TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/25 L516 2174593-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.11.2020
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Entscheidungsdatum

25.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch


L516 2174593-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Pakistan, vertreten durch Dr. Christian SCHMAUS, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.09.2017, Bescheid Zahl XXXX (richtig wohl: XXXX ), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.11.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs 1 und § 8 Abs 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und es wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. Spruchpunkt IV des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos aufgehoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Der Beschwerdeführer ist pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 31.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens mit Bescheid vom 15.09.2017 (I.) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und (II.) gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.

Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache am 18.11.2020 eine mündliche Verhandlung durch. An der Verhandlung nahmen der Beschwerdeführer und seine Vertretung teil, die belangte Behörde erschien nicht.

1. Sachverhaltsfeststellungen:

[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in Pakistan

Der Beschwerdeführer führt in Österreich die im Spruch angeführten Namen sowie die ebenso dort angeführten Geburtsdaten. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan und gehört dem sunnitisch-paschtunischem Stamm der XXXX (auch: XXXX ; XXXX ), einem Unterstamm der Afridi, an. Seine Identität steht nicht ausreichend fest. (NS EB 01.06.2015, S 1; NS EV 12.06.2017, S 4; Beschwerde 06.10.2017 S 2; VS 27.08.2020 S 10)

Der Beschwerdeführer stammt ursprünglich aus dem Dorf XXXX in XXXX in der Khyber Agency, Provinz Khyber Pakhtukhwa (bis 2018 Gebiet der FATA), wo er bis zu seiner Ausreise auch lebte. Er hat in Pakistan nur unregelmäßig die Schule besucht und war in seiner Heimat Analphabet. In Pakistan hat er auf den Grundstücken seiner Familie gearbeitet. Die Mutter des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Der Vater des Beschwerdeführers, sein jüngerer Bruder und seine Schwester leben seit ungefähr dreieinhalb Jahren in XXXX /Pakistan, davor lebten diese in XXXX . Mit seinem jüngeren Bruder hat er gelegentlich via Facebook Kontakt. Ein älterer Bruder des Beschwerdeführers lebt in Malaysia (NS EB 01.06.2015 S 1, VS 18.11.2020, S 7 f, 10)

Der Beschwerdeführer verließ sein Heimatland ungefähr im April/Mai 2015 und reiste über verschiedene Länder nach Österreich. (NS EB 01.06.2015 S 3)

1.2 Zu seiner Lebenssituation in Österreich

1. Der Beschwerdeführer reiste im Juni 2015 als unbegleiteter Minderjähriger in Österreich ein, wo er sich gestützt auf das vorläufige Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz seit nunmehr über fünfeinhalb Jahren ununterbrochen rechtmäßig aufhält. Es handelt sich um gegenständlich um seinen ersten und einzigen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinem Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist. (IZR).

Der Beschwerdeführer war in seiner Heimat Analphabet, hat in Österreich Lesen und Schreiben gelernt, hat mehrere Deutschkurse besucht und hat bereits zwei von vier Teilprüfungen für den Pflichtschulabschluss positiv absolviert. Aktuell bereitet er sich neben seiner Berufstätigkeit darauf vor, auch die verbliebenen Prüfungen abzulegen. (AS 207-209; Urkundenvorlagen (OZ 9, 12); VS 18.11.2020 S 6)

Der Beschwerdeführer nimmt seit über zwei Jahren keine Leistungen aus der GVS in Anspruch und ist mit der Erbringung von Dienstleistungen erlaubt erwerbstätig. Durch seine beruflich Tätigkeit erzielt er ein durchschnittliches monatliches Einkommen in Höhe von 520-550 Euro. Der Beschwerdeführer war zudem in den Jahren 2018 und 2019 ehrenamtlich beim Roten Kreuz tätig. Der Beschwerdeführer zeigt sich damit insgesamt sowohl lernwillig und –fähig als auch eigeninitiativ, arbeitsfähig und –willig. (Urkundenvorlagen (OZ 9, 12); VS 18.11.2020 S 6)

