Entscheidungsdatum
01.12.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L504 2177351-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.11.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt V. lautet: Es wird gem. § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gem. § 46 FPG in den Irak zulässig ist.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
1. Die beschwerdeführende Partei [bP], ein irakischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am 16.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Dieser wurde in der Erstbefragung im Wesentlichen damit begründet, dass es zw. Schiiten und Sunniten Probleme gebe. Sie sei Sunnit. Da der Bruder den Vornamen Omar habe, bedeute dies für die Schiiten, dass er ein Ungläubiger wäre und daher erschossen werde. Im Falle der Rückkehr befürchte die bP sogleich an der Grenze von den Schiiten erschossen zu werden.
In der folgenden Einvernahme begründete die bP die Ausreise damit, dass sie Schreibkraft eines Richters gewesen und persönlicher Bedrohung ausgesetzt gewesen sei. In einem Mordfall mit einem Offizier der inneren Streitmacht als Täter sei der Prozess wegen Beziehungen des Offiziers öfter verschoben worden. Die bP sei von dem Offizier nahestehenden Personen zu Hause aufgesucht worden, weil sie die Akten aufbewahrt habe. Wenn sie die Akten nicht hergebe, würden ihr und ihrer Familie etwas passieren. Der zuständige Richter habe zu ihr angegeben, dass man da nichts machen könne, da es sich um die Mafia handle. Der zweite Grund sei jener hinsichtlich des Bruders, den sie bereits bei der Erstbefragung geschildert habe.
Der mit der bP mitgereiste Bruder kehrte im März 2016 wieder freiwillig in den Irak zurück.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid des BFA vom 26.09.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBI I Nr. 100/2005 (AsylG) abgewiesen.
Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 2 Absatz 1 Ziffer 13 wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Irak abgewiesen.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §57 AsylG nicht erteilt und wurde gem. §10 Abs. 1, Z. 3 AsylG i.V.m §9 BFA – VG eine Rückkehrentscheidung gem. §52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen.
Gem. § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG in den Irak zulässig ist.
Gem. § 55 Abs 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Gegen den abweisenden Bescheid des Bundesamtes wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
Das BVwG führte am 08.05.2019 in Anwesenheit der bP eine Beschwerdeverhandlung durch. Das VwG hat die Beschwerde in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Hinsichtlich der vorgebrachten ausreisekausalen Erlebnisse erachtete das Gericht dieses Geschehen auf Grund von aufgetretenen Widersprüchen und Unplausibilitäten als nicht glaubhaft. Der Bruder ist zudem bereits im März 2016 freiwillig in den Irak zurückgekehrt, was gegen die behauptete Bedrohung spricht.
Die Entscheidung erwuchs am 11.07.2019 in Rechtskraft. Die Frist für die freiwillige Ausreise endete mit 25.07.2019. In einem Rückkehrberatungsgespräch zeigte sich die bP als nicht rückkehrwillig.
2. Am 20.08.2020 stellte die bP verfahrensgegenständlichen Folgeantrag. Sie brachte dabei im Wesentlichen vor, dass die Fluchtgründe für gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sich auf dieselben Gründe stütze, welche sie bereits in Ihrem Erstasylverfahren angegeben habe. Neu sei die Beziehung zur Freundin. (NS AS 221, 223)
Aus dem Verfahrensgang des angefochtenen Bescheides ergibt sich im Wesentlichen Folgendes (Kürzungen des BVwG in [] Klammer):
„[…]
? Sie brachten erstmals am 16.09.2015 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge BFA) einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Sie gaben dabei an den Namen XXXX zu führen, am XXXX geboren und Staatsangehöriger des Irak zu sein.
? Ihr damaliges Verfahren wurde am 28.09.2015 zugelassen und in der Regionaldirektion Oberösterreich des BFA fortgeführt
? Ihr Antrag vom 16.09.2015 wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 26.09.2017, Zl. 10878846410/151381099 gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurde der Satus des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) nicht zugesprochen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen wurde gem. § 57 AsylG nicht erteilt. Gem. § 10 Abs. 1 Z3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs.2 Z.2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) 2005 erlassen und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gem. § 46 FPG zulässig (Spruchpunkt III.) sei. Gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) betrage. Dagegen brachten Sie fristgerecht Beschwerde ein.
Die eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (in Folge BVwG) vom 10.07.2019, Zl. G312 2177351-1/12D abgewiesen.
Diese Entscheidung erwuchs mit 11.07.2019 in Rechtskraft.
? Mit Beschluss Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 13.08.2019, Zl. E 2958/2019-4 wurde Ihre Beschwerde gegen das Erkenntnis des BVwG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
? Mit Beschluss des VfGH vom 08.06.2020, Zl. E 2958/2019-7 lehnte der VfGH eine Behandlung Ihrer Beschwerde, gegen das Erkenntnis des BVwG vom 10.07.2019, ab und trat die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) zur Entscheidung ab.
