TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/20 W184 2142161-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.08.2020
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Entscheidungsdatum

20.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W184 2142161-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.11.2016, Zl. 1047200405/140246935, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.08.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10, 57 AsylG 2005, §§ 52, 55 FPG und § 9 BFA-VG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Asylantrag des älteren Bruders der beschwerdeführenden Partei, XXXX , vom 28.06.2012 war mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.07.2014 abgewiesen worden. Das Fluchtvorbringen, wonach dieser der Privatchauffeur des Kommandanten XXXX gewesen und beschuldigt worden sei, dass dessen Tochter von ihm schwanger geworden sei, war als unglaubwürdig beurteilt worden. Hingegen war dem Bruder bereits mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.08.2013 subsidiärer Schutz gewährt worden.

Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte am 03.12.2014 nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.

Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst:

Die beschwerdeführende Partei habe bei der Erstbefragung zum Fluchtgrund angegeben, dass sein Bruder seit circa drei Jahren in Österreich lebe, wehalb er zu diesem komme, um in Zukunft in Österreich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und seine Familie damit zu versorgen. Sonst habe er keine weiteren Fluchtgründe. Die Schleppung habe USD 7.500,- gekostet. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt am 27.09.2016 habe die beschwerdeführende Partei Folgendes ausgesagt: Er gehöre der Volksgruppe der Usbeken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei in der Provinz Faryab in der Stadt XXXX geboren und habe in Masar-e Scharif zwölf Jahre lang bis zur Matura im Jahr 2013 die Schule besucht. Bereits während der Schulzeit habe er eineinhalb Jahre als Verkäufer in einem Geschäft gearbeitet. Circa zwei bis drei Monate nach der Schule sei er aus Afghanistan geflüchtet. In Afghanistan habe er mit seinen Eltern, seinem Bruder und seiner Schwester in einer Mietwohnung gelebt. Die finanzielle Situation sei normal gewesen. Sein Vater habe inzwischen wieder geheiratet und dessen Aufenthalt kenne er nicht. Seine Mutter lebe bei ihren Brüdern in Faryab und mit diesen stehe er in Kontakt. Auf die Frage zu seinem Fluchtgrund habe die beschwerdeführende Partei ausgeführt, dass sein Bruder Fahrer von XXXX , eines Kommandanten von Dostum, sowie von der Tochter jenes Kommantanten gewesen sei. Diese sei schwanger geworden und man habe den Bruder verdächtigt und verfolgt. Sie haben abwechsend in Faryab und Masar-e Scharif gewohnt und er und sein Bruder seien von diesen Leuten verfolgt worden. Im Jahr 2013 oder 2014, etwa zweieinhalb Monate vor seinem Schulabschluss, sei er geschlagen und mit einer Waffe am Kopf verletzt worden. Er sei damals zu Fuß unterwegs gewesen auf seinem ca. 7-8 km langen Weg vom Geschäft nach Hause.

Es folgten im angefochtenen Bescheid die Sachverhaltsfeststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt und insbesondere ausgeführt wurde, dass die beschwerdeführende Partei in Afghanistan als Angehöriger der sozialen Gruppe der Familie wegen der seinem Bruder unterstellten Vorwürfe verfolgt werde. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan unzureichend und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative gebe es in Afghanistan nicht.

Laut einer Anzeige der Finanzpolizei wurde die beschwerdeführende Partei am 23.06.2020 bei einer unangemeldeten Beschäftigung betreten.

In einer Stellungnahme vom 07.08.2020 wurden folgende Unterlagen vorgelegt: ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 19.12.2016, Teilnahmebestätigungen über zahlreiche Deutschkurse, einen Vorbereitungslehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses sowie eine Informationsveranstaltung des ÖIF. Außerdem wurde unter Hinweis auf verschiedene Länderberichte ausgeführt, dass die Sicherheitslage in ganz Afghanistan unzureichend sei und dass keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative bestehe.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.08.2020 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die beschwerdeführende Partei Folgendes aussagte (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht, R = Richter, BF = beschwerdeführende Partei):

„R: Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen, dass Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren?

BF: Wenn ich nach Afghanistan zurückkehre, werde ich getötet. Ich habe in Afghanistan niemanden, mein Vater hat wieder geheiratet, meine Mutter lebt bei meinem Onkel mütterlicherseits, meine Schwester hat Afghanistan verlassen und wohnt derzeit in Deutschland.

R: Warum befürchten Sie, dass Sie getötet werden könnten?

BF: Mein Bruder war bei XXXX Chauffeur. Mein Bruder hat ab und zu die Tochter des XXXX chauffiert. Eines Tages ist die Tochter von XXXX schwanger geworden. Damit die Leute davon nichts wissen, dass sie mit jemand anderem die Beziehung hatte, hat er seitdem meinen Bruder beschuldigt, mit ihr eine Beziehung gehabt zu haben und dass sie von ihm schwanger geworden sei.

R: Was hat das mit Ihnen zu tun?

BF: XXXX wollte meinen Bruder töten. Mein Bruder ist geflüchtet. Dann wollten sie, nachdem mein Bruder geflüchtet war, mich erwischen. Die haben vorher nicht gewusst, wo wir gewohnt oder gearbeitet haben, aber sie haben mein Geschäft, also meinen Laden, gefunden, wo ich gearbeitet habe. Sie haben mich dann eines Tages auf dem Weg nach Hause verfolgt, es waren einige Leute auf dem Motorrad hinter mir her. Sie haben mich erwischt und haben mich schwerst geprügelt und sind geflüchtet. Dann bin ich mit der Familie nach XXXX übersiedelt. Dort verstarb mein Neffe, der Sohn meines Bruders, bei einem Bombenanschlag in einer Moschee. Aus diesem Grund haben wir auch XXXX verlassen und sind nach Mazar-e Sharif übersiedelt. Sie sind nach Mazar-e Sharif gekommen, ich war nicht zuhause und diese Leute sind zu meinen Eltern in Mazar-e Sharif gekommen. Als ich nach Hause gekommen bin, haben meine Eltern gesagt, ich soll von hier weggehen, sie werden mich töten.

R: Wo genau war dieser Überfall auf Ihre Person?

BF: Das war in XXXX in Mazar-e Sharif.

R: Was ist das genau, XXXX ?

BF: Das ist eine Gasse, wo Baumaterial verkauft wird und auch hergestellt wird.

R: Wann war dieser Überfall?

BF: Ich kann mich nur erinnern, dass das ca. vor sechseinhalb Jahren gewesen ist.

R: Vor ca. sechseinhalb Jahren, war das dann ca. Anfang 2014?

BF: Ja, das ist richtig.

R: Was wollten diese Leute auf den Motorrädern von Ihnen?

BF: Als sie mich angegriffen haben, bin ich umgefallen auf den Boden und war fast bewusstlos. Sie haben gesagt, wir werden dich töten, wenn wir deinen Bruder nicht finden.

R: Wo war damals Ihr Bruder?

BF: Mein Bruder war zu dieser Zeit ins Ausland geflüchtet und war unterwegs nach Österreich.

R: Haben Sie das diesen Leuten gesagt, dass Sie nicht wissen, wo Ihr Bruder ist, und dass er im Ausland ist?

BF: Da es mir schlecht ging, ich also ohnmächtig war, konnte ich es ihnen nicht sagen.

R: Wird Ihr Bruder heute immer noch gesucht in Afghanistan?

BF: Wenn es um eine außereheliche Beziehung (wörtlich: sexuellen Angriff) geht, wird das auch nach 40 Jahren nicht vergessen.

R: Was sagen Ihre Verwandten in Afghanistan zur Sicherheitslage, wird Ihr Bruder noch gesucht?

BF: Ich habe, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe, niemanden in Afghanistan, mit dem ich Kontakt aufnehmen kann, und ich habe keinen Kontakt nach Afghanistan. In diesen Tagen habe ich mit meiner Mutter wieder den Kontakt hergestellt, sie ist an Corona erkrankt und sie hat mir erzählt, dass die Frau meines Onkels väterlicherseits, wo sie wohnt, an Corona gestorben ist.

R: Was haben Sie erfahren über die Bedrohung Ihrer Person und Ihres Bruders?

BF: Meine Mutter sagte, du sollt nicht nach Afghanistan kommen. Erstens kannst du an Corona erkranken und daran sterben und zweitens ich kann dich nicht versorgen, ich bin selber arm und abhängig vom Onkel, und drittens bist du durch die Feinde gefährdet, sie werden dich töten. Es ist egal, wo ich in Afghanistan bin, sie werden mich erwischen und töten. Diese Kommandanten haben überall ihre Leute.

R: Hat Ihre Mutter gesagt, dass jemand nach Ihnen sucht, oder hat sie Drohbriefe bekommen?

BF: Meine Mutter ist bei meinem Onkel in XXXX . Sie hat so viel gesagt: Ich solle nicht zurückkommen, ich werde getötet.

R: Was ist unmittelbar nach diesem Überfall passiert?

BF: In der Gasse, wo sie mich angegriffen haben, war es dunkel geworden, es war Abend. Ich bin einfach nach Hause gegangen. Ich habe dann mit meinen Eltern ein Gespräch geführt, meine Eltern haben gesagt, ich soll Afghanistan verlassen, sonst werden sie mich töten.

R: Wie lange nach diesem Überfall sind Sie dann tatsächlich ausgereist?

BF: Ca. einen Monat bin ich noch in Afghanistan versteckt geblieben, und ich habe auch noch mit meinem Geschäftspartner gesprochen. Damit habe ich meine Sachen erledigt, ich habe bei diesem Geschäftspartner gewohnt in diesem Zeitraum.

R: Wo war das genau?

BF: In Mazar-e Sharif, XXXX . Das ist ein Bezirk der Stadt Mazar-e Sharif.

R: Wieso ist Ihr Vater dort noch nicht bedroht worden?

BF: Dort greifen sie alte Personen nicht an, sondern sie greifen einen jungen Mann aus der Familie an, damit seinem Vater das Herz blutet.

R: Wie sind Sie an dem Tag, an dem Sie angegriffen wurden, nach Hause gekommen? Zu Fuß oder mit einem Verkehrsmittel?

BF: Ich war zu Fuß unterwegs nach Hause.

R: Wie lang sind Sie von dem Geschäft nach Hause unterwegs gewesen?

BF: Zu Fuß ca. eine halbe Stunde.

R: Sie haben bei Ihrer Aussage beim Bundesamt gesagt, dass der Vorfall 1 km von Ihrem Geschäft entfernt war und dass Sie 7 bis 8 km nach Hause hatten.

BF: Der Weg war eine halbe Stunde zu Fuß. Ich habe Kilometer hier kennengelernt. Sie haben nach Kilometern gefragt, wenn sie nach Entfernungen gefragt haben. Es ist so lange her, fast vier Jahre, dass das BFA mich befragt hat.

BF (auf Deutsch): Ich habe vor vier Jahren das Interview gehabt. Ich habe vor vier Jahren meinen Vater und meine Mutter verloren. Meine Mutter lebt noch, aber sie ist für mich wie ein toter Mensch, weil sie so weit weg ist. Sie ist jetzt krank und kann nicht zu Fuß gehen.

(Auf Usbekisch): Als ich am Anfang in Österreich war, war ich in Villach, dann bin ich zu meinem Bruder nach XXXX gekommen. Bei ihm konnte ich in seiner Familie Deutsch lernen, aber nachdem mehrere Jahre vergangen sind und ich in Stress geraten bin, kann ich jetzt nicht gut lernen bzw. konzentriert Deutsch sprechen.

R: Als Sie damals überfallen wurden, sind Sie damals in die Schule gegangen oder war die Schule vorbei?

BF (auf Deutsch): Die Schule war schon abgeschlossen.

(Auf Usbekisch): Ich habe die Schule schon vorher abgeschlossen gehabt, dann habe ich ein Geschäft bzw. einen Laden gegründet. Nach der Gründung des Geschäftes oder Ladens haben sie mich entdeckt, also gefunden.

R: Das heißt, diese Leute wussten, wo Ihr Geschäft ist, aber nicht, wo Ihre Wohnung ist?

BF (auf Deutsch): Ja, weil das Geschäft im Zentrum war. Die Adresse meiner Wohnung kannten sie nicht.

R: Sie haben beim Bundesamt zu Ihrem Lebenslauf gesagt, dass Sie schon während der Schule das Geschäft betrieben haben.

BF: Ich habe eine Weile das Geschäft gehabt, dann habe ich das aufgegeben, weil die anderen hinter mir her waren. So konnte ich meine Schule fortsetzen. Ich hatte meine Schule beendet, dann habe ich das Geschäft weitergeführt, und diese Personen haben mich dann entdeckt. Ich habe nach Beendigung der Schule eine Aufnahmsprüfung an der Universität gemacht. Ich habe in Jus die Aufnahmsprüfung bestanden, ich wollte studieren und mir ein normales Leben in Afghanistan aufbauen. Mein Leben war in Gefahr und da konnte ich nicht studieren.