Der Beschwerdeführer ist am 14.11.2020 zur Integrationsprüfung für das Sprachniveau A2 sowie am 16.11.2020 zur ÖIF-Sprachprüfung auf dem Niveau B1 angetreten, hat jedoch noch kein Prüfungsergebnis erfahren. Er kann sich nahezu fehlerfrei in deutscher Sprache verständigen. Er verstand die ihm in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscherin in deutscher Sprache gestellten Fragen sofort und antwortete auf diese spontan, rasch, flüssig und verständlich in einer freien, zusammenhängenden Erzählung auf Deutsch. Er verstand auch darüber hinaus im gesamten Verlauf der mündlichen Verhandlung die deutschsprachige Konversation, wollte immer wieder auch spontan auf Deutsch antworten. Er wurde jedoch aus Gründen der Vorsicht vom Bundesverwaltungsgericht angehalten, die Übersetzung in seine Sprache abzuwarten und auch in seiner Muttersprache zu antworten. (VS 18.11.2020 S 5, 6).

Der Beschwerdeführer pflegt sehr enge Kontakte zu mehreren österreichischen Familien; er lebt in seiner eigenen Mietwohnung, hat mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt, seine Freunde, seine Bekannte und sein soziales Netz in Österreich, was die zahlreichen persönlich gehaltenen Unterstützungsschreiben von österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern unterschiedlichen Alters belegen, in denen überwiegend mehrjährig bestehende Freundschaften zum Beschwerdeführer, dessen Vorzüge und seine bereits gelungene Integration in die österreichische Gesellschaft bezeugt werden. Der Beschwerdeführer führt des Weiteren eine Beziehung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten und in XXXX arbeitenden nepalesischen Staatsangehörigen, auch wenn er mit dieser derzeit aufgrund der unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsorte nicht im gemeinsamen Haushalt lebt. Nach Pakistan hält er nur noch gelegentlich zu seinem jüngeren Bruder via Facebook Kontakt. (OZ 9, 12; VS 18.11.2020 S 5-7).

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten (Strafregister der Republik Österreich)

1.3 Zum Gesundheitszustand

Der Beschwerdeführer ist gesund (VS 18.11.2020 S 4, 5)

1.4 Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz

Der Beschwerdeführer brachte zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz zusammengefasst im Wesentlichen vor:

Er habe mit seiner Familie in XXXX im Dorf XXXX gelebt. Er habe dort auf den landwirtschaftlichen Grundstücken seiner Familie und im Obstgarten gearbeitet. In seinem Dorf habe auch seine Freundin namens XXXX gelebt. Sie sei die Tochter des Mullahs gewesen. Seine Freundin und er seien vom Stamm der XXXX . In seinem Dorf habe es keine Wasserleitungen oder Wasserpumpen gegeben, Wasser sei von den Dorfbewohnern aus einer Wasserquelle geholt worden, auch von seiner Freundin. Er habe sie oft dort gesehen, bis er sie angesprochen habe. Sie habe dann auch begonnen, mit ihm zu sprechen. Er und seine Freundin hätten sich manchmal in seinen Obstgarten zurückgezogen und sie hätten sich unterhalten. Nach einiger Zeit habe er zwei Freunden von seinen Treffen mit seiner Freundin erzählt. Diese Freunde hätten zuerst gesagt, dass es nicht gut sei, eine Beziehung zu führen und er könnte Schwierigkeiten bekommen, wenn diese Beziehung im Dorf bekannt werden würde. Seine Freunde haben aber auch gesagt, dass, falls er mit seiner Freundin intim werde, sie ebenfalls eine Chance möchten und er ihnen diese Chance geben soll, ebenfalls mit seiner Freundin intim zu werden. Er habe aber seine Freundin geliebt und habe diese heiraten wollen. Deshalb sei es für ihn nicht in Frage gekommen, seinen Freunden die Möglichkeit zu geben, mit seiner Freundin intim zu werden. Sein älterer Bruder sei noch ledig gewesen und aus diesem Grund habe er nicht den Mut gehabt, mit seiner Mutter oder seinem Vater über seine Beziehung zu sprechen bzw sie darum zu bitten, um die Hand seiner Freundin anzuhalten. Er habe Angst vor der Reaktion seiner Eltern gehabt. Jene Freunde, die von ihm verlangt hätten, ihnen eine Chance mit seiner Freundin zu geben, hätten ihm dann gedroht, dass sie dem Mullah, dem Vater seiner Freundin, erzählen würden, dass er sich mit seiner Tochter treffe. Nachdem einige Tage vergangen seien und er nachmittags nicht in die Moschee gegangen sei, habe der Mullah die Jungs gefragt, warum er nicht in die Moschee zum Unterricht gekommen sei. Einer seiner Freunde habe dann dem Mullah erzählt, seine Tochter würde sich bei der Wasserquelle mit dem Beschwerdeführer unterhalten und deshalb würde dieser nicht in die Moschee kommen. Der Mullah habe seinen Freund aufgefordert, nicht zu lügen. Dieser Freund habe ihm gesagt, der Mullah könnte zur Wasserquelle gehen und würde dort seine Tochter und den Beschwerdeführer antreffen. Der Mullah sei dann tatsächlich zur Quelle gekommen, der Beschwerdeführer und dessen Freundin seien aber in seinem Obstgarten gewesen. Der Mullah sei dann ein weiteres Mal zur Quelle gekommen und nachdem er seine Tochter und den Beschwerdeführer dort nicht getroffen habe, sei der Mullah zum Obstgarten gekommen. Er habe dort nach seiner Tochter gerufen und als er uns beide zusammen gesehen habe, sei der Beschwerdeführer aus Angst vor dem Mullah weggelaufen. Der Mullah habe zwei Schüsse abgefeuert. Dem Beschwerdeführer sei es aber gelungen, nach Hause zu flüchten. Zu Hause habe der Beschwerdeführer alles seiner Mutter alles erzählt. Seine Mutter sei sehr böse auf ihn gewesen und habe ihn auch geohrfeigt. Sie hat ihn aufgefordert, in ein Zimmer zu gehen und auf den Vater zu warten. Am Nachmittag sei der Vater nach Hause gekommen und auch der Mullah. Der Mullah habe sehr laut geschrien und habe meinem Vater gesagt, der Beschwerdeführer habe seine Tochter getroffen. Mein Vater habe dem Mullah nicht geglaubt. Der Mullah habe den Vater des Beschwerdeführers aufgefordert, diesen ausfindig zu machen, damit der Beschwerdeführer zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen könne. Die Mutter des Beschwerdeführers habe ihn in einem Abstellraum versteckt und sein Vater habe ihn nicht finden können. Noch am selben Tag habe der Mullah Dorfälteste versammelt. Diese hätten gesagt, dass am nächsten Tag eine Jirga einberufen werde und die Ältesten dann alle Personen anhören würden und eine Entscheidung treffen würden. Bei der Jirga seien dann verschiedene Leute befragt worden, von denen dann bestätigt worden sei, dass sich der Beschwerdeführer mit der Tochter des Mullahs getroffen habe. Die Ältesten seien dann zu dem Schluss gekommen, dass dieses Verhalten gegen den Islam sei und auch in der paschtunischen Kultur nicht üblich sei, eine solche Beziehung zu führen. Die Ältesten seien der Meinung gewesen, dass viele junge Personen im Dorf den Beschwerdeführer und die Tochter des Mullahs nachahmen und außereheliche Beziehungen führen würden, wenn sie ihm und der Tochter des Mullahs erlauben würden, zu heiraten. Die Jirga habe dann beschlossen, dass der Beschwerdeführer und die Tochter des Mullahs zu töten seien, damit andere junge Menschen Abstand davon nehmen würden, eine solche Beziehung zu führen. Alle Teilnehmer der Jirga, darunter auch der Mullah und der Vater des Beschwerdeführers, seien mit der Entscheidung der Jirga einverstanden gewesen. Der Mullah habe dann seine Tochter getötet und er habe den Vater des Beschwerdeführers aufgefordert, diesen zu suchen und ihn ebenfalls zu töten. Sein Vater und sein älterer Bruder haben ihn jedoch nicht finden können. Seine Mutter habe ihm am nächsten Tag, als es noch dunkel gewesen sei, etwas Geld und Goldschmuck gegeben und ihm gesagt, er solle zum Haus seines Onkels mütterlicherseits flüchten und der Onkel werde ihm dabei helfen, ihn in Sicherheit zu bringen. Er habe sein Elternhaus verlassen, als es noch dunkel gewesen sei, seine Mutter habe ihm eine Burka gegeben. Sie habe gesagt, er soll die Burka tragen, sobald es hell sei, damit ihn niemand erkenne. Er sei dann von ihrem Haus ca 30 Minuten zu Fuß zum Haus seines Onkels gegangen. Er habe diesem alles erzählt und gesagt, dass er ihm helfen soll, um zu flüchten. Der Onkel habe ihm erklärt, dass der Beschwerdeführer nicht in seinem Haus bleiben könne, weil der Onkel sonst Schwierigkeiten bekommen könnte. Der Onkel habe noch am selben Tag einen Schlepper gefunden, zu dem er den Beschwerdeführer gebracht habe. Dieser Schlepper habe dann die Flucht organisiert. Der Beschwerdeführer sei gezwungen gewesen, Pakistan zu verlassen, denn wenn er dortgeblieben wäre, wäre er getötet worden. Jenes Mädchen sei seine erste Liebe gewesen. (VS 18.11.2020 S 10-12; vgl auch NS EV 12.06.2017 S 6 f)

