsmannes Gagik Tsarukyan gewann 8,3%. An dritter Stelle lag die liberale, pro-westliche Partei „Leuchtendes Armenien" unter Führung Edmon Maruyian, des einstigen Verbündeten von Paschinjan, mit 6,4% (RFE/RL 10.12.2018; vgl. ARMENPRESS 10.12.2018).

Zu den primären Zielen der Regierung unter Premierminister Paschinjan gehören die Bekämp-fung der Korruption und Wirtschaftsreformen (RFL/RL 14.1.2019; vgl. FH 4.3.2020) sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz (168hours 20.7.2018; vgl. FH 4.3.2020). Seit Paschinjans Machtübernahme hat sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert und dessen Regierung geht bestehende Menschenrechts-Defizite weitaus engagierter als die Vorgängerregierungen an, auch wenn immer noch Defizite bei der konsequenten Umsetzung der Gesetze bestehen (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        ARMENPRESS-Armenian News Agency (10.12.2018): My Step - 70.44%, Prosperous Armenia - 8.27%, Bright Armenia - 6.37%: CEC approves protocol of preliminary results ofsnap elections, https://armenpress.am/eng/news/957626.html , Zugriff 21.3.2019

•        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (7.5.2019): Economic and Financial Data for the Republic of Armenia, https://armstat.am/nsdp/, Zugriff 8.5.2019

•        BBC News (20.12.2018):Armenia country profile, https://www.bbc.com/news/world-europ e-17398605 , Zugriff 21.3.2019

•        CIA - Central Intelligence Agency (30.4.2.2019): The World Factbook, Armenia; https: //www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html, Zugriff 7.5.2019

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Armenia, https://freedomh ouse.org/country/armenia/freedom-world/2020 , Zugriff 24.4.2020

•        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Office for De- mocratic Institutions and Human Rights et alia (10.12.2018): Armenia, Parliamentary

Elections, 2 April 2017: Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https: //www.osce.org/odihr/elections/armenia/405890?download=true , Zugriff 21.3.2019

•        RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (10.12.2018): Monitors Hail Armenian Vote, Call For Further Electoral Reforms, https://www.rferl.org/a7monitors-hail-armenia-s-snap -polls-call-for-further-electoral-reforms/29647816.html , 21.3.2019

•        RFE/RL - Radio Free Europe/ Radio Liberty (14.1.2019): Pashinian Reappointed Armeni-an PM After Securing Parliament Majority, https://www.rferl.org/aypashinian-reappointed- armenian-pm-after-securing-parliament-majority/29708811.html , Zugriff 21.3.2019

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

•        168hours (20.7.2018): Fight against corruption and creation of independent judiciary main pillars of government’s economic policy- PM Paschinjan, https://en.168.am/2018/07/20 /26637.html , Zugriff 21.3.2019

2        Sicherheitslage

Letzte Änderung: 28.09.2020

Hinsichtlich Bergkarabach - das sowohl von Armenien als auch von Aserbaidschan beansprucht wird - besteht die Gefahr erneuter Feindseligkeiten aufgrund des Scheiterns der Vermittlungsbe¬mühungen, der zunehmenden Militarisierung und häufiger Verletzungen des Waffenstillstands. Im Oktober 2017 trafen sich die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans unter der Schirm¬herrschaft der Minsk-Gruppe, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleiteten Vermittlungsgruppe, in Genf und begannen eine Reihe von Gesprä¬chen über eine mögliche Lösung des Konflikts. In den letzten Jahren haben Artilleriebeschüsse und kleinere Gefechte zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen Hunderte von Toten gefordert. Anfang April 2016 gab es die heftigsten Kämpfe seit 1994. (CFR 18.10.2019). Die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist geschlossen. Es gibt häufige Verlet¬zungen des Waffenstillstands von 1994 und militärische Stellungen entlang der Grenze. Es gibt immer wieder Zeiten erhöhter Spannungen, die die Sicherheitslage in den Grenzregionen unberechenbar machen können (FCO 15.6.2020, vgl. EDA 18.3.2020).

