Entscheidungsdatum
16.12.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W265 2192394-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. VERFAHRENSGANG:
1. Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.11.2017 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 29.11.2017 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Er gab dabei an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Muslim und stamme aus der Provinz Kunar. Seine Ehefrau, sein Sohn, zwei Brüder und zwei Schwestern würden noch im Herkunftsstaat leben. Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, er habe mit einem Lkw unabsichtlich eine schwangere Frau überfahren, die dabei ums Leben gekommen sei. Er sei von den Dorfältesten der Familie der verstorbenen Frau übergeben worden. Die Älteren hätten gesagt, die Familie könne mit dem Beschwerdeführer machen, was sie wollen, aber seiner Familie dürften sie nichts antun. Deswegen hätte die Familie der Frau ihn umbringen wollen. Sie hätten eine Schwester von ihm haben wollen. Da er keine unverheiratete Schwester gehabt habe, hätten sie ihn immer wieder mit dem Tod bedroht. Weil sein Leben in Gefahr gewesen sei, sei er geflüchtet.
3. Am 20.02.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers niederschriftlich einvernommen. Dabei erklärte er zu seinen persönlichen Umständen ergänzend, dass er aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kunar stamme, aber seit 30 bis 35 Jahren in der Provinzhauptstadt Assadabad gelebt habe. Er habe in Afghanistan sieben Jahre die Schule besucht und danach bis zur Ausreise als Fahrer gearbeitet und Holz und Personen transportiert. Er sei seit 13 Jahren verheiratet und habe einen zehnjährigen Sohn. Seine Ehefrau, sein Sohn, sein Vater, seine beiden Mütter, zwei Brüder, zwei Schwestern, ein Halbbruder und vier Halbschwestern würden noch in der Herkunftsprovinz leben. Er habe derzeit keinen Kontakt zu seiner Familie. In Österreich würden zwei Halbbrüder und ein Cousin leben.
Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, er habe mit seinem Fahrzeug unabsichtlich eine Frau erfasst. Es seien viele Leute herbeigekommen und ein Gerangel entstanden, er sei auch geschlagen worden. Dann habe jemand gerufen, dass die Frau tot sei, und die Gruppe habe sich aufgelöst. Er sei dann zum Haus eines Freundes gelaufen. Die Familie der Frau habe gewollt, dass der Beschwerdeführer bzw. seine Familie ihnen eine Frau gebe und dass er für „vogelfrei“ erklärt werde. Eine Jirga sei einberufen worden, in der die Ältesten entschieden hätten, dass seine Familie keine Frau anbieten könne, da seine Schwestern alle schon verheiratet gewesen seien. Die Jirga habe bei der Familie um Gnade für ihn gebeten, ihn jedoch für vogelfrei erklären müssen und die Familie habe theoretisch mit ihm machen können, was sie wollte. Seinen anderen Familienangehörigen habe jedoch auf keinen Fall etwas getan werden dürfen. Die Familie habe seinen Tod gewollt und wiederholt Drohungen ausgesprochen. Er sei dann die letzten Tage bei seinem Schwiegervater versteckt gewesen und aus Angst um sein Leben geflüchtet. Die Familie der Frau habe auch mit den Taliban Kontakt und Verwandte in der Regierung, sie hätten ihn überall in Afghanistan und auch in Pakistan oder dem Iran finden können. Im Rahmen der Einvernahme legte er seine Tazkira und ein Schriftstück, bei dem es sich um den Beschluss der Jirga handeln soll, vor.
4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit oben genanntem Bescheid vom 15.03.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe keine individuelle Gefährdungslage in Afghanistan glaubhaft vorbringen können. Es liege eine allgemeine Gefährdungslage für ihn in der Heimatprovinz vor, jedoch bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative. Er könne seinen Lebensunterhalt in Kabul bestreiten.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 10.04.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In dieser brachte er im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie mangelhafte Länderfeststellungen, insbesondere zum Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, getroffen und den Beschwerdeführer unzureichend befragt habe. Auch die Beweiswürdigung der Behörde zum Fluchtvorbringen sei unschlüssig, der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm nicht zur Verfügung, da er nur einmal in Kabul zu Besuch gewesen sei und dort keine familiären Anknüpfungspunkte habe. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre ihm daher der Status des Asylberechtigten, jedenfalls aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
6. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 11.04.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 12.04.2018 einlangten.
7. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.01.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugewiesen, wo diese am 27.01.2020 einlangte.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.11.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil, der Behörde wurde das Verhandlungsprotokoll übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor.
Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen und Unterstützungsschreiben vor.
9. Mit Eingabe vom 24.11.2020 erstattete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Stellungnahme, in der es im Wesentlichen ausführte, auch nach der mündlichen Verhandlung sei festzustellen, dass eine wohlbegründete Furcht nicht glaubhaft dargelegt worden sei. Die Schilderungen seien nicht lebensnah und detailreich gewesen, Details hätten erst erfragt werden müssen. Überdies sei das Vorbringen gesteigert worden und die geschilderte Abfolge der Ereignisse logisch nicht nachvollziehbar. Ein bloß intrafamiliärer Konflikt könne in keiner Weise eine asylrelevante Verfolgung iSd GFK nach sich ziehen. Aktuelle Bedrohungen gegen die in Afghanistan aufhältigen Familienangehörigen seien auch nicht vorgebracht worden. Selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens, die Familie wäre mächtig und einflussreich, sei eine landesweite Verfolgung durch diese jedenfalls auszuschließen. Dem Beschwerdeführer stehe somit eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Masar-e Scharif oder Herat zur Verfügung. Auch die aktuelle COVID-19-Pandemie stelle keine Gefährdung im Sinne einer Schutzwürdigkeit gemäß § 8 AsylG dar.
10. Mit Eingabe vom 09.12.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, er habe mehrfach widerspruchsfrei die Gefahr einer Blutrache/Blutfehde vorgebracht, wozu auf ergänzende Länderberichte verwiesen werde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sie dem Beschwerdeführer aus individuellen Gründen sowie insbesondere aufgrund der derzeitigen Verschlechterungen in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie nicht zumutbar. Die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif, habe sich aufgrund der Corona-Pandemie weiter verschärft. Lebensmittelpreise seien stark gestiegen, Erkrankte und Rückkehrer würden stigmatisiert, es gebe keine Möglichkeit zur Isolation, die medizinische Versorgung sei mangelhaft und der Arbeitsmarkt, insbesondere hinsichtlich ungelernter Tagelöhner, sei eingebrochen.
II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:
1. FESTSTELLUNGEN:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Stellungnahmen, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, zu seiner Ausreise aus Afghanistan und zu seinem gesundheitlichen Zustand:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Er spricht auch etwas Dari.
Er führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX (auch XXXX ) in der Provinz Kunar und übersiedelte später in die Provinzhauptstadt Assadabad, wo er rund 30 Jahre lang bis zur Ausreise lebte. Der Beschwerdeführer besuchte sieben Jahre lang die Schule. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert. Er arbeitete bis zu seiner Ausreise als Fahrer und transportierte Holz und Personen.
Der Beschwerdeführer ist seit ca. 15 Jahren verheiratet und hat einen ca. 13 Jahre alten Sohn. Seine Ehefrau und sein Sohn leben bei seinen Schwiegereltern in der Provinz Kunar.
Auch die Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern, drei Halbbrüder und vier Halbschwestern des Beschwerdeführers leben noch in der Provinz Kunar. Derzeit hat er keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen.
Der Beschwerdeführer ist gesund und derzeit nicht in ärztlicher Behandlung. Bei ihm handelt es sich um einen Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt aufgrund einer „Blutrache“ durch die Familie einer von ihm bei einem Unfall getöteten Frau droht.
Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit, in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seit seiner Antragstellung am 28.11.2017 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Er bezieht seit seiner Antragstellung Leistungen aus der Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer arbeitet ehrenamtlich als Hilfskraft für die Marktgemeinde XXXX , etwa in den Bereichen Gartenpflege und Schneeräumung. Er verfügt über einen Dienstvorvertrag mit dem Gasthaus XXXX für eine Arbeit als Küchenhilfe im Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels, und war dort auch bereits ehrenamtlich als Küchenhilfe tätig. Er erledigt diverse Arbeiten in seiner Unterkunft. Erwerbstätig war er in Österreich noch nicht.
In Österreich leben zwei Halbbrüder des Beschwerdeführers als Asylberechtigte. Zu ihnen hat er regelmäßigen Kontakt, in der Regel telefonisch. Auch ein Cousin väterlicherseits lebt in Österreich. Der Beschwerdeführer hat in Österreich Freunde und Bekannte.
Er wird von Freunden, Bekannten und Arbeitgebern als hilfsbereit, engagiert, gewissenhaft, verlässlich, fleißig, pünktlich und tüchtig beschrieben.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Er hat keine Deutschkurse besucht und keine Deutschprüfung abgelegt und verfügt über geringe Deutschkenntnisse.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr an seinen Herkunftsort in der Provinz Kunar aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde (siehe die folgenden Feststellungen unter 1.5.).
Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können. Die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, besteht sohin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Er ist im afghanischen Familienverband aufgewachsen, sohin mit den sozialen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut, spricht die Landessprache Paschtu, verfügt über siebenjährige Schulbildung und jahrzehntelange Berufserfahrung als Fahrer in Afghanistan, welche er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen wird können.
Festgestellt wird, dass auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einer relevanten physischen Vorerkrankung keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand vom 21.07.2020 (LIB), in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.5.1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren.
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68 % der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück. (LIB)
1.5.1.1 Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht und die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet.
Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces). Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand. (LIB)
1.5.1.2 Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019). (LIB)
1.5.1.3. Herkunftsprovinz Kunar
Kunar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Nuristan, im Osten an Pakistan (Provinz Khyber Pakhtunkhwa), im Süden an Nangarhar und im Westen an Laghman (NPS o.D.kn; vgl. UNOCHA 4.2014kn). Neben der Provinzhauptstadt Asadabad (NPS o.D.kn; vgl. OPr 1.2.2017kn) ist die Provinz in die folgenden Distrikte unterteilt: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor und Sheltan (CSO 2019; vgl. IEC 2018, UNOCHA 4.2014kn, NPS o.D.kn, OPr 1.2.2017kn). Letzterer wird als „temporärer Distrikt“ definiert, was bedeutet, dass er als Teil der Provinz gilt, aber sein Status als solcher vom afghanischen Parlament noch nicht genehmigt wurde (AAN 16.8.2018; vgl. CSO 2019).
Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Kunar für den Zeitraum 2019-20 auf 490.690 (CSO 2019). Sie besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai und Nuristani (NPS o.D.kn; vgl. OPr 1.2.2017kn).