R: Haben Sie außer den Zeugnissen, die Sie mir vorgelegt haben, auch weitere Zeugnisse, wie z. B. Prüfungen?

BF: Ich habe den B1-Kurs gemacht. Ich habe die Prüfung gemacht und mir wurde gesagt, dass das Ergebnis demnächst kommt. Ich habe eine Telefonnummer bekommen, bei der ich nachfragen kann, ob ich die Prüfung bestanden habe oder nicht.

R: Der Kurs war vor zwei Jahren. Wieso haben Sie noch kein Zeugnis?

BF (auf Deutsch): Ich habe die Prüfung zweimal gemacht, aber nicht bestanden. Jetzt habe ich sie zum dritten Mal abgelegt. Ich habe mir Sorgen gemacht wegen meiner Mutter und meines Vaters. Wenn ich bei der Prüfung gesessen bin, habe ich an meine Mutter und meinen Vater gedacht und konnte den Stoff nicht aufnehmen. Mein Bruder ist von seiner Frau geschieden, er wohnt bei mir. Ihm geht es seelisch nicht gut und das ist auch für mich ein Problem, das ist auch ein Grund, warum ich mir beim Lernen schwertue. Ich betreue ihn, er hört nur auf mich, mit den anderen kommt er nicht aus.

R: Haben Sie einen Pflichtschulabschluss?

BF (auf Deutsch): Ja, ich habe Kurse für den Pflichtschulabschluss in Villach gemacht. In XXXX konnte ich den Pflichtschulabschluss nicht fortsetzen. In XXXX haben sie zu mir gesagt, dass ich hier den Kurs nicht weitermachen kann. In XXXX hat man mir gesagt, dass ich nicht von einem Bundesland in das andere wechseln kann.

R: Haben Sie sonst irgendwelche Aktivitäten zum Zweck Ihrer Integration in die österreichische Gesellschaft wahrgenommen?

BF (auf Deutsch): Nein, ich habe nur Fußball gespielt und war in einem Fitnesscenter. Ich war jeweils ein Jahr im Fitnesscenter und auch in der Fußballmannschaft. Beim Fitnesscenter habe ich aufgehört, weil ich Beinverletzungen habe und Angst gehabt habe, dass ich mich verletzen könnte zusätzlich zu den Verletzungen, die ich schon habe.

R: Haben Sie eine Berufstätigkeit in Österreich ausgeübt?

BF: Nein.

R: Was haben Sie denn für Verletzungen?

BF: In Afghanistan habe ich meinen Fuß beim Fußballspielen verletzt. Ich habe auch in Afghanistan Fußball gespielt.

R: Sie sind vor ein paar Wochen bei der Schwarzarbeit kontrolliert worden in XXXX ?

BF (auf Deutsch): Das war der erste Tag, als ich kontrolliert wurde. Ein Junge hat mich beim Fußballspielen angesprochen und gesagt, ich solle mitkommen.

R: Für welche Firma haben Sie da gearbeitet?

BF: Das war die Firma XXXX . Das ist eine Umzugsfirma.

R: Haben Sie einen Arbeitsvertrag mit dieser Firma?

BF (auf Deutsch): Nein.

(Auf Usbekisch): Der Junge hat gesagt, ich soll hinkommen und mir die Arbeit anschauen. Wenn es mir gefällt, nimmt er mich auf. Wir haben in einer Wohnung die Tapeten weggerissen und plötzlich kam die Kontrolle. Ich bin aus Angst geflüchtet.

R: Welcher Lohn war für diese Arbeit vereinbart?

BF (auf Deutsch): Er hat gesagt, komm es dir einmal anschauen und probieren. Ich habe keinen Lohn ausgemacht und auch keinen bekommen. Ich war nur zur Probe dort, er ist mein Freund. Die Beamtin hat dann 8 EUR aufgeschrieben.

R: Haben Sie sich bemüht, eine legale Arbeit zu finden?

BF: Ich habe mich bei zwei Firmen beworben, ein Hotel und die Firma XXXX . Mein Freund hat gesagt, wenn ich einen positiven Asylbescheid bekomme, nimmt er mich sofort. Ich war beim AMS, sie haben mir Arbeit vermitteln wollen. Ich bin zu mehreren Hotels gegangen, sie haben mich aber nicht aufgenommen.

R: Als was haben Sie sich dort beworben?