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Pa-schinjan vereinbarten bei ihrem ersten Treffen am Rande des Gipfels der Gemeinschaft Unab-hängiger Staaten, der am 27. und 28. September 2018 in Duschanbe stattfand, mehrere Schritte zum Abbau der Spannungen zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften, wie z.B. die Installierung einer direkten „operativen“ Kommunikationslinie zwischen den beiden Seiten und die Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts (Eurasianet 1.10.2018). In Folge kam es zu mehreren weiteren Treffen. Der laufende Prozess trug dazu bei, die Häufigkeit der Verletzungen des Waffenstillstandes deutlich zu reduzieren (ACLED 20.2.2020).

Angesichts neuer Kämpfe in der Unruheregion Berg-Karabach hat nach Armenien auch Aserbai¬dschan das Kriegsrecht verhängt (ORF Teletext 131, 28.9.2020 vgl. DerStandard 27.9.2020 vgl. Krone 27.9.2020). Der Konflikt um die seit Jahrzehnten umstrittenen Kaukasusregion ist wie¬der voll entbrannt. Laut der pro-armenischen Regionalregierung bombardierte Aserbaidschans Armee Ziele in Berg-Karabach. Von aserbaidschanischer Seite hieß es dagegen, die Armee habe eine Gegenoffensive begonnen, um Armeniens Militäraktivitäten in der Region zu stop¬pen (ORF Teletext 131, 28.9.2020). Es soll zahlreiche Verletzte und rund zehn Tote unter den Soldaten in dem Südkaukasus-Gebiet geben. Es handelt sich um die schwerste Eskalation seit Jahren. Zwischen den verfeindeten Nachbarländern kam es nach Angaben beider Seiten am Morgen des 27.9.2020 zu schweren Gefechten. Die Hauptstadt Stepanakert sei beschossen und zahlreiche Häuser in Dörfern seien zerstört worden. Unter den Opfern sind nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) auch Zivilisten. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld für die Gefechte (DerStandard 27.9.2020 vgl. Krone 27.9.2020).

UN-Generalsekretär Guterres hat ein sofortiges Ende der Kämpfe und die unverzügliche Auf-nahme von Verhandlungen gefordert. Auch die US-Regierung forderte eine Ende der Kämpfe. Das US-Außenministerium nahm nach eigenen Angaben zu beiden Seiten Kontakt auf und forderte die Konfliktparteien auf, die Kampfhandlungen sofort einzustellen (ORF Teletext 132,

28.9.2020) . Bereits im Juli 2020 kam es an der Grenze zwischen den verfeindeten Republiken zu schweren Gefechten; die Kämpfe lagen jedoch nördlich von Bergkarabach. Armenien setzt auf Russland als Schutzmacht, die dort Tausende Soldaten und Waffen stationiert hat. Das russische Außenministerium rief beide Seiten auf, das Feuer sofort einzustellen. Zudem sollten Baku und Eriwan Gespräche aufnehmen, um die Situation zu stabilisieren. Die benachbarte Türkei warf Armenien vor, internationales Recht zu verletzen. Das Außenministerium in Ankara teilte mit, es verurteile den „armenischen Angriff“ scharf. Die Türkei stehe an Aserbaidschans Seite. Der Iran hat angeboten, im eskalierenden Konflikt als Vermittler zu agieren (DerStandard

27.9.2020) .

Quellen:

•        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data Project (20.2.2020): Regional Overview: Central Asia and the Caucasus 9-15 February 2020, https://acleddata.com/2020/02/207r egional-overview-central-asia-and-the-caucasus-9-15-february-2020/, Zugriff 18.3.2020

•        CFR - Council on Foreign Relations (18.10.2019): Nagorno-Karabakh Conflict, https://www.cfr.org/global-conflict-tracker/conflict/nagorno-karabakh-conflict, Zugriff 24.6.2020