Eine Autobahn führt von Jalalabad durch die Distrikte Nurgal, Chawkay, Narang, Asadabad, Shigal nach Asmar (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA 4.2014kn). Vom Distrikt Asmar führt eine Straße durch die Distrikte Ghaziabad und Nari in die Provinz Nuristan (ST 9.8.2018). Die Provinz hat eine 175 Kilometer lange Grenze mit Pakistan (NPS o.D.kn). Diese Grenze, auch als Durandlinie bezeichnet, erhält nun eine Grenzbefestigung, die sich derzeit in Bau befindet und weit fortgeschritten ist. Diese Grenzbefestigung durch Pakistan soll entlang der gesamten Länge der Grenze in zwei bis drei Jahren abgeschlossen sein. Auf die Art sollen grenzüberschreitende Bewegungen von Aufständischen und Schmugglern unterbunden werden. Jedoch werden auch die Bewegungen von Zivilisten eingeschränkt, die familiäre Beziehungen auf beiden Seiten der Staatsgrenze haben (GN 5.7.2019). Im Jahr 2016 berichtete eine Quelle von drei offiziellen Grenzübergängen zwischen Kunar und Pakistan: Arandu, Gursal und Nawa-Pass (Dawn 2.9.2016). Um von Kunar nach Pakistan zu gelangen müsse man über Nangarhar fahren – was einen Umweg von mehreren Stunden bedeutet. Es gibt jedoch mehrere inoffizielle Durchlässe durch den Grenzzaun, die von Schmugglern und Aufständischen genutzt werden, welche die pakistanischen Grenzwächter bestechen (GN 5.7.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 wurde in Kunar auf einer Fläche von 1.723 Hektar Schlafmohn angebaut, was einem Anstieg der Anbaufläche von 6% entspricht (UNODC/MoCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die in der Provinz aktiven terroristischen Organisationen sind unter anderem: ISKP (TN 14.3.2017; vgl. LWJ 30.6.2019b), al-Qaida (Tolo 14.3.2017; vgl. LWJ 30.6.2019a) und Lashkar-e Taiba (Tolo 14.3.2017). Berichten zufolge soll sich die Präsenz des ISKP auf die östlichen Regionen – Kunar und Nangarhar – konzentrieren; die Stärke der Organisation wird mit 2.500 – 4.000 Kämpfern beziffert. Angeblich sollen Kämpfer des ISKP in Kunar eine eigene lokal-gefärbte Version des Islamischen Staates gegründet haben; in manchen Fällen offenbar aus opportunistischen Gründen – in der Regel Dispute mit anderen aufständischen Gruppen – mit denen sie zuvor verbunden waren. Das Überlaufen wurde wohl auch dadurch begünstigt, dass viele Kunaris (im Gegensatz zu den meisten anderen Afghanen) Salafisten sind, was sie – aufgrund ideologischer Ähnlichkeiten – anfälliger für den Wechsel zum Islamischen Staat macht (TD 14.5.2019).
Die Anzahl der al-Qaida-Aufständischen in Afghanistan wird von offizieller Seite auf 240 geschätzt – wobei sich die signifikanteste Anzahl auf 3 Provinzen – Badakhshan, Kunar und Zabul – verteilen soll. Kunar ist nach wie vor eine Region, in der ausländische Aufständische zu finden sind; die Lashkar-e-Tayyiba rekrutiert hier nach wie vor und finanziert Aktivitäten. Afghanischen Beamten zufolge beträgt die geschätzte Anzahl ihrer Mitglieder in den beiden Provinzen Kunar und Nangarhar um die 500. Die Lashkar-e-Tayyiba soll versucht haben, Beziehungen zu den Taliban und dem ISKP zu unterhalten und einen Waffenstillstand zu erreichen. In letzter Zeit hat sie jedoch versucht, sich vom ISKP zu distanzieren und somit eine neutralere Rolle eingenommen (UNSC 13.6.2019). Kunar ist eine der Grenzregionen, wo ausländische Terrororganisationen aktiv sind und sichere Rückzugsgebiete unterhalten (UNSC 13.6.2019). Auch betreiben Mitglieder der Teherik-e Taliban Pakistan (TTP) in der Provinz Kunar eine Militärbasis – das sogenannte Ghazi Camp; sie verlagerten ihre Basis nach Räumungsoperationen durch das pakistanische Militär nach Kunar (Dawn 8.3.2018; vgl. LWJ 22.1.2019). Deren Mitglieder werden auf 3.500 geschätzt (UNSC 13.6.2019). Aufständische, die in Gebieten tätig sind, die nicht von der Regierung kontrolliert werden, wie Chapadara und Dara-e-Pech, finanzierten sich durch Gewinne aus Entwaldung und Bergbau (IWPR 23.1.2018).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kunar in der Verantwortung des 201. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, die von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 256 zivile Opfer (77 Tote und 179 Verletzte) in der Provinz Kunar. Dies entspricht einem Rückgang von 36% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO), Landminen und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).
In der Provinz Kunar werden regelmäßig Sicherheitsoperationen durchgeführt (z.B. XI 4.7.2019; PAJ 13.6.2019; AJ 23.5.2019; KP 3.4.2019; TN 30.1.2019; UNAMA 24.2.2019; XI 24.9.2018), dabei wurden unter anderem Aufständische gefangen genommen oder getötet (z.B. PAJ 13.6.2019; BN 23.5.2019; KP 2.10.2018; AJ 15.6.2018), jedoch kam es unter anderem auch zu Todesopfern unter Zivilisten, z.B. im Mai 2019 (AJ 23.5.2019), sowie Dezember (UNAMA 2.24.2019) und Oktober 2018 (NYT 26.10.2018).
Zusammenstöße zwischen ISKP-Kämpfern und den Regierungskräften (KP 11.12.2018), aber auch zwischen ISKP-Anhänger und Taliban finden statt. Dabei werden Kämpfer auf beiden Seiten getötet und verletzt, zudem kommt es in manchen Fällen auch zu zivilen Opfern (ET 6.10.2018; vgl. UNSC 7.12.2018; KP 28.1.2019; KP 19.1.2019; PAJ 28.8.2018; KP 28.1.2019; KP 19.1.2019; PAJ 28.8.2018). (LIB)
1.5.1.4 Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (UNAMA 2.2020).
Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.9.2019; vgl KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.
Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019). (LIB)
1.5.2 Sichere Einreise
Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher. (EASO 2019)
1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht. (LIB)
1.5.3.1 Arbeitsmarkt
Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).
Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge, gibt es keine Hinweise darüber, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte. (LIB)
1.5.3.2 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die Kunsthandwerk und Teppiche anbieten. (LIB)
Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig. (EASO 2019)
In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Stadt Mazar-e Sharif die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt. (EASO 2019)
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen. (EASO 2019)
Mazar-e Sharif befand sich im Februar 2019 in Phase 2 des von FEWS NET verwendeten Klassifizierungssystems. In Phase 2, auch „Stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und seien nicht in der Lage sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden. (ECOI 2019)
1.5.3.3 Bank- und Finanzwesen
Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen, entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), 2 Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Bis heute sind mehr als ein Dutzend Banken im Land aktiv: unter anderem die Afghanistan International Bank, Azizi Bank, Arian Bank, oder The First Microfinance Bank, Ghazanfar Bank, Maiwand Bank, Bakhtar Bank. (LIB)
1.5.3.4 Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen. (LIB)
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten. (LIB)
1.5.4 Medizinische Versorgung
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer Einrichtung entfernt.
Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger/innen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden. Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich.
Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos.
Berichten von UN OCHA zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Berichten zufolge können Patient/innen in manchen öffentlichen Krankenhäusern aufgefordert werden, für Medikamente, ärztliche Leistungen, Laboruntersuchungen und stationäre Behandlungen zu bezahlen. Medikamente sind auf jedem afghanischen Markt erwerbbar, die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar.
90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt.
Beispielsweise um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab – mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Seit dem Jahr 2009 wurden insgesamt 65 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen gebaut oder renoviert. Neben verbesserten diagnostischen Methoden kommen auch innovative Technologien wie z.B. Telemedizin zum Einsatz.
Innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Im Regional Hospital von Mazar-e Sharif (Darwazi Balkh) kann man Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten.
Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan. (LIB)
1.5.5 Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Pashtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen. (LIB)
1.5.5.1 Paschtunen
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.a). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze (USDOS 11.3.2020). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (BFA 7.2016).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden (BFA 7.2016; vgl. NYT 10.6.2019) und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (BFA 7.2016).
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung (BBC 26.5.2016; vgl. RFE/RL 13.11.2018, EASO 9.2016, AAN 4.2011), werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen (EASO 9.2016). Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen (RFE/RL 13.11.2018; vgl. AAN 4.2011, EASO 9.2016). Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (EASO 9.2016).
1.5.6 Religion
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).
Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).
Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.6.2019).
Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019). Da Religio