TE OGH 2021/2/17 12Os16/20z

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Veröffentlicht am 17.02.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Februar 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in der Strafsache gegen Abdirahman O***** wegen Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 18. Oktober 2019, GZ 39 Hv 88/19v-26, sowie über deren Beschwerde gegen den zugleich ergangenen Beschluss auf Absehen vom Widerruf bedingter Entlassung unter Verlängerung der Probezeit nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019) zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Aus deren Anlass werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch 1./ wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB, demzufolge auch im Strafausspruch, und der zugleich ergangene Beschluss auf Widerruf bedingter Strafnachsichten und auf Absehen vom Widerruf bedingter Entlassung unter Verlängerung der Probezeit aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Innsbruck verwiesen.

Mit ihrer Berufung und ihrer Beschwerde wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

[1]       Mit dem angefochtenen Urteil wurde Abdirahman O***** je eines Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB (1./) sowie der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB (2./) schuldig erkannt.

[2]            Danach hat er in I*****

1./ am 10. November 2018 dem am Boden liegenden Bashir H***** durch Versetzen eines Fußtritts gegen den Kopf- und Genickbereich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zuzufügen versucht und

2./ am 14. April 2019 Abdiwasa S***** durch Versetzen von zwei Faustschlägen vorsätzlich am Körper verletzt und diesem dadurch fahrlässig eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine Impressionsfraktur der zwei vorderen Schneidezähne des Oberkiefers, zugefügt.

[3]            Hingegen wurde er gemäß § 259 Z 3 StPO von der wider ihn erhobenen Anklage freigesprochen, er habe am 10. November 2018 in I***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei bislang unbekannten Mittätern dem am Boden liegenden Omar M***** durch Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten gegen den Kopf- und Genickbereich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zuzufügen versucht.

Rechtliche Beurteilung

[4]       Gegen den Freispruch wendet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 und 9 lit b StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.

[5]            Voranzustellen ist, dass ein Freispruch nach § 259 Z 3 StPO zu fällen ist, wenn die der Anklage zugrundeliegende Tat vom Gesetz nicht mit Strafe bedroht ist, der Tatbestand nicht hergestellt oder nicht erwiesen ist, dass der Angeklagte die Tat begangen hat oder (wie hier vom Erstgericht bejaht [US 11]) Umstände vorliegen, durch die die Strafbarkeit aufgehoben oder die Verfolgung (aus anderen Gründen als unter Z 1 und 2 des § 259 StPO angegeben) ausgeschlossen ist (vgl Lendl, WK-StPO § 259 Rz 36). Die vorzunehmende Darstellung der unter Anklage gestellten Tat im Urteilssatz des Freispruchs ist nicht an die Formvorschriften für den Tenor eines verurteilenden Erkenntnisses (vgl § 260 Abs 1 Z 1 StPO) gebunden (Lendl, WK-StPO Vor §§ 259, 260 Rz 7, § 259 Rz 11 f; Danek, WK-StPO § 270 Rz 19) und bringt nicht per se eine Verneinung der Tatbegehung zum Ausdruck.

[6]            Ein Widerspruch in der Bedeutung der Z 5 dritter Fall kann zwischen der Wiedergabe des Anklagevorwurfs im freisprechenden Erkenntnis (§ 259 StPO; § 270 Abs 2 Z 4 StPO; dazu Lendl, WK-StPO Vor §§ 259, 260 Rz 7, § 259 Rz 11 f und 36; Danek, WK-StPO § 270 Rz 19) und Urteilsfeststellungen (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) von vornherein nicht bestehen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 392 und 439). Mit dem – hier von der Staatsanwaltschaft nicht erhobenen – Einwand, tatsächlich getroffene Feststellungen würden (anstelle des gefällten Freispruchs) einen Schuldspruch tragen, wird vielmehr Nichtigkeit aus Z 9 lit a behauptet.

[7]       Dem Beschwerdevorbringen zuwider haben die Tatrichter bedingt vorsätzliches Handeln in Bezug auf die Herbeiführung einer schweren Körperverletzung nicht verneint (US 6). Die aus der gegenteiligen Prämisse entwickelten Einwände der Undeutlichkeit (Z 5 erster Fall) und Widersprüchlichkeit (Z 5 dritter Fall) gehen daher schon im Ansatz ins Leere.

[8]            Hinzugefügt sei, dass die Feststellung absichtlichen Vorgehens in Ansehung des Versetzens der Faustschläge und Fußtritte gegen den Körper sowie des Versetzens eines Fußtritts gegen den Kopf- und Genickbereich (US 5) und die Feststellung, wonach Absichtlichkeit in Ansehung der Herbeiführung einer schweren Körperverletzung nicht feststellbar sei (US 6), nach den Denkgesetzen durchaus nebeneinander bestehen können (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 438).

[9]            Die Ableitung der Konstatierungen zur subjektiven Tatseite aus den Tatumständen und dem objektiven Geschehensablauf in Verbindung mit allgemeiner Lebenserfahrung ist unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit (Z 5 vierter Fall) nicht zu beanstanden (RIS-Justiz RS0116882 [insbesondere T10], RS0098671).

[10]           Der Einwand, die Feststellungen zum Vorliegen der objektiven Erfordernisse für die Annahme einer Notwehrsituation – soweit sie das Erstgericht aus den „Unschärfen“ der Aufzeichnungen der polizeilichen Videoüberwachung ableitete (US 9 f) – seien „aktenwidrig“, verkennt, dass Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall) dann vorliegt, wenn das Urteil den eine entscheidende Tatsache betreffenden Inhalt einer Aussage oder einer Urkunde in seinem wesentlichen Teil unrichtig oder unvollständig wiedergibt (RIS-Justiz RS0099431; 12 Os 21/20k, 12 Os 103/20v). Mit eigenständigen Beweiswerterwägungen zu der in der Hauptverhandlung vorgeführten Videoaufzeichnung (ON 25 S 6) wendet sich die Staatsanwaltschaft bloß nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zulässigen Schuldberufung (§ 283 Abs 1 StPO) gegen die den Tatrichtern vorbehaltene Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO).

[11]           Soweit die Beschwerdeführerin einen „Widerspruch“ (Z 5 dritter Fall) zwischen den Feststellungen zum Beginn der Auseinandersetzung und der Videoaufzeichnung sieht, geht sie daran vorbei, dass der Hinweis auf angebliche Beweisergebnisse, die allenfalls gegen die getroffenen Feststellungen sprechen, unter dem Aspekt der Z 5 dritter Fall unbeachtlich ist (RIS-Justiz RS0119089 [T1]).

[12]           Entgegen der eine fehlende Begründung (Z 5 vierter Fall) der Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen – insbesondere in Bezug auf das Vorliegen einer Notwehrsituation – behauptenden Beschwerde stützten die Tatrichter diese ohne Verstoß gegen Denkgesetze oder grundlegende Erfahrungswerte (vgl RIS-Justiz RS0118317) auf die Ergebnisse der polizeilichen Videoüberwachung (US 8 ff).

[13]           Soweit die Beschwerdeführerin in ihrer zum Nachteil des Angeklagten ausgeführten Nichtigkeitsbeschwerde aufzeigt, dass in den Feststellungen zum Schuldspruch 1./ Omar M***** als Opfer genannt wird (US 6), ungeachtet dessen aber von einem „folgerichtigen“ Schuldspruch wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung zum Nachteil des Bashir H***** (US 2) ausgeht, wird auf die amtswegige Maßnahme verwiesen.

[14]           Die einen Rechtsfehler mangels Feststellungen zum Vorliegen einer Notwehrsituation behauptende Rechtsrüge („Z 9 lit b“ [vgl aber Ratz, WK-StPO § 281 Rz 634 mwN]) leitet nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab (RIS-Justiz RS0116565), weshalb die Feststellungen, wonach der Angeklagte die Tathandlungen in einer Situation setzte, in welcher Bashir H***** und Omar M***** jeweils zumindest einen Faustschlag gegen den Kopfbereich des Angeklagten und seiner Mittäter unmittelbar gesetzt hatten oder diese Angriffe unmittelbar bevorstanden (US 5), für die rechtsrichtige Annahme des Vorliegens einer Notwehrsituation nicht ausreichen sollten (vgl Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 17 ff). Vielmehr beschränkt sie sich darauf, ihre Beweiswerterwägungen zu den Ergebnissen der polizeilichen Videoüberwachung zu wiederholen.

[15]           Indem die Beschwerdeführerin vorbringt, der Angeklagte habe sich auf die vom Erstgericht „in eventu“ bejahte irrtümliche, nicht vorwerfbare „Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts (§ 8 StGB)“ (US 11) nicht berufen, verfehlt sie schon den Bezugspunkt materiell-rechtlicher Nichtigkeit (RIS-Justiz RS0099810).

[16]           Mit dem Einwand, die entsprechenden Feststellungen zur subjektiven Tatseite seien „nicht nachvollziehbar“ begründet (der Sache nach Z 5 vierter Fall), ist die Rüge auf die Ausführungen zum gleichlautenden Vorwurf oben zu verweisen.

[17]     Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

[18]     Aus deren Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem angefochtenen Urteil – wie auch die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt – im Schuldspruch 1./ von Amts wegen wahrzunehmende Nichtigkeit gemäß § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO anhaftet (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).

[19]     Denn den Entscheidungsgründen können keine Feststellungen entnommen werden, wonach der Angeklagte am 10. November 2018 in I***** versucht hätte, Bashir H***** durch Versetzen eines Fußtritts gegen den Kopf- und Genickbereich absichtlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zuzufügen.

[20]     Dieser Rechtsfehler (Z 9 lit a) führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils wie aus dem Spruch ersichtlich (§§ 285e, 290 Abs 1 zweiter Satz StPO).

[21]     Mit ihrer Berufung und ihrer Beschwerde war die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.

Textnummer

E130867

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0120OS00016.20Z.0217.000

Im RIS seit

10.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

10.03.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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