•        DerStandard (27.9.2020): Aserbaidschan und Armenien rufen wegen Berg-Karabach Kriegsrecht aus, https://www.derstandard.at/story/2000120287918/schwere-kaempfe-in- aserbaidschanischer-region-berg-karabach, Zugriff 28.9.2020

•        EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (18.3.2020): Rei-sehinweise für Armenien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-informati on/armenien/reisehinweise-armenien.html , Zugriff 25.6.2020

•        Eurasianet (1.10.2018): Aliyev and Paschinjan hold first talks, agree on tension-reducing measures, https://eurasianet.org/aliyev-and-Paschinjan-hold-first-talks-agree-on-tension -reducing-measures , Zugriff 21.3.2019

•        FCO-U.K. Foreign and Commonwealth Office (15.6.2020): Foreign travel adviceArmenia - Safety and Security, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/armenia/safety-and-secu rity , Zugriff 25.6.2020

•        Krone (27.9.2020): Aserbaidschan: Schwere Kämpfe in Unruheregion, https://www.kro- ne.at/2238964, Zugriff 28.9.202

•        ORF - Österreichischer Rundfunk, Teletext (28.9.2020): UNO und USA fordern Ende der Kämpfe, https://teletext.orf.at/channel/orf1/page/132/1, Zugriff 28.9.2020

•        ORF - Österreichischer Rundfunk, Teletext /28.9.2020): Kämpfe in der Region Berg- Karabach, https://teletext.orf.at/channel/orf1/page/131/1,Zugriff 28.9.2020

2.1      Regionale Problemzone: Bergkarabach (Nagorny Karabach)

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die sogenannte Republik Bergkarabach (’RBK’, russ.: Nagorny Karabach; in Armenien auch Arzach genannt) wird von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. Die aserbaidschanische Regierung besitzt faktisch keine Kontrolle über das Gebiet. Auch Armenien erkennt die ’Repu- blik Bergkarabach’ offiziell nicht an, praktisch sind beide aber wirtschaftlich und rechtlich stark verflochten. Die Bewohner von Bergkarabach erhalten neben ihrem RBK-Pass auch armeni-sche Pässe (AA 27.4.2020). Armenien finanziert 55% des Budgets der Republik Arzach (ChH

4.6.2020) .

Laut Angaben der Republik Arzach, umfasst das Gebiet mehr als 12.000 km2, wobei hiervon 1.041 km2 unter aserbaidschanischer Okkupation stünden. Die Bevölkerung belief sich 2013 auf rund 147.000 Einwohner, wovon 95% Armenier sind, nebst Russen, Ukrainern, Griechen, Georgiern und Aseri (NKR o.D.).

Die Republik Arzach kontrolliert das in Aserbaidschan früher als Autonome Region Bergkara- bach verwaltete Gebiet sowie weitere sieben Provinzen Aserbaidschans in den Grenzgebieten zu Armenien und Iran und in der Region umAgdam. Der Kreis Shahumyan nördlich der früheren Autonomen Region ist unter aserbaidschanischer Kontrolle, wird aber ebenfalls von der ’RBK’ beansprucht, da es sich nach deren Logik um ’von Aserbaidschan besetztes Gebiet’ mit ehemals armenischer Bevölkerungsmehrheit handelt. Insgesamt befindet sich etwa 13% des Staatsge¬biets von Aserbaidschan unter armenischer Kontrolle, d.h. der sog. Republik Bergkarabach (AA 27.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Nach der Verfassung ist der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef und hat die volle Autorität, Kabinettsmitglieder zu ernennen und zu entlassen. Im September 2017 wurde das Amt des Premierministers abgeschafft (FH 4.3.2020k).

Am 31.3.2020 fanden in Berg-Karabach - international nicht anerkannte - Parlaments- und Prä-sidentschaftswahlen statt (HBS 2.4.2020). Die Partei des Freien Vaterlandes von Harutjunyan gewann bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen und wird 16 der 33 Sitze kon-trollieren, während die größte Oppositionskraft, die Partei der Vereinigten Heimat von Samvel Babajan, neun Sitze erhielt (CW 16.4.2020).

Bei der Wahl zum Präsidenten wurde ein zweiter Wahlgang notwendig, der am 14.4.2020, trotz des wegen COVID-19 zwei Tage zuvor ausgerufenen Notstandes, durchgeführt wurde. Die Notstandsregel verbietet öffentliche Versammlungen, beschränkt die Verkehrsanbindung innerhalb von Karabach und untersagt Bürgern Armeniens und anderer Länder die Einreise in die Region (CW 16.4.2020). Arayik Harutjunyan gewann mit mehr als 87% der abgegebenen Stimmen. Harutjunyan war 2017 bis 2018 Außenminister und 2007-2017 Premierminister der Republik Arzach (PA 15.4.2020) und verfehlte bereits im ersten Wahlgang am 31.3.2020 die notwendige Mehrheit nur um wenige hundert Stimmen (Armenpress 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020).

Armenische Wahlbeobachter berichten von weitverbreiteten Verletzungen des Wahlgeheimnis-ses (EN 1.4.2020). Kritisiert wurde weiters, dass wegen COVID-19 kein Wahlkampf geführt werden konnte wie in „normalen" Zeiten - und zudem der Urnengang selbst das Risiko einer weiteren Ausbreitung des Virus deutlich erhöht habe (HBS 2.4.2020; vgl. EN 1.4.2020). Der im zweiten Wahlgang unterlegene Präsidentschaftskandidat Masis Mailjan forderte die Wäh¬ler auf, wegen der Pandemie nicht an den Wahlen teilzunehmen und weigerte sich auch, an Fernsehdebatten teilzunehmen (CW 16.4.2020).

Die Republik Arzach wurde bis zu den Wahlen von Verbündeten der 2018 von Paschinjan ge-stürzten armenischen Regierung regiert. Die Führer des ehemaligen armenischen Regimes, darunter die ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan und Robert Kocharyan, unternahmen einige vage Anstrengungen, um über Berg-Karabach als letzte Bastion die Macht in Armenien wiederzugewinnen. Ihr favorisierter Kandidat, Vitaliy Balasanyan, versäumte bei den Präsiden-tenwahlen am 31.3.2020 den Einzug in den zweiten Wahlgang (EN 1.4.2020).

Die Justiz ist in der Praxis nicht unabhängig und die Gerichte werden von der Exekutive sowie von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Gruppen beeinflusst. Die Verfas-sung garantiert grundlegende Verfahrensrechte, aber Polizei und Gerichte halten diese in der Praxis nicht immer ein. Die Regierung kontrolliert viele der Medien. Im Jahr 2019 wurden Verän¬derungen durch die politische Öffnung in Armenien im Jahr 2018 mitbewirkt. Politische Kritiker der Führung, denen zuvor selbst kurze Auftritte verboten waren, wurden zu regelmäßigen Gäs¬ten in Sendungen zu aktuellen Themen. Darüber hinaus werden nun regelmäßig Debatten organisiert, um wichtige Themen des lokalen öffentlichen Lebens anzusprechen. Oppositions¬politiker haben auch gute Verbindungen zu unabhängigen Medien in Armenien, wodurch deren Ansichten auch in Berg-Karabach vermittelt werden. Dennoch praktizieren viele Journalisten Selbstzensur, insbesondere bei Themen im Zusammenhang mit dem Friedensprozess. Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit, lässt aber Einschränkungen im Namen der Sicher¬heit, der öffentlichen Ordnung und anderer staatlicher Interessen zu. In der Verfassung ist die Armenische Apostolische Kirche als 'nationale Kirche’ des armenischen Volkes verankert. Die Religionsfreiheit anderer Gruppen wird in der Praxis eingeschränkt. Proteste sind in der Praxis relativ selten. Die Behörden blockieren Versammlungen und Demonstrationen, wenn sie diese als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrnehmen (FH 4.3.2020).