BF (auf Deutsch): Als Kellner. Das Hotel hat mir gesagt, ich soll warten, aber man hat mir nicht Bescheid gegeben. Wenn man die weiße Karte hat, kann man dann nur im Hotel arbeiten oder als Gärtner.

R: Ich sehe, dass Sie relativ gut Deutsch sprechen können.

BF: Ich habe eher am Anfang meines Aufenthaltes in Österreich Deutsch gelernt. Seitdem ich hier bin, gerate ich oft in Stress. Wenn ich in Stress gerate, kann ich nicht regelmäßig Deutsch sprechen, sondern gerate ins Stottern.

R: Was verstehen Sie unter Stress, was meinen Sie damit?

BF (auf Deutsch): Ich denke an meine Familie. Ich wollte nicht mein Land verlassen, jeder liebt seine Heimat, aber ich will leben. Ich bin seit sechs Jahren in Österreich, ich möchte hier mein Leben weiterleben. Was soll ich in Afghanistan machen, ich habe hier mein Leben und habe in Afghanistan niemanden.

R: Wie geht es Ihrem Bruder jetzt?

BF: Besser. Er geht arbeiten und kommt wieder zurück nach Hause. Er wohnt bei mir in XXXX …“

Am Tag nach der Verhandlung, also am 12.08.2020, schloss die beschwerdeführende Partei einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag mit der Firma XXXX mit folgenden näheren Regelungen ab: vollzeitbeschäftigter Hilfsarbeiter, Kollektivvertragsentlohnung, Anzahl der Wochenstunden: „160 h“, Arbeitszeiten: Mo-Fr. 6:30 - 17:00, Dauer der Beschäftigung: unbefristet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Usbeken und der sunnitischen Glaubensrichtung an. Seine Muttersprache ist Usbekisch, außerdem spricht er auch Dari. Die Familie der beschwerdeführenden Partei stammt aus der Provinz Faryab, lebte aber zuletzt in Masar-e Scharif, wo er zwölf Jahre Jahre die Schule besuchte und zeitweise als Verkäufer arbeitete.

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

Die von der beschwerdeführenden Partei behauptete Bedrohung in Afghanistan durch den Kommandanten XXXX wegen einer angeblichen sexuellen Beziehung des Bruders der beschwerdeführenden Partei mit der Tochter dieses Kommandanten kann mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden.

Zur Rückkehrsituation der beschwerdeführenden Partei wird Folgendes festgestellt:

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Insbesondere ist im Herkunftsstaat in mehreren Landesteilen die Sicherheitslage ausreichend und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet, z. B. in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Scharif, sodass es der beschwerdeführenden Partei möglich ist, beispielweise in einer dieser Städte Fuß zu fassen und dort, allenfalls nach anfänglichen Schwierigkeiten, ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Die beschwerdeführende Partei ist 24 Jahre alt und arbeitsfähig, sodass er im Herkunftsstaat zumindest durch einfache Arbeit das nötige Einkommen erzielen könnte, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen. Er absolvierte eine Schulausbildung und arbeitete auch bereits als Verkäufer.

Die beschwerdeführende Partei hat mehrere nahe Angehörige, die ihn unterstützen können, nämlich einen Bruder, seine Mutter und deren Brüder sowie seinen Vater.

Zum Privat- und Familienleben der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

Die beschwerdeführende Partei reiste im Dezember 2014 im Alter von 18 Jahren illegal nach Österreich ein und hält sich seither fünfeinhalb Jahre aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet auf.

Die beschwerdeführende Partei hat in Österreich kein Familienleben, sondern nur ein Privatleben, er ist ledig und kinderlos, sein älterer Bruder lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich, Merkmale der Abhängigkeit zwischen beiden bestehen nicht.

Die beschwerdeführende Partei besuchte zahlreiche Deutschkurse, eine Informationsveranstaltung des ÖIF sowie den Anfang eines Vorbereitungslehrganges zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses und erwarb am 19.12.2016 ein ÖSD-Zertifikat A2, seine aktuellen Deutschkenntnisse erreichen das Niveau B1. Die beschwerdeführende Partei stand in Österreich noch nicht in einem Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und ist nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bezieht laufend Leistungen der Grundversorgung für Verpflegung und Krankenversicherung. Die beschwerdeführende Partei ist strafrechtlich unbescholten.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

„Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019:

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch wahlbezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in der Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019) …;

AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (15.4.2019): Afghanistan: Innenpolitik …;

AAN – Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan’s 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga …;