1.5 Zur Glaubhaftigkeit der vorgebrachten Antragsgründe und Rückkehrbefürchtung

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er vor seiner Ausreise verfolgt worden sei, da er eine unerlaubte Beziehung mit der Tochter des örtlichen Mullahs geführt habe und diese bekannt geworden sei, ist nicht glaubhaft. Er hat damit nicht glaubhaft gemacht und es ergibt sich auch sonst nicht, dass er im Falle einer Rückkehr in seine Heimat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ganz Pakistan einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität ausgesetzt wäre.

1.6 Zur Lage in Pakistan:

1.6.1 Das Pashtunwali (Kulturelle Werte und Verhaltensregeln der Paschtunen)

Kodizes des Pashtunwali (Auszug)

Ghairat (Würde)

Ghairat bedeutet, dass Paschtunen ihre Würde und Ehre wahren müssen. Die Ehre spielt in der Paschtunen-Gesellschaft eine wichtige Rolle und bei vielen anderen Lebensregeln geht es darum, die eigene Ehre und den Stolz zu verteidigen. Hierfür muss der Paschtune sich selbst und andere respektieren, insbesondere Personen, die er nicht kennt. Der Respekt beginnt zuhause unter den Mitgliedern der Familie und den Verwandten. Ghairat gehört zu Namoos (die Keuschheit der Frauen beschützen) und es heißt, dass derjenige, der kein Ghairat hat, sein Namoos nicht wahren kann. Es ist eine Beleidigung, jemanden Begairat (würdelos) zu nennen und niemand würde es wagen, jemanden so zu nennen. Wenn beispielsweise auf eine Paschtunin Toor (Frauen, die einer illegalen sexuellen Beziehung schuldig sind) zutrifft, ist es eine Sache von Ghairat die beschuldigte Frau und ihren Partner zu erschießen.

Badal (Vergeltung)

Badal, bedeutet in Pashto Vergeltung und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen. Wer eine Straftat begeht, muss Badal bezahlen. Badal kann von der Jirga auferlegt oder vom Maraka, dem Geschädigten, oder einem Mitglied seiner Familie eingefordert werden. Dies gilt für Ungerechtigkeiten, die in der Gegenwart und in der Vergangenheit begangen wurden. Wenn der Übeltäter, seine Familienmitglieder oder Verwandten noch leben, wird Rache geübt oder Badal verlangt. Ein Sprichwort der Paschtunen lautet: der Paschtune, der nach 100 Jahren Vergeltung übte sagte: „Ich habe mich zu früh gerächt.“ Das führt dann zu einer Blutfehde, die sich über Generationen hinziehen, ganze Stämme mitreißen und hunderte von Leben kosten kann. Dies kann jedoch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden.