Es gibt keine Erkenntnisse, wonach Personen bei Bekanntwerden einer (auch) aserbaidschani-schen Herkunft mit staatlichen Übergriffen zu rechnen hätten. In Bergkarabach gelten den arme¬nischen Regelungen vergleichbare Vorschriften zur kostenlosen medizinischen Behandlung. Im Sozialwesen gibt es 'behördlich’ Unterstützung. Die wirtschaftliche Situation in Bergkarabach ist nach allgemeiner Einschätzung besser als in Armenien (AA 27.4.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        Armenpress (2.4.2020): Paschinjan praises ’high-quality’Artsakh elections, https://armenpress.am/eng/news/1010917.html , Zugriff 23.4.2020

•        ChH - Chatham House (4.6.2020): South Caucasus States Set to Diverge Further due to COVID-19, https://www.chathamhouse.org/expert/comment/south-caucasus-states-set- diverge-further-due-covid-19 , Zugriff 5.6.2020

•        CW - Caucasus Watch (16.4.2020): Zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Berg- karabach wurde trotz des erklärten Ausnahmezustands abgehalten, https://caucasuswa tch.de/news/2623.html , Zugriff 23.4.2020

•        EN - Eurasianet (1.4.2020): Karabakh elections to go to a second round, https://eurasian et.org/karabakh-elections-to-go-to-a-second-round , Zugriff 23.4.2020

•        FH-Freedom House (4.3.2020k): Freedom in the World 2020 - Nagorno Karabakh,

https://freedomhouse.org/country/nagorno-karabakh/freedom-world/2020 , Zugriff 5.6.2020

•        HBS - Henirich-Böll-Stiftung / Stefan Meister (2.4.2020): Covid-19 im Südkaukasus - Schnelle Reaktionen und autoritäre Reflexe, https://www.boell.de/de/2020/04/02/covid-1 9-im-suedkaukasus-schnelle-reaktionen-und-autoritaere-reflexe , Zugriff 23.4.2020

•        NKR - President of the Artsakh Republic (o.D.): NKR, General information, http://www.pr esident.nkr.am/en/nkr/generalInformation/, Zugriff 24.6.2020

•        PA - the PanArmenian (15.4.2020): Arayik Harutyunyan wins Artsakh vote, preliminary results show, http://www.panarmenian.net/eng/news/280152/, Zugriff 23.4.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

3        Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ist inArt. 162 und 164 der Verfassung verankert. Die Verfassung von 2015 hat die bisher weitreichenden Kompetenzen des Staatspräsidenten bei der Ernennung von Richtern reduziert. Das Vertrauen in das Justizsystem ist allerdings wei¬terhin schwach, da die Mehrzahl der Richter ihre Ämter unter der Vorgängerregierung erlangt hat. Die im Oktober 2019 verabschiedete Reform zur Justizstrategie zielt auf einen personellen Wechsel im Justizapparat ab. Verfahrensgrundrechte, wie rechtliches Gehör, faires Gerichtsver¬fahren und Rechtshilfe werden laut Verfassung gewährt. In Bezug auf den Zugang zur Justiz gab es in den letzten Jahren bereits Fortschritte, die Zahl der Pflichtverteidiger wurde erhöht und kostenlose Rechtshilfe kommt einer breiteren Bevölkerung zugute. Die Einflussnahme durch

Machthaber auf laufende Verfahren war in der Vergangenheit in politisch heiklen Fällen verbrei-tet. Die derzeitige Regierung unter Premierminister Paschinjan hat sich von solchen Praktiken distanziert (AA 27.4.2020).

Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020). Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.3.2020). Allerdings entließen viele Richter nach der 'Samtenen Revolution’ im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fäl¬len aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Un-abhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Re-gierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öf-fentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermu¬tung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interes¬se der 'Moral’, der nationalen Sicherheit und des 'Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer’. Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febmar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Armenia, https://freedomh ouse.org/country/armenia/freedom-world/2020 , Zugriff 24.4.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

4        Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 27.4.2020). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 27.4.2020).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt sol¬che Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premier-minister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festgehalten, eher wichtige Zeugen denn

Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 -Armenia, https://www.hr w.org/world-report/2020/country-chapters/armenia, Zugriff 16.1.2020