? Gemäß aktuellem Antwortschreiben des VwGH vom 09.10.2020, Zl. 2020-0.623.053 wurde zum Beschluss Zl. E 2958/2019-7 keine Revision beim VwGH eingebracht und es ist kein Verfahren beim VwGH anhängig.
? Sie haben Österreich an einem unbekannten Zeitpunkt verlassen, wurden jedoch am Wohnsitz Ihrer Freundin nicht abgemeldet.
? Am 22.07.2020 langte ein Wiederaufnahmegesuch der deutschen Dublinbehörde ein. Aus dem Schreiben geht hervor, dass Sie in Deutschland am 20.07.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben.
? Am 24.07.2020 stimmte Österreich dem Ansuchen der deutschen Dublinbehörde zu.
? Sie haben am 20.08.2020, nachdem Sie von Deutschland rücküberstellt wurden, den gegenständlichen 2. Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sie machten dabei gleichlautende Angaben zu Ihren Personendaten wie beim Erstantrag
Bei der durchgeführten Erstbefragung zum gegenständlichen Antrag, gaben Sie als Grund der Antragstellung Folgendes an:
Die alten Asylgründe gelten noch immer.
Bezüglich Ihres Fluchtgrundes gaben Sie Folgendes an:
Ich habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung.
Bezüglich Ihrer Befürchtungen bei einer Rückkehr gaben Sie Folgendes an:
Ich habe Angst um mein Leben
? Da das BFA auf Grund des bisherigen Verfahrensverlaufes beabsichtigte Ihren Antrag auf internationalen Schutz gemäß §68 Abs.1 AVG zurückzuweisen, wurde Ihnen eine Verfahrensanordnung gem. §29 Abs.3 AsylG am 01.09.2020 ausgefolgt.
? Laut ZMR-Auszug vom 04.09.2020 wurden Sie ab 31.08.2020 wieder am Wohnsitz Ihrer Freundin in Bad Hall/OÖ angemeldet.
? Am 07.09.2020 verzichteten Sie freiwillig auf die Leistungen der Grundversorgung.
? Mit Schreiben vom 07.09.2020 wurde Ihnen, gem. § 15a Abs. 1 Z. 1 und 2 AsylG 2005, eine periodische Meldeverpflichtung bei der PI Bad Hall, Hauptplatz 7/1, 4540 Bad Hall angeordnet.
? Aufgrund Ihres Wohnsitzes in Oberösterreich, wurde Ihr Verfahren am 10.09.2020 an die Erstaufnahmestelle West (East-West) abgetreten und dort weitergeführt
? Mit Schreiben vom 17.09.2020 suchte Fr. XXXX an, dass Sie in Grundversorgung versichert werden, da Fr. XXXX Sie nicht selbst versichern könnte.
? Am 05.10.2020 wurden Sie beim BFA, Erstaufnahmestelle West, im Beisein Ihrer Rechtsberaterin, niederschriftlich einvernommen. Die wesentlichen Passagen gestalteten sich wie folgt:
…
[…]
…
LA an die Vertrauensperson: In welchem Verhältnis stehen Sie zu VP?
V1: Er ist mein Lebensgefährte. Er ist seit August 2019 an meiner Adresse gemeldet. Er war aber kurz wegen der Isolation in Schwechat angemeldet
…
[…]
LA: Im Erstasylverfahren gaben Sie an, dass Sie geschieden wären und 1 Kind hätten. Beide würden in den USA leben. Gibt es seit rechtskräftigem Abschluss Ihres Erstasylverfahrens am 11.07.2019 irgendeine Änderung in Ihrem Familienleben?
VP: Ja. Ich habe meine Freundin. (Anm.: anwesende Vertrauensperson). Ihre Familie ist jetzt auch meine Familie. Ich habe auch viele Freunde in Ö. Ich helfe auch freiwillig. Ich habe für diese Tätigkeiten auch Bestätigungen dafür.
Anm. VP legt vor
- Konvolut an Empfehlungsschreiben
- Arbeitsplatzzusicherung
- Meldebestätigung ZMR vom 21.08.2019 und vom 04.09.2020
- Konvolut an Fotos zu Integration
LA: Bitte beschreiben Sie mir Ihre Beziehung!
VP: Wir haben eine Liebesbeziehung seit etwa 2 Jahren. Auch intimen Verkehr. Wir gehen gemeinsam schwimmen und bergsteigen. Wir kochen gemeinsam. Wir essen auch öfter gemeinsam mit Ihrer Familie.
LA: Wann und wie haben Sie sich kennengelernt?