Jirga (Versammlung zur Klärung von strittigen Fragen)

Die Jirga ist ein Rat bzw. eine Versammlung von Stammesältesten, die zur Klärung verschiedener Arten von Streitfragen einberufen wird, wie z.B. Kriegsführung, Beilegung eines Konflikts zwischen Privatpersonen oder zwischen verschiedenen Stämmen usw. Es ist eine große Zusammenkunft, an der Masharan (Älteste) teilnehmen, um wesentliche Fragen, die im Siedlungsgebiet der Paschtunen anstehen, zu untersuchen und zu lösen. Die Versammlung kann vielerlei Zwecke haben und wird von Ältesten oder Malaks bzw. Spingrey (weißbärtige Älteste) geleitet. Hierbei sollen die Ältesten persönliche oder Gemeinschaftsprobleme lösen. Die Mitglieder der Jirga führen Maraka (Diskussionen) über das Für und Wider der jeweiligen Streitfrage nach dem Riwaj (Bräuche und Traditionen) oder nach dem islamischen Recht, d.h. die Sharia.

Der Islam und das Pashtunwali

Der Islam spielt im täglichen Leben der Paschtunen eine zentrale Rolle und ist ein tief verwurzelter und wichtiger Bestandteil ihrer Identität. Haji Habib Ullah Khan Asi, Stammesältester und Mitglied der Großen Jirga in den Federally Administered Tribal Areas in Pakistan, sagt: “Ein Paschtune erkennt die Religion ohne Zweifel und Fragen an, deshalb gibt es keinen Konflikt zwischen der Lehre des Pashtunwali und des Islam und jeder, der seinen religiösen Pflichten nicht nachkommt, wird von der Gesellschaft verachtet”. Die Einheit des Pashtunwali und des Islam wird im Dorfleben schon durch die physische Einheit der Moschee und des Hujra symbolisiert sowie durch die Verankerung der fünf Säulen des Islam in den lokalen Praktiken und sozialen Strukturen.

Pflichten und Aufgaben nach dem Pashtunwali

In der traditionellen paschtunischen Gesellschaft symbolisieren die Frauen die Nang (Ehre) der Familie und des Stammes. Sie sind für die Hauswirtschaft, die Kindererziehung und die Versorgung der Familienmitglieder zuständig. Außerdem erwartet man von ihnen die Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen und insbesondere die Wahrung einer guten Atmosphäre zwischen den engen Verwandten. Sie sollen in ihren jeweiligen Gemeinden ein ehrenhaftes und achtbares Leben führen und müssen das Verschleierungsgebot Purdah streng einhalten, die meiste Zeit sollen sie in den eigenen vier Wänden verbringen. Jedes Fehlverhalten oder sexuelle Fehltritte (Ehebruch, Entführung, Vergewaltigung) von Frauen gelten als schwerwiegende Verletzungen des Pashtunwali. In diesen Fällen können die Frauen von männlichen Verwandten getötet werden, um die Familienehre zu bewahren. Paschtuninnen, die in pakistanischen Städten wie Peshawar, Quetta, Mardan usw. wohnen, sind jedoch selbständiger, unabhängiger und beteiligen sich aktiv an geschäftlichen Angelegenheiten, der Politik und anderen gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Familie.

Traditionell wurden vor allem die Frauen, die im Stammesverbund lebten, auch im Umgang mit Gewehren geschult, hauptsächlich, um sich in Konflikten selbst verteidigen zu können. Auch das Verschleierungsgebot wird in Not- oder Konfliktsituationen gelockert. In der Stammesgesellschaft spielten sie eine sehr wichtige Rolle für das Swara, d.h., dass die Schwester, Tochter, eine Cousine ersten oder zweiten Grades von der Familie eines Mörders als Entschädigung übergeben wird, um den Konflikt zwischen den Parteien beizulegen. Swara, ein paschtunischer Brauch, bedeutet wörtlich eine Frau auf dem Rücken eines Pferdes oder Kamels. Auf Druck der Regierung ist diese Praxis in der paschtunischen Gesellschaft jedoch weitgehend ausgemerzt worden. Der Brauch ist aber in einigen Gebieten in Nord- und Südwaziristan, den Agencies Khyber, Kurram, Bajaur, Orakzai in den Federally Administered Tribal Areas in Pakistan und in den afghanischen Provinzen Patkiya, Jalalabad, Nangarhar, Nazyan, Helmand, Kunar und anderen paschtunischen Siedlungsgebieten in Afghanistan immer noch lebendig.

Es ist die Aufgabe der Männer für Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu sorgen und sie sollen mit dem anderