Rechtssatznummer
1Entscheidungsdatum
16.02.2021Index
41/01 SicherheitsrechtNorm
SPG 1991 §88 Abs1;Rechtssatz
Sowohl der Kindesvater als auch die Kindesmutter haben jeweils das (geteilte bzw gemeinsame) Obsorgerecht. Am gegenständlichen Abend bestand das gerichtlich angeordnete Besuchsrecht des Vaters. Allein schon aus diesem Grund hätte eine ausdrückliche Zustimmung des Vaters vorliegen müssen, damit sein Sohn von der Mutter abgeholt wird. Diese lag nicht vor.
Doch auch wenn man keine ausdrückliche Zustimmung für erforderlich erachten würde, lag bei Gesamtbetrachtung der Amtshandlung der Eindruck einer Befolgungspflicht des Beschwerdeführers und somit keine Freiwilligkeit vor.
Gegen das Vorliegen eines Eindrucks einer Befolgungspflicht und somit für das Vorliegen der Freiwilligkeit sind erstens persönliche Aspekte des Beschwerdeführers ins Treffen zu führen. Er ist der deutschen Sprache mächtig, kann sich artikulieren, kennt die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie damit verbunden seine Rechte und Pflichten. Zweitens setzte der Beschwerdeführer bestimmte Handlungen, die als konkludente Zustimmung gedeutet werden könnten. So forderte er seinen Sohn auf, sich anzuziehen, und packte seine Tasche.
Im Gegensatz dazu spricht für den Eindruck einer Befolgungspflicht und somit gegen die Freiwilligkeit erstens die an den Beschwerdeführer gerichtete Aussage der Polizistin. Die Ankündigung, die Mutter kommt das Kind abholen, impliziert eine schon getroffene Willensübereinkunft zwischen der Polizistin und der Kindesmutter, bei der dem Kindesvater kein Mitspracherecht zukommt. Bei der Äußerung schwingt ein rechtsgestaltender Charakter mit.
Zweitens brachte der Beschwerdeführer seinen Widerspruch mehrfach zum Ausdruck. So wies er als Reaktion auf die – vor Gericht getroffene – Besuchsregelung hin, wonach die Kinder an diesem Wochenende bei ihm sind. Darüber hinaus verlangte er die Dienstnummern der einschreitenden Polizistinnen, die für rechtliche Schritte dienlich sein können (dazu § 9 Abs 4 VwGVG für die Erhebung einer Maßnahmenbeschwerde) und somit auf eine Unzufriedenheit mit der Amtshandlung hindeuten. Später kontaktierte er seinen Rechtsvertreter und forderte die einschreitende Polizistin ausdrücklich auf, die Angelegenheit mit diesem zu sprechen. Dies wurde verweigert. Daraufhin drohte der Beschwerdeführer den Polizistinnen rechtliche Konsequenzen an. Abgesehen davon holten die Polizistinnen nicht die Zustimmung des Kindesvaters ein. Auch wenn man eine ausdrückliche Zustimmung nicht für erforderlich halten würde, stellt doch das Unterlassen einer dahingehenden Frage an den obsorge- und besuchsberechtigten Elternteil ein Indiz gegen die Freiwilligkeit dar.
Drittens sind auch weitere Alternativmöglichkeiten des Beschwerdeführers fraglich, um seinen Widerspruch auszudrücken. Verbunden mit dem finalen Charakter der Äußerung der Polizistin sah der Beschwerdeführer – wie vom Landesverwaltungsgericht Tirol festgestellt – keine Möglichkeit mehr sich zu widersetzen, da er vielmehr den Eindruck hatte, die Abholung seines Sohnes über sich ergehen lassen zu müssen. Auch wollte er keinerlei Handlungen setzen, die ihn einer Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt – wie ihn ausdrücklich von seinem Rechtsvertreter geraten – aussetzen könnte. Überdies fand die gesamte Amtshandlung vor den Augen der Kinder statt. Der achtjährige Sohn war über die Abholung durch seine Mutter schon informiert. Somit ist es nachvollziehbar, wenn der Kindesvater einen zusätzlichen Widerstand unterlässt, um die offenbar ohnehin fragile Beziehung zu seinem Sohn nicht weiter zu beschädigen.
Viertens sind auch die übrigen Umstände der Amtshandlung zu betrachten. So handelt es sich um 21:00 Uhr üblicherweise um Schlafenszeit für Kinder in diesem Alter, nur unüblicherweise um Zeiten für Transporte von einem Elternteil zum anderen. Die Amtshandlung fand im Kinderzimmer der Wohnung des Beschwerdeführers statt. Ein – wenn auch vom Beschwerdeführer freiwillig gestattetes – Betreten dieses besonders geschützten Privatbereichs verschafft dort getätigten Aussagen zusätzliches Gewicht. Auch verleiht das Tragen einer Uniform grundsätzlich Aussagen und Handlungen einschreitender Polizeibeamten zusätzliche Autorität.
Abschließend und wohl am gewichtigsten stellt fünftens die Abholung des eigenen Kindes einen besonders gravierenden Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 EMRK dar, bei dem die Freiwilligkeit unter besonders strengen Gesichtspunkten zu prüfen ist.
In Zusammenschau überwiegen somit die Argumente für das Vorliegen eines Eindrucks einer Befolgungspflicht und somit gegen die Freiwilligkeit. Bei objektiver Betrachtungsweise musste für den Beschwerdeführer bei Beurteilung der gegenständlichen Amtshandlung in ihrer Gesamtheit der Eindruck entstehen, dass bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung mit ihrer unmittelbaren zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen ist.
Vor dem Einschreiten der Polizistinnen befand sich der achtjährige Sohn des Beschwerdeführers im Kinderzimmer. Nach dem Gespräch der Polizistinnen mit dem Sohn, erfolgte ein Telefongespräch mit der Kindesmutter außer Hörweite des Beschwerdeführers. Dabei vereinbarte die Polizistin mit der Kindesmutter, dass diese das Kind abholt, was schließlich erfolgte. Das Einschreiten der Polizistinnen führte zur Abholung des Kindes durch die Kindesmutter gegen den Willen des Kindesvaters. Ohne die Involvierung der Polizistinnen wäre es nicht dazu gekommen. Durch das Telefonat zwischen der Polizistin und der Kindesmutter, der dabei vereinbarten Abholung des Kindes, ohne Einholung einer ausdrücklichen Zustimmung des obsorgeberechtigten Kindesvaters an dem ihm aufgrund einer gerichtlich bewilligten Besuchsregelung zustehenden Wochenendes bzw gegen seinen Willen, handelt es sich um einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt.
Die gegenständliche Maßnahmenbeschwerde ist somit zulässig. Freilich richtet sich die gegenständliche Maßnahmenbeschwerde nur gegen die „zwangsweise Abnahme des Sohnes Tristan aus der Wohnung“. Das Betreten der Wohnung wurde nicht gerügt und ist somit vom Landesverwaltungsgericht Tirol auch nicht näher zu prüfen.
Die allenfalls heranzuziehende – von der belangten Behörde nicht einmal behauptete – Ermächtigung von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach § 162 Abs 1 ABGB auf Ersuchen eines berechtigten Elternteils bei der Ermittlung des Aufenthalts, notfalls auch bei der Zurückholung des Kindes mitzuwirken, scheidet aus. Erstens war der Aufenthalt des Kindes unzweifelhaft in der Wohnung des Kindesvaters und somit nicht unbekannt. Dieses Zurückholungsrecht liegt zweitens nicht vor, wenn das Kind der Besuchsregelung entsprechend das Wochenende beim obsorgeberechtigten Kindesvater verbringt (im Umkehrschluss aus AB 587 BlgNR 14. GP, 9). Drittens würde im Falle der Verweigerung der Herausgabe des Kindes der berechtigte Elternteil einen gerichtlichen Herausgabebeschluss benötigen (OGH 10 Ob 31/04 p = EFSlg 107.708; LGZ Wien 42 R 112/05 i; AB 587 BlgNR 14. GP, 9). Selbsthilfe ist nur zulässig, wenn richterliche Hilfe zu spät käme, zum Beispiel bei Gefahr, dass das Kind ins Ausland verbracht wird (Fischer-Czermak, § 162 ABGB, in Klete?ka/Schauer [Hrsg], ABGB-ON1.05 [Stand 1.10.2018] Rz 5 mwN). Auf § 162 Abs 1 ABGB kann sich somit die Amtshandlung der Polizistinnen im gegenständlichen Fall nicht stützen.
Gemäß Art 2 Abs 1 BVG Kinderrechte hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkten Kontakt zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Daraus lässt sich jedoch keine verfassungsunmittelbare Kompetenz zum Einschreiten von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ableiten.
Vielmehr handelt es sich bei Besuchsregelungen getrenntlebende Elternteile um Aspekte des grundrechtlich geschützten Familienlebens nach Art 8 EMRK. Bei dieser äußerst sensiblen Angelegenheit sind verschiedenste Aspekte zu berücksichtigen. Schon allein aus diesem Grund ergibt sich mangels Vorliegen einer tatsächlichen konkreten Gefährdung eines Kindes keine Kompetenz von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, sich über gerichtlich abgeordnete Besuchsregelungen hinwegzusetzen.
Auch wenn die beiden Polizistinnen bei der gegenständlichen Amtshandlung vermeinten, dem Wohl des Kindes zu entsprechen, handelte es sich um eine unüberlegte und unreflektierte Handlung. So sieht Art 2 Abs 1 BVG ausdrücklich das Recht eines Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkten Kontakte zu beiden Elternteilen vor. Es kann somit – im Gegensatz zur Annahme der beiden Polizistinnen – zum Wohl des Kindes sein, beim Vater zu bleiben, um mit diesem eine Beziehung aufzubauen. Durch ihre aus einer Momentaufnahme getroffenen Einschätzung des Wohls des Kindes, ignorierten die Polizistinnen zahlreiche ebenfalls zu berücksichtigende Umstände.
Für diese Amtshandlung lag keine rechtliche Grundlage vor. Die Polizistinnen überschritten ihre Befugnisse und konterkarierten gerichtlich bewilligte Besuchsregelungen. Die beiden Polizistinnen verletzten somit durch ihr Einschreiten das Recht des Beschwerdeführers nach Art 8 EMRK ohne eine entsprechende einfachgesetzliche Grundlage. Diese wäre jedoch nach Art 8 Abs 2 EMRK sowie nach dem Legalitätsprinzip gemäß Art 18 B-VG erforderlich gewesen.
Schlagworte
Befolgungspflicht;European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGTI:2021:LVwG.2020.14.2727.11Zuletzt aktualisiert am
09.03.2021