VP: Ich kenne seit etwa 4 Jahren. Die Beziehung begann vor 2 Jahren und 5 Monaten. Sie nahm bei einem Projekt der Diakonie namens Sprach-Kaffee teil. Da kamen Österreicher zu uns und nahmen Essen und Getränke mit. Sie war auch dabei. Dabei haben wir uns kennen gelernt.
LA an V1: Laut dem Erstverfahren sind Sie nach wie vor verheiratet. Sind sie noch immer verheiratet?
V1: Ja. Mein Mann ist so schwer erkrankt, dass eine Scheidung nicht möglich ist. Er hat Pflegestufe 7. MS im fortgeschrittenen Stadium. VP hat mir bei der Pflege sehr geholfen, als mein Mann noch daheim in Pflege war.
LA: Waren Sie eine bekannte Persönlichkeit in Irak?
VP: Nein
LA: Leiden Sie an irgendwelchen schwerwiegenden Krankheiten? Benötigen Sie Medikamente?
VP: Nein.
LA: Entsprechen Ihre Angaben bei der Erstbefragung am 20.08.2020 der Wahrheit, oder möchten Sie jetzt etwas korrigieren?
VP: Ich habe die Wahrheit gesagt. Es stimmt alles
LA: Sie haben am 16.09.2015 einen ersten Asylantrag gestellt, der in II. Instanz mit Rechtskraft vom 11.07.2019 abgewiesen wurde. Ihrer außerordentlichen Revision gegen das Erkenntnis des BVwG, wurde durch Beschluss des VfGH, Zl. E 2958/2019-4 vom 13.08.2019, zunächst die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Beschluss des VfGH, Zl. E 2958/2019-7 vom 08.06.2020, wurde die Behandlung Ihrer Beschwerde abgelehnt.
Eine Anfrage bei VwGH ergab, dass dort kein Verfahren geführt wird.
Es haben Sich damit einige Instanzen mit ihrem Vorbringen beschäftigt.
Warum stellen Sie einen neuerlichen Antrag?
VP: Ich habe jetzt meine österreichische Freundin. Sie und Ihre Kinder sind jetzt meine Familie. Ich habe auch viele österreichische Freunde. Ich habe keine Familie mehr im Irak.
LA: Wo lebt jetzt Ihre Kernfamilie?
VP: Alle sind in der Türkei. Ich habe keinen Kontakt. Nachgefragt habe ich keinen Kontakt, weil ich familiäre Probleme mit meinem Bruder und meiner Schwester hatte. Deswegen wurde der Kontakt unterbrochen.
LA: Meinen Sie damit die Unstimmigkeit über den Verkauf ihres Elternhauses in Bagdad?
VP: Ja
LA: Gibt es irgendwelche Änderungen bei Ihrem Vorbringen vom Erstverfahren?
VP: Nein. Die Fluchtgründe sind mich nach wie vor gültig. Ich habe diese bereits erzählt. Es hat sich aber die allgemeine Situation im Irak geändert. Die Änderungen stehen auch in den Länder Informationen, die ich erhalten habe. Es gab Anschläge und Entführungsfälle im Jahr 2020 In BAGDAD. Die Milizen haben die Macht übernommen. Sie gehören zum Iran. Die meisten Sunniten haben den Irak verlassen
LA: Woher haben Sie Ihr Wissen?
VP: Das steht in diesen Länderinformationen, die mir zugeschickt wurden. Das ist meine Stellungnahme zu diesen Informationen. Bei meiner Rückkehr würde ich festgenommen oder getötet werden. Es gibt ein Ausreiseverbot im Irak für mich.
LA: Warum würde Sie die allgemeine Situation im Irak schwerer treffen, als den Rest der Bevölkerung?
VP: Wegen meinem Fluchtgrund. Ich war Schreibkraft eines Richters in Bagdad. Die Milizen verlangten von mir, dass ich Akten über Offiziere in meinem Ort hergebe.
LA: Welchen Ort meinen Sie?
VP: Meinen Wohnort. Mein Arbeitsplatz ist bei meinem Wohnort. Sie haben mich mit einer Festnahme oder dem Tod bedroht. Die meisten Richter waren selbst Schiiten und arbeiteten für die Milizen. Auch die Polizei dienen den Schiiten und dem Iran.
LA: Im Erstverfahren gaben Sie an, dass Sie von einem Offizier bedroht wurden, weil Sie dessen Akten „verschwinden lassen“ sollten. Jetzt geben Sie mehrere Offiziere und Milizen an. Erklären Sie mir diesen Widerspruch!
VP: Ja. Diese Person gehört zu den Milizen. Er heiß XXXX (phon.). Er ist jetzt auch verantwortlich für Verbrechen und Entführungen in meinem Stadtviertel.
LA: Woher wissen Sie das?
VP: Entschuldigung er heißt anders. XXXX (phon.) Alle Leute schreiben über ihn in Facebook und den sozialen Medien.
LA: Haben Sie diesen XXXX (phon.) schon Erstverfahren angegeben?
VP: Ja
LA: Gibt es noch andere Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben?
VP: Nein. Ich habe jetzt aber eine Familie in Ö.
LA: Das heißt, die Fluchtgründe für gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sind dieselben Gründe, welche Sie bereits in Ihrem Erstasylverfahren angegeben haben. Neu ist die Beziehung zur anwesenden V1.
Ist das so richtig?
VP: Ja
LA: Haben Sie seit der ersten Antragstellung Österreich verlassen?
VP: Ja. Einmal war ich in Deutschland. Das war vor etwa 2 Monaten. Ich war dort etwa 1 Monat in Schubhaft. Deutschland hat mich nach Ö zurückgeschickt. Ich hatte Angst vor einer Abschiebung in den Irak. Deswegen ging ich nach Deutschland. Ich hatte hier 3 Mal eine negative Entscheidung.
Anm.: VP legt ein Straferkenntnis wegen Rückkehrunwilligkeit vor.
LA: Wie wollten Sie in Deutschland Ihre Beziehung aufrecht halten?
VP: Wir hatten vor, dass Sie zu mir nach Deutschland kommt.
LA an V1: Wie ist das gemeint? Wollten Sie nach Deutschland ziehen oder sind nur Besuche gemeint.
Spricht über Angst vor der Abschiebung. V1 wird unterbrochen und aufgefordert die Frage zu beantworten
Frage wird wiederholt
LA: Wollten Sie nach Deutschland ziehen oder sind damit nur Besuche gemeint?
V1: Es war nicht geklärt. Ich könnte in meinem Beruf überall arbeiten.
LA an V1: Sie dachten also auch darüber nach, selbst nach Deutschland zu ziehen?
V1: Details standen nicht fest. Wir wollten auf jeden Fall die Beziehung aufrecht halten.
LA: Haben Sie in einem anderen Staat Europas Verwandte oder sonstige Personen, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht?
VP: Nein. Nur meine Freundin in Ö. Sie sorgt für mich seit über einem Jahr. Ich habe keine Grundversorgung hier mehr seit 2 Monaten. Nachgefragt habe ich keine GVS mehr, weil ich zu ihr gezogen bin.
LA: Das ist so nicht richtig. Sie haben am 07.09.2020 freiwillig auf die Leistungen der Grundversorgung (GVS) verzichtet. Bereits am 17.09.2020 langte jedoch ein Schreiben der Fr. XXXX ein, in dem um eine Versicherung Ihrer Person ersucht wurde. Fr. XXXX wurde schriftlich darauf hingewiesen, dass ein schriftlicher Antrag auf Wiederaufnahme auf GVS zu stellen wäre.
Wollen Sie dazu etwas sagen?
VP: Ja. Ich liebe meine Freundin. Wir waren bei der Volkshilfe in Steyr. Uns wurde erklärt, dass ich auf alles verzichten muss, wenn ich zu meiner Freundin ziehen muss.
V1: Als er bei mir gemeldet war, war er nur versichert. Er musste auf die GVS verzichten, damit er zu mir ziehen konnte. Er ist jetzt nicht versichert. Ich kann ihn aber nicht versichern. Mir wurde hier gesagt, dass er im Fall eines Antrags auf GVS nicht mehr bei mir leben kann.
LA: Haben Sie in Österreich Verwandte oder sonstige Personen, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht? Außer der V1?
VP: Nein, niemanden.
LA: Haben Sie in Österreich, seit der Rechtskraft des Vorverfahrens (11.09.2019), gearbeitet, Deutschkurse besucht, oder haben Sie irgendwelche sonstige Ausbildungen absolviert?
VP: Nein. Nur freiwillige Tätigkeiten. Die Bestätigungen habe ich heute vorgelegt. Ich habe nächste Woche die Prüfung Deutsch A2
Anm.: VP legt Bestätigungen zu Kurs und Prüfung Deutsch A2 vor.
LA: Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?
VP: Gut.
Anm. VP antwortet Deutsch
LA: Sind Sie arbeitsfähig?
VP: Ja
LA: Welche Arbeitstätigkeit könnten Sie in Österreich ausführen?
VP: Ich könnte als Verpacker arbeiten. Ich habe eine Arbeitsplatzzusage vorgelegt.
V1: Die Firma sucht dringend Leute, die im Schichtdienst dort arbeiten, weil niemand die Arbeit (Nachtschicht) machen möchte
LA: Wie bestreiten Sie hier in Österreich Ihren Lebensunterhalt? Werden Sie vom Staat versorgt, erhalten Sie sich selbst oder werden Sie von irgendjemandem finanziell unterstützt?
VP: Ich befinde mich nicht in Grundversorgung. Ich werde von meiner Freundin versorgt.
LA: Verfügen Sie über finanzielle Mittel, um selbstständig für Ihren Unterhalt hier sorgen zu können?
VP: Nein
LA: Haben Sie soziale Kontakte/Aktivitäten in Österreich? Z.B. Ehrenamtliche Tätigkeiten, Mitgliedschaft in einem Verein, usw.
VP: Die Bestätigungen habe ich vorgelegt. Sonst gibt es nichts
LA: Woher kennen Sie diese Personen, welche die Unterstützungsschreiben ausgestellt haben?
VP: Ich habe die Menschen in Bad Hall kennen gelernt. Bei Integrationsprojekten. Ich koche auch manchmal in der Kirche. Ich nehme auch an den Feiern meiner Freunde teil.
LA: Können Sie irgendwelche sonstigen Gründe namhaft machen, die für einen Verbleib in Österreich sprechen?
VP: Ich habe hier eine neue Familie in Ö. ich möchte bei meiner Familie bleiben. Ich habe hier auch Freunde und bin integriert
LA: Sind Sie je von einem zivil- oder strafrechtlichen Gerichtsverfahren oder eine (einstweiligen) gerichtlichen Verfügung in Österreich betroffen gewesen?
VP: Nein
LA: Sind Sie je von einer gerichtlichen Untersuchung als Zeuge oder Opfer in Österreich betroffen gewesen?
VP: Nein
LA: Derzeit herrscht weltweit die als CoViD-19 bezeichnete Pandemie. Sie sind gesund und gehören demnach auch nicht zur Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck).
Wollen Sie dazu etwas sagen?
VP: Nein. Ich bin gesund
LA an Rechtsberater (RB): Haben Sie noch eine Frage an die VP?
Die Rechtsberaterin hat keine Fragen.
LA: Ihnen wurde mit der Ladung das aktuelle Länderinformationsblatt zum Irak ausgefolgt. Haben Sie eine schriftliche Stellungnahme dazu vorbereitet oder wollen Sie nun mündlich eine Stellungnahme dazu abgeben?
VP: Ich habe es mit meiner Freundin gelesen. Ich habe schon etwas dazu gesagt
LA an V1: Sie wollten etwas sagen?
VP: Ich habe mit VP auch über Corona im Irak gesprochen. V1 an VP: Was hast du mir dazu erzählt?
VP: Dort funktionieren keine Krankenhäuser und keine Ämter und Schulen. Es sind dort deswegen viel Leute gestorben. Die Milizen herrschen über das Gesundheitssystem im Irak
[…]
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Sie werden auf das Neuerungsverbot aufmerksam gemacht. Hatten Sie Gelegenheit alles vorzubringen, was Ihnen wichtig erscheint oder wollen Sie noch etwas hinzufügen, was noch nicht zur Sprache gekommen ist?
VP: Ich konnte alles erzählen.
[…]
Anm.: Die Niederschrift wird VP durch den anwesenden Dolmetscher rückübersetzt. VP wird aufgefordert genau aufzupassen und sofort bekannt zu geben, wenn etwas nicht korrekt sein sollte bzw. er noch etwas zu ergänzen hat.
LA: Wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert?
VP: Ja. Ich möchte etwas korrigieren:
Zu Seite 6
Ich bin seit etwa 1 Jahr nicht mehr in GVS und seit etwa 2 Monaten nicht mehr versichert
[…]
? Am 07.10.2020 langte eine schriftliche Stellungnahme Ihrer Lebensgefährtin ein.
? Am 27.1.2020 langte ein Schreiben der LPD OÖ ein. Aus dem Schreiben geht hervor, dass Ihr Bescheid vom 02.09.2020 im Verwaltungsstrafverfahren wegen unrechtmäßigen Aufenthalts im Zuge einer Beschwerdevorentscheidung aufgehoben wurde.
? Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
B) Beweismittel
Die Behörde zog die folgenden Beweismittel heran:
Von Ihnen vorgelegte Beweismittel:
? Zertifikat Deutsch A2 „Nicht bestanden“ vom 16.03.2018
? Bestätigung Deutschkurs A2 vom 11.12.2018 bis 31.01.2019
? Arbeitsplatzzusicherung vom 02.09.2020
? Fotos zur Integration
? 28 Unterstützungsschreiben/Bestätigungen (12 Unterstützungsschreiben bereits im Erstverfahren vorgelegt)
? Stellungnahme von Frau XXXX
Weitere von der Behörde herangezogene Beweismittel:
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Ihrem Herkunftsstaat
? Akteninhalt des gegenständlichen Verfahrens
? Akteninhalt ihres Vorverfahrens Zl. 1087846410-151381099
[…]“
Das Bundesamt hat in Folge den 2. Antrag hinsichtlich des Status eines Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten gem. § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Die bP habe sich im Wesentlichen auf die gleichen Gründe gestützt wie im bereits rk. abgeschlossenen 1. Asylverfahren. Ein neuer, glaubhafter und entscheidungswesentlicher Sachverhalt sei nicht hervorgekommen.