•        SIS - Special Investigation Service of Republic of Armenia (o.D.): History http://www.ccc. am/en/1428926241 , Zugriff 24.6.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

5        NGOs und Menschenrechtsaktvisten

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die Zivilgesellschaft ist in Armenien aktiv und weitgehend in der Lage, frei zu agieren. Das Gesetz über öffentliche Unternehmen und das Stiftungsrecht wurden kürzlich mit einer Reihe positiver Änderungen verabschiedet, darunter die Möglichkeit, direkt einkommensschaffende oder unternehmerische Aktivitäten durchzuführen; weiters die Möglichkeit von Freiwilligenarbeit sowie die Möglichkeit für Umweltorganisationen, die Interessen ihrer Mitglieder in Umweltfragen vor Gerichten zu vertreten. Es gibt jedoch noch eine Reihe von Herausforderungen. Zum Bei-spiel die gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf Steuerverpflichtungen im Zusammenhang mit der Erzielung von Einnahmen, das Fehlen klarer Regeln für den Zugang zu öffentlichen Mitteln sowie klarer Regelung für die Verwendung privater Daten. Einschränkungen gibt es für zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit sensiblen Themen wie den Rechten von Min-derheiten und einigen Gender-spezifischen Fragen arbeiten (OHCHR 16.11.2018). Nichtregie-rungsorganisationen (NGOs) fehlen lokale Mittel und sind weitgehend auf ausländische Geber angewiesen (FH 4.3.2020).

Trotz der Einschränkungen war die Zivilgesellschaft bei den Protesten im Jahr 2018 aktiv und wurde im Jahr 2019 aktive Teilnehmerin an den von der Regierung geführten Reformbemühun-gen, insbesondere im Bereich der Wahlreform. Armenische NGOs machen seither bedeutende Fortschritte bei der Stärkung ihrer organisatorischen Kapazitäten und operieren mit weniger Einmischung der Behörden (FH 4.3.2020).

Quellen:

•        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Armenia, https://freedomh ouse.org/country/armenia/freedom-world/2020 , Zugriff 24.4.2020

•        OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (16.11.2018): Statement by the United Nations Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association, Clement Nyaletsossi VOULE, at the conclusion of his visit to the Republic of Armenia, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.as px?NewsID=23882&LangID=E , Zugriff 29.3.2019

6        Ombudsperson

Letzte Änderung: 02.09.2020

Die vom Parlament gewählte und als unabhängige Institution in der Verfassung verankerte „Ombudsperson für Menschenrechte“ muss einen schwierigen Spagat zwischen Exekutive und den Rechtsschutz suchenden Bürgern vollziehen (AA 27.4.2020). Das Büro der Ombudsperson hat das Mandat, die Menschenrechte und Grundfreiheiten auf allen Regierungsebenen vor Missbrauch zu schützen. Das Büro verbessert seine Reichweite in den Regionen und die Zusammenarbeit mit regionalen Menschenrechtsorganisationen. Im Jahr 2019 startete das Büro eine Kampagne zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Verfahren zur Meldung häuslicher Gewalt. Das Büro berichtet weiterhin über einen deutlichen Anstieg der Zahl der Bürgerbeschwerden und Besuche, was zu den gestiegenen Erwartungen und dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution beitrug (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febmar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

7        Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 02.09.2020

Männer armenischer Staatsangehörigkeit unterliegen vom 18. bis zum 27. Lebensjahr der allge¬meinen Wehrpflicht (24 Monate). Auf Antrag besteht die Möglichkeit der Befreiung oder Zurück¬stellung vom Wehrdienst sowie der Ableistung eines militärischen oder zivilen Ersatzdienstes. Bei der Zurückstellung vom Militärdienst aus sozialen Gründen (z.B. pflegebedürftige Eltern, zwei oder mehr Kinder) muss bei Wegfall der Gründe der Betreffende bis zum 27. Lebensjahr noch einrücken. Wenn die Gründe nach dem 27. Lebensjahr noch bestehen, ist eine Einrü¬ckung in Friedenszeiten nicht mehr vorgesehen. Derjenige muss sich allerdings als Reservist zur Verfügung stellen (AA 27.4.2020). Der Aufschub des Militärdienstes aus gesundheitlichen Gründen kann nach Absolvieren der entsprechenden medizinischen Untersuchungen in Arme¬nien gewährt werden (RA EVN 6.2.2020).

Armenische Rekruten werden auch an der Waffenstillstandslinie um Bergkarabach eingesetzt. Männliche Armenier ab 16 Jahren sind zur Wehrregistrierung verpflichtet. Sofern sie sich im Ausland aufhalten und sich nicht vor dem Erreichen des 16. Lebensjahres aus Armenien abge-meldet haben, müssen sie zur Musterung nach Armenien zurückkehren; andernfalls darf ihnen kein Reisepass ausgestellt werden. Nach der Musterung kann die Rückkehr ins Ausland erfol-gen. Mit der Ende 2017 erfolgten Novellierung des Wehrpflichtgesetzes bietet das armenische Verteidigungsministerium im Rahmen des Konzepts „Armee-Nation" zwei neue Optionen für den Wehrdienst. Das Programm „Jawohl" ermöglicht den Rekruten einen flexiblen Wehrdienst von insgesamt drei Jahren mit mehrmonatigen Unterbrechungen. Man wird u.a. auch an der Frontlinie eingesetzt. Im Anschluss erhalten die Rekruten ca. 9.000 Euro für eine Existenz-gründung sowie einen Wohnungskredit. Diese Regelung ist seit Dezember 2017 in Kraft. Das Programm „Es ist mir eine Ehre" erlaubt Hochschulstudenten das Studium abzuschließen und erst dann als Offizier ihren Wehrdienst abzuleisten. Im Laufe des Studiums werden für diese Studenten Pflichtveranstaltungen im Militärinstitut organisiert. Diese Regelung tritt ab Mai 2018 in Kraft (AA 27.4.2020).

Laut Auskunft eines lokalen Anwaltes verleiht ein Aufenthaltsstatus im Ausland der betroffenen Person keine Privilegien in Bezug auf die Befreiung vom Militärdienst (VP 6.2.2020).

Es besteht ein komplexes System von gesetzlichen Garantien und Schutzmechanismen sowie interne wie externe Mechanismen, damit die Rechte des Personals, inklusive der Rekruten, in den Streitkräften geschützt werden. Auch bestehen externe und alternative Mechanismen zum Schutz der Rechte des Militärpersonals, so etwa der Rechtsschutz oder Beschwerden, die sowohl an den armenischen Ombudsmann als auch den „Public Council" des Verteidi-gungsministeriums gerichtet werden können, welcher aus Vertretern von lokalen NGOs besteht, und sich mit Beschwerden zu Menschenrechtsverletzungen, speziell während der Einberufung, auseinandersetzt (OSCE 13.4.2018).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        OSCE - Organization for Security and Co-operation in Europe (15.4.2019): Response by the Delegation of Armenia to the Questionnaire on the Code of Conduct on Politico-Military Aspects of Security, https://www.osce.org/forum-for-security-cooperation/4180407downl oad=true , Zugriff 7.5.2019

•        VP - Vertrauensperson des BFA in Armenien (6.2.2020): Auskunft per E-Mail.

8        Wehrersatzdienst, Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung: 02.09.2020

Wehrpflichtige, die sich ihrer Wehrpflicht entzogen haben, werden strafrechtlich belangt. Nach der Vollendung des 27. Lebensjahres wurde früher ein faktischer Freikauf vom Wehrdienst über eine Ersatzzahlung durch das sogenannte „Freikaufsgesetz" der Republik Armenien vom 17.12.2003 ermöglicht. Dieses Gesetz trat am 31.12.2019 außer Kraft (AA 27.4.2020).

Es gibt einen Ersatzdienst, der sich in einen innerhalb der Streitkräfte zu leistenden alternati¬ven Wehrdienst und einen außerhalb der Streitkräfte zu leistenden alternativen Arbeitsdienst gliedert. Man ist berechtigt, einen alternativen Dienst zu leisten, wenn die Leistung des obliga-torischen Militärdienstes in militärischen Einheiten sowie das Tragen, Halten, Aufbewahrung und die Benutzung von Waffen der Konfession oder den religiösen Überzeugungen des Wehr-dienstpflichtigen widersprechen. Der alternative Wehrdienst dauert 30 Monate, der alternative Arbeitsdienst 36 Monate. Die Anzahl derjenigen, die den Ersatzdienst beantragen, ist sehr gering (AA 27.4.2020; vgl. USDOS 10.6.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febmar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (10.6.2020): Armenia 2019 International Religious Freedom Report, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/06/ARMENIA-2019-IN TERNATIONAL-RELIGIOUS-FREEDOM-REPORT.pdf, Zugriff 24.6.2020

9        Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 28.09.2020

Die Verfassung enthält einen ausführlichen Grundrechtsteil modernen Zuschnitts, der auch wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte mit einschließt. Durch Verfassungsänderungen im Jahr 2015 wurde der Grundrechtekatalog noch einmal erheblich ausgebaut. Ein Teil der Grundrechte können im Ausnahmezustand oder im Kriegsrecht zeitweise ausgesetzt oder mit Restriktionen belegt werden. Gemäß Verfassung ist der Kern der Bestimmungen über Grundrechte und -freiheiten unantastbar. Extralegale Tötungen, Fälle von Verschwindenlassen, unmenschliche, erniedrigende oder extrem unverhältnismäßige Strafen, übermäßig lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil bzw. Verurteilungen wegen konstruierter oder vorgeschobener Straftaten sind nicht bekannt (AA 27.4.2020).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsverletzungen gehören: Folter; willkürliche Inhaftierung, wenn auch mit weniger Berichten; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Gewalt oder die Androhung von Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender oder interse-xuelle Personen (LGBTI) und der Einsatz von erzwungener oder obligatorischer Kinderarbeit (USDOS 11.3.2020, vgl. HRW 14.1.2020). Die Regierung unternimmt Schritte zur Untersuchung und Ahndung von Missbrauch gegen aktuelle und ehemalige Beamte und Sicherheitskräfte (US¬DOS 11.3.2020).

Die Regierung Armeniens erfüllt die Mindeststandards für die Beseitigung des Menschenhan-dels nicht vollständig, unternimmt aber erhebliche Anstrengungen, um dies zu erreichen. Sie nahm Gesetzesänderungen und Verordnungen zur Stärkung der Gesundheits- und Arbeits-aufsichtsbehörde vor und führte Schulungen für Strafverfolgungsbeamte durch. Die Behörden erhöhten die Zahl der Ermittlungen und Strafverfolgungen, und die Kommission zur Identifizie-rung von Opfern funktionierte weiterhin gut. Die Regierung hat seit 2014 keine Verurteilung wegen Zwangsarbeit mehr erhalten. Es fehlt an proaktiven Identifizierungsbemühungen, wie z.B. Standardindikatoren zur Überprüfung gefährdeter Bevölkerungsgruppen. Die Opfer von Menschenhandel sahen sich, wie die Opfer anderer Verbrechen, mit einem eingeschränkten Zugang zur Justiz konfrontiert, u.a. aufgrund fehlender opferorientierter Verfahren und formeller Maßnahmen zum Schutz der Opfer und Zeugen (USDOS 25.6.2020).

Quellen:

•        AA-Auswärtiges Amt (27.4.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien (Stand: Februar2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/20300 01/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsr elevante_LageJn_der_Republik_Armenien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_27.04 .2020.pdf, Zugriff 23.6.2020

•        HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 -Armenia, https://www.hr w.org/world-report/2020/country-chapters/armenia, Zugriff 16.1.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019- HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

•        USDOS - US Department of State (25.6.2020): 2020 Trafficking in Persons Report: Ar-menia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2036210.html , Zugriff 28.9.2020

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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