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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. November 2020, Zl. W131 2164355-1/36E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H G, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, Promenade 3), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkt A) II. - IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 25. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 21. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Amtsrevisionswerberin) den Antrag vollinhaltlich ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan fest (Spruchpunkt III.) und setzte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).
3 Mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erlassenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) die dagegen vom Mitbeteiligten erhobene Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.), erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.) und behob die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.). Weiters sprach es aus, dass die Revision gegen Spruchpunkt A) I. nicht zulässig, gegen die Spruchpunkte A) II. bis IV. jedoch zulässig sei (Spruchpunkt B)).
4 Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Verwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass dem Mitbeteiligten bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 3 EMRK drohe. Der Mitbeteiligte habe „rücksichtlich der aktuellen Arbeitsmarktsituation in Afghanistan derzeit kein taugliches Unterstützungsnetzwerk, das ihn nach seiner Rückkehr unterstützen könnte, nachdem seine Familie nach den unbestrittenen Verhandlungsangaben dazu derzeit nicht in der Lage“ sei. Die Covid-19-Pandemie und ihre sozioökonomischen Folgen zusammen mit der sich verringernden territorialen Kontrolle der afghanischen Regierung würden dazu führen, dass der Mitbeteiligte in Afghanistan in eine ausweglose, existenzbedrohende Lage geraten würde.
5 Die vorliegende ordentliche Amtsrevision wendet sich gegen die Spruchpunkte A) II. bis IV. des angefochtenen Erkenntnisses. Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzes eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 28.4.2020, Ra 2020/14/0158-0161, Rn. 12, mwN).
7 Der bloße Hinweis des Verwaltungsgerichts, es liege „noch keine gefestigte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Sachverhalt gemäß LIB zu Afghanistan idF 21.07.2020 ..., ob insoweit bei Fällen wie dem vorliegenden subsidiärer Schutz zuzuerkennen bzw. zuerkennbar“ sei, vor, kann daher die Zulässigkeit der Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht begründen. Mit dieser auf die spezifische Situation in einem Herkunftsstaat abgestellte Frage wird keine zur Zulässigkeit der Revision führende Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt, weil sich die Kriterien für die Prüfung und Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht länderspezifisch unterschiedlich darstellen (vgl. VwGH 14.9.2016, Ra 2016/18/0081, 0082, Rn. 11; 16.11.2016, Ra 2016/18/0288, Rn. 6, jeweils mwN).
8 Die Amtsrevisionswerberin hingegen zeigt in ihrem gesonderten Zulässigkeitsvorbringen zusammengefasst auf, dass das Verwaltungsgericht bei seiner Beurteilung der realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung des Mitbeteiligten im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan von (näher zitierter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur ganzheitlichen einschließlich der persönlichen Situation des Mitbeteiligten berücksichtigenden Bewertung möglicher Gefahren abgewichen ist.
9 Die Revision ist demnach aus den von der Amtsrevisionswerberin dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.
10 Ausgehend von einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat, kann die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, dass exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 22.7.2019, Ra 2019/01/0184, Rn. 7; 12.10.2020, Ra 2020/20/0001, Rn. 14, jeweils mwN).
11 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175, Rn. 32; 3.12.2020, Ra 2020/19/0108, Rn. 16, mwN).
12 Die Amtsrevision zeigt zu Recht das Fehlen hinreichender Feststellungen zum Vorliegen exzeptioneller Umstände in der Person des Mitbeteiligten auf, die es diesem im Falle seiner Rückkehr verunmöglichen würden, in seinem Herkunftsstaat seine menschlich existenziellen Grundbedürfnisse zu decken. Der bloße Hinweis des Verwaltungsgerichts auf den „im Gefolge von Covid-19 stark eingebrochenen bzw. zusammengebrochenen“ Arbeitsmarkt in Afghanistan und das Fehlen eines tauglichen familiären Unterstützungsnetzwerks reicht dazu nicht aus.
13 Gemäß § 18 VwGVG ist Partei (des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) auch die belangte Behörde. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist damit zumindest ein Zweiparteienverfahren, in dem der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, die gleichen Parteirechte (unter anderem Recht auf Akteneinsicht, Parteiengehör, Ladung zur Verhandlung, Fragerecht an die Parteien, Zeugen und Sachverständigen, Zustellung der Entscheidung) wie dem Beschwerdeführer zukommen. Es stehen sich damit der Beschwerdeführer und die belangte Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich gleichberechtigt gegenüber (vgl. idS zum BFA § 21 Abs. 1 BFA-VG). Wenn nun das Verwaltungsgericht - wie vorliegend - von der Entscheidung der Amtsrevisionswerberin abweichen will, ist es daher gehalten, auf deren beweiswürdigende Argumente einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. zu allem VwGH 15.5.2019, Ra 2019/01/0012, Rn. 27, mwN).
14 Dem ist das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis nicht nachgekommen. Im Gegensatz zur Amtsrevisionswerberin hat sich das Verwaltungsgericht nicht damit beschäftigt, dass es sich beim Mitbeteiligten um einen gesunden, arbeitsfähigen, jungen Mann mit Berufserfahrung handelt, bei dem die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne (vgl. dazu etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2019/01/0497, mwN). Überdies stellte die Amtsrevisionswerberin in ihrem Bescheid fest, der Mitbeteiligte verfüge in seiner Herkunftsregion über drei gute Freunde auf deren finanzielle Unterstützung er neben jener seiner Familie bei einer Rückkehr zurückgreifen könne. Der Hinweis auf die im Gefolge der Covid-19-Pandemie belastete sozioökonomische Situation und der „nach den unbestrittenen Verhandlungsangaben“ fehlenden familiären Unterstützungsmöglichkeit ohne Auseinandersetzung mit den davon abweichenden Argumenten der Amtsrevisionswerberin im erstbehördlichen Bescheid genügt nicht (vgl. zur durch die Covid-19-Pandemie bedingten schwierigen wirtschaftlichen Lage in Afghanistan etwa VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, Rn. 19, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 9. Februar 2021
Schlagworte
Parteibegriff - Parteienrechte Allgemein diverse Interessen Rechtspersönlichkeit Parteiengehör AllgemeinEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021010007.J00Im RIS seit
23.03.2021Zuletzt aktualisiert am
23.03.2021