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen wurde gem. § 57 AsylG mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht erteilt.
Gem. § 10 AsylG, § 52 FPG wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen. Die öffentlichen Interessen würden die privaten Interessen überwiegen.
Gem. § 52, § 46 FPG wurde die Abschiebung nach „Afghanistan“ [!] für zulässig erachtet. Abschiebungshindernisse seien demnach nicht gegeben.
Gem. § 55 Abs 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise.
Gem. § 53 Abs 1 iVm Abs 2 Z6 FPG wurde wegen Mitteillosigekeit der bP ein Einreiseverbot für die Dauer von 2 Jahren erlassen.
Dagegen wurde innerhalb offener Frist durch die gewillkürte Vertretung ARGE Beschwerde erhoben. Moniert wird im Wesentlichen:
? Die rechtkräftig entschiedenen Asylgründe würden noch immer gelten.
? Die bP habe eine österr. Freundin mit der sie zusammenlebe.
? Durch die Demonstrationen sei es gefährlich und in Bagdad herrsche eine derart hohe Gefahrenlage, dass Zivilpersonen bereits durch die bloße Anwesenheit gefährdet wären.
? Hinzukomme, dass die Behörde hinsichtlich der Abschiebung im Spruch ein falsches Land anführe.
? Es liege ein neuer Sachverhalt vor, weil die bP vorgebracht habe, dass die Bedrohung ebenso von den Schiiten ausgehe und habe ihr nach der Einvernahme am 05.10.2020 ein Freund per Anruf über Messenger mitgeteilt, dass auch noch immer nach ihr gesucht werde. Da die Bedrohung ebenso von der schiitischen Miliz ausgehe, könne ihr kein Schutz zukommen.
? Die Lage habe sich auch durch die Pandämie deutlich verschlechtert.
? Die Behörde hätte die Fotos von den Laufbewerben und privaten Treffen als Beweismittel heranziehen müssen.
? Die Behörde habe das schützenswerte Familienleben mit der Freundin nicht ausreichend berücksichtigt. Die Freundin sei zwar noch verheiratet, aber da ihr Ehegatte in der Pflegestufe 7 sei, sei eine Scheidung nicht möglich. Die bP würde mit ihr seit eineinhalb Jahren zusammenleben und liebe sie ihn sehr.
? Die vorgelegte Arbeitsplatzzusicherung sei nicht hinreichend gewürdigt worden.
? Es sei nicht nachvollziehbar, dass gegen die bP ein Einreiseverbot erlassen werde, nur weil sie Österreich nicht fristgerecht verlassen habe.
Als Beilage werden angeführt:
Vollmacht, Arbeitsplatzzusicherung v. 02.09.2020, Prüfungsergebnis A2 v. 11.11.2020, Unterstützungsschreiben v. 02.10.2020, Unterstützungsschreiben v. Frau M. S.
Unterstützungsschreiben von Frau W. v. 02.10.2020
Bewerberinnenprofil vom AMS.
Der Verwaltungsakt langte am 20.11.2020 beim BVwG in Wien und am 23.11.2020 in Linz bei der zuständigen Geschäftsabteilung ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Identität und Herkunftsstaat
Name und Geburtsdatum stehen lt. Bundesamt fest. Die bP ist der Volksgruppe der Araber und dem sunnitischen Glauben zugehörig.
Ihre Staatsangehörigkeit und der hier der Prüfung zugrundeliegende Herkunftsstaat ist der Irak.
1.2. Regionale Herkunft und persönliche Lebensverhältnisse vor der Ausreise
Die bP ist in Bagdad geboren und absolvierte in Bagdad ihre Schulbildung.
Sie wohnte vor ihrer Ausreise in Bagdad
Sie hat im Irak ihren Lebensunterhalt mit Bürotätigkeiten bestritten. Von 2004 bis 2011 als Gerichtsschreiber in Bagdad, von 2012 bis 2015 als Büroangestellter (AS 245).
Die bP besitzt mit ihrem Bruder im Irak zwei Wohnhäuser, die sie geerbt haben.
1.3. Aktuelles familiäres/verwandtschaftliches bzw. soziales Netzwerk im Herkunftsstaat
Die bP verfügt im Irak noch über Familienangehörige bzw. Verwandte.