AAN – Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan‘s Paradoxical Political Party System: A new AAN report …;

AAN – Afghanistan Analysts Network (13.2.2015): The President‘s CEO Decree: Managing rather thean executive powers (now with full translation of the document) …;

AM – Asia Maior (2015): Afghanistan 2015: the national unity government at work: reforms, war, and the search for stability …;

BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Bundesrepublik Deutschland, Gruppe 62 - Informationszentrum Asyl und Migration (6.5.2019): Briefing Notes 06. Mai 2019 …;

BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation (7.2016): Dossier der Staatendokumentation, AfPak – Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur …;

BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation (3.2014): Afghanistan; 2014 and beyond …;

Casolino, Ugo Timoteo (2011): "Post-war constitutions" in Afghanistan ed Iraq, Ricerca elaborata e discussa nell’ambito del Dottorato di ricerca in Sistema Giuridico Romanistico - Unificazione del Diritto – Università degli studi di Tor Vergata – Roma, Facoltà di Giurisprudenza …;

CIA – Central Intelligence Agency (24.5.2019): The World Factbook – Afghanistan …;

CNA – Channel News Asia (19.1.2019): Former Afghan warlord Hekmatyar enters presidential race …;

CR – Conciliation Ressources (2018): Incremental Peace in Afghanistan - Chronology of major political events in contemporary Afghanistan …;

CSO – Central Statistics Organization (2019): Afghanistan Population Estimates for the year 1398 (2019-20) …;

DOA – Daily Outlook Afghanistan (17.3.2019): Challenges of Political Parties in Afghanistan …;

DP – Presse, die (28.1.2019): Afghanistan vor dramatischer Wende …;

DP – Presse, die (16.6.2018): Afghanistan verlängert Waffenstillstand mit den Taliban …;

DW – Deutsche Welle (30.9.2014): Understanding Afghanistan‘s Chief Executive Officer …;

DZ – Die Zeit (8.9.2019): Donald Trump bricht Friedensgespräche mit den Taliban ab …;

DZ – Die Zeit (23.8.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;

DZ – Die Zeit (21.4.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;

EC – Economist, the (18.5.2019): Why Afghanistan’s government is losing the war with the Taliban …;

FA – Frankfurter Allgemeine (23.8.2019): USA-Taliban-Gespräche in Katar wieder aufgenommen …;

HE – Heise (16.5.2019): Afghanistan: Wie viel Macht hat der Präsident? …;

MS – Messaggero, il (28.1.2019): Afghanistan, fonti Difesa: “Entro un anno via truppe italiane”. Moavero: “Apprendo ora”. Lega: “Nessuna decisione” …;

MPI - Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan …;

NYT – The New York Times (7.3.2019): U.S. Peace Talks With Taliban Trip Over a Big Question: What Is Terrorism? …;

NYT – The New York Times (28.1.2019): U.S. and Taliban Agree in Principle to Peace Framework, Envoy Says …;

NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.8.2019): USA und Taliban beenden ihre Gesprächsrunde in Doha …;

NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.1.2019): Amerika und die Taliban kommen sich näher …;

REU – Reuters (18.3.2019): U.S. freezes out top Afghan official in peace talks feud: sources …;

RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (20.10.2019): Afghan Presidential Election Results Announcement Delayed …;

RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (29.5.2019): Afghanistan Postpones Two Local Elections …;

RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (6.12.2018): Afghan Commission Invalidates All Kabul Votes In October Parliamentary Election …;

TN - Tolonews (31.5.2019): Taliban Wants An ‚Inclusive Post-Peace Govt‘ …;

TN - Tolonews (19.5.2019): IEC Finalizes Presidential Elections Timeline …;

TN - Tolonews (12.12.2018): IEC Resumes Recounting Of Kabul Votes Under New Method …;

USDOS – United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Afghanistan …;

USDOS – United States Department of State (29.5.2018): International Religious Freedom Report for 2017 – Afghanistan …;

USIP – United States Institute of Peace (11.2013): Special Report 338: 2014 Presidential and Provincial Council Elections in Afghanistan …;

WP – The Washington Post (18.3.2019): Afghan government, shut out of U.S.-Taliban peace talks, running short on options …

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen als auch regierungsfeindliche Elemente bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registrierten die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierten die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert, wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen, ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433 …

Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe sowie Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018) als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten sowie religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: Bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34%, verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurde, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte, zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch wahlbedingte Gewalt, die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019).

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016), der Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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