1.4. Ausreisemodalitäten
Sie reiste Ende August 2015 auf legalem Weg unter Verwendung ihres Reisepasses über den Flughafen Bagdad nach Jordanien, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn bis nach Österreich.
Zum Verbleib des heimatsstaatlichen Reisepasses gab sie an, dass sie diesen während der Reise verloren hat.
1.5. Aktueller Gesundheitszustand
Die bP hat im Verfahren keine aktuell behandlungsbedürftige Erkrankung dargelegt. Es kam nicht hervor, dass sie einer Covid-19 Risikogruppe angehört.
1.6. Privatleben / Familienleben in Österreich
Art, Dauer, Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthaltes
Die bP begab sich im September 2015 nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet und stellte am 16.09.2015 den 1. Antrag auf internationalen Schutz. Dadurch erlange sie eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung gem. AsylG, die nach Antragsabweisung durch die Beschwerdeerhebung verlängert wurde. Das Beschwerdeverfahren und die vorläufige Aufenthaltsberechtigung endete mit rk. Entscheidung des BVwG am 11.07.2019. Mit Beschluss des VfGH vom 13.08.2019 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt und mit Beschluss vom 08.06.2020 die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Die bP hat nach rk. Erkenntnis des BVwG zu nicht näher bekanntem bzw. nicht nachweisbarem Zeitpunkt Österreich unter Verletzung fremdenrechtlicher Regelungen verlassen, in dem sie über die Binnengrenze nach Deutschland gereist ist, ohne gem. § 15 Abs 1 FPG im Besitz eines für die rechtmäßige Ausreise erforderlichen gültigen Reisedokumentes zu sein. Es kam auch nicht hervor, dass die Einreisevoraussetzungen des Art 5 der VO (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) für Drittstaatsangehörige erfüllt wurden, die gem. Art 3 leg cit auf alle Personen Anwendung finden, die die Binnen- und Außengrenzen der Mitgliedstaaten überschreiten.
In Deutschland stellte sie in Folge am 20.07.2020 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 22.07.2020 langte von Deutschland ein Wiederaufnahmegesuch ein und wurde die bP nach Österreich überstellt. Deutschland stellte für sie am 12.08.2020 einen Laissez Passer aus
Am 20.08.2020 stellte die bP gegenständlichen Folgeantrag. Eine Verfahrenskarte wurde ausgefolgt. Wegen beabsichtigter Zurückweisung des Antrages wurde das Verfahren nicht zugelassen und hat die bP durch die Stellung des Antrages im behördlichen Verfahren kein vorläufiges Aufenthaltsrecht gem. § 13 AsylG sondern lediglich Abschiebeschutz gem. § 12 AsylG erlangt.
Ein anderweitiges Aufenthaltsrecht war seit der Überstellung von Deutschland nicht gegeben.
Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich:
Die bP hat nach ihrer Überstellung nach Österreich ihre Freundschaft bzw. Beziehung zu einer in Österreich lebenden und verheirateten österr. Staatsangehörigen wieder aufgenommen. Ihr Ehegatte befindet sich wegen Erkrankung in einem Pflegeheim.
Die bP wohnt bei der Freundin, die einen minderjährigen Sohn aus ihrer Ehe hat. Diese Beziehung bestand vor dem rk. abgeschlossenen 1. Asylverfahren und wurde dort auch beim BVwG in der Verhandlung thematisiert. Die Freundin reiste nicht mit der bP nach Deutschland und verblieb in Österreich.
Grad der Integration
Das BVwG hat in seiner Entscheidung vom 10.07.2019 alle bis dahin vorgebrachten bzw. hervorgekommenen privaten und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich und vorgelegte Bescheinigungsmittel berücksichtigt und kam zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen die privaten bzw. familiären Interessen überwiegen und die Aufenthaltsbeendigung notwendig ist.
Als Bescheinigungen zur Integration, die nach rk. der Erkenntnisses (11.07.2019) vom BVwG entstanden sind, wurde beim Bundesamt vorgelegt:
Bewerbung um Zusage zur Aufnahme nach positivem Asylbescheidverfahren v. 31.07.2019
Schreiben des Unternehmens betr. aufschiebendem Arbeitsvertrag v. 02.09.2020 samt Arbeitsvertrag unter aufschiebender Bedingung des Erhaltes einer Aufenthaltsberechtigung und einer Beschäftigungsbewilligung
Mehrere Fotos, die zeitlich nicht datiert sind
Unterstützungsschreiben vom 02.10.2020, 06.10.2020, Stellungnahme der Freundin/Lebensgefährtin v. 05.10.2020, .
Eine fortgeschrittene Integration, Hilfsbereitschaft u. sonstiges soziales Engagement wird ihr darin bescheinigt.
Mit der Beschwerde wurden an Bescheinigungsmittel vorgelegt:
Arbeitsplatzzusicherung v. 02.09.2020, Prüfungsergebnis Integrationsprüfung A2 (Deutschkenntnisse - bestanden, Werte- und Orientierungswissen - nicht bestanden) v. 11.11.2020, Unterstützungsschreiben, Bewerberprofl vom AMS v. 26.03.2020.
Teilweise oder gänzliche wirtschaftliche Selbsterhaltung während des Aufenthaltes in Österreich bzw. Teilnahme an möglicher und erlaubter Erwerbstätigkeit für Asylwerber (https://www.ams.at/unternehmen/service-zur-personalsuche/beschaeftigung-auslaendischer-arbeitskraefte/beschaeftigung-von-asylwerberinnen-und-asylwerbern#wieknnenasylwerberinnenundasylwerberbeschftigtwerden) oder Abhängigkeit von staatlichen Leistungen:
Die bP hat seit ihrer Einreise bzw. ersten Asylantragstellung im Jahr 2015 in Österreich keine legale und auch für Asylwerber mögliche und erlaubte Beschäftigung ausgeübt, womit sie sich wirtschaftlich selbst erhalten könnte. Nach rk. Beendigung des 1. Asylverfahrens legte sie eine noch aufrechte Einstellungszusage vor, unter der Bedingung der Erlangung eines Aufenthaltstitels der die Beschäftigung zulässt bzw. unter der Voraussetzung der Erlangungen eine Beschäftigungsbewilligung.
Die bP bezog von 22.09.2015 bis 08.08.2019 (1. Asylverfahren) sowie wieder ab 20.08.2020 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.
Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Familienleben; die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren:
Die bP hat diese privaten Anknüpfungspunkte während einer Zeit erlangt, in der der Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet stets prekär war.
Bindungen zum Herkunftsstaat:
Die beschwerdeführende Partei ist im Herkunftsstaat geboren, absolvierte dort ihre Schulzeit, kann sich im Herkunftsstaat – im Gegensatz zu Österreich – problemlos verständigen und hat ihr überwiegendes Leben (1984 – 2015) in diesem Staat verbracht. Sie kennt die dortigen Regeln des Zusammenlebens und verfügt dort auch noch mit ihrem Bruder über Immobilien.
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführende Partei als von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt zu betrachten wäre.
Strafrechtliche/verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen:
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen rk. gerichtlicher Verurteilungen auf.
Das Vorliegen von rk. Verwaltungsstrafen wurde dem BVwG nicht mitgeteilt und ergibt sich auch nicht aus dem Akteninhalt.
Sonstige Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Da der bP weder der Status einer Asylberechtigten noch der einer subsidiär schutzberechtigten Person zukommt, stellte die rechtswidrige Einreise im Jahr 2015 gegenständlich auch grds. eine Verwaltungsübertretung dar (vgl. § 120 Abs 1 iVm Abs 7 FPG).
Ihre Ausreise nach Deutschland erfolgte unter Verletzung fremdenrechtlicher Regelungen (Näheres siehe oben 1.6.)
Die beschwerdeführende Partei verletzte – trotz diesbezüglicher Belehrung - durch die nichtwahrheitsgemäße Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre gesetzlich auferlegte Mitwirkungs- und Verfahrensförderungsverpflichtung im Asylverfahren.
Sie versuchte dadurch die entscheidenden staatlichen Instanzen zur Erlangung von internationalen Schutz zu täuschen.
Verfahrensdauer:
Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz wurde am 20.08.2020 gestellt und erging der Bescheid vom Bundesamt am 10.11.2020. Nach eingebrachter Beschwerde erging mit heutigem Erkenntnis die Entscheidung im Beschwerdeverfahren.
1.7. Zur Begründung ihres 2. Antrages auf internationalen Schutzes (Folgeantrag):
Die bP stützte gegenständlichen 2. Antrag auf Zuerkennung von internationalem Schutz im Wesentlichen auf dieselben Gründe wie im bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Sie brachte keine neuen, glaubhaften und entscheidungsrelevante Gründe vor, die zur Zuerkennung des Status eines Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten führen könnten.
1.8. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat
Zur Lage in im Herkunftsstaat Irak gibt die Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand 17.03.2020 wieder. Das BVwG schließt sich diesen Feststellungen an:
1 Politische Lage
Gesamtaktualisierung: 17.3.2020
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).
Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).
Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).
Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
1.1 Parteienlandschaft
[…]
2 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 17.3.2020
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
2.1 Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung: 17.3.2020
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
2.2 Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Letzte Änderung: 17.3.2020
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).
(ACCORD 26.2.2020)
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).
(IBC 2.2020)
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
2.3 Sicherheitslage Bagdad
Letzte Änderung: 17.3.2020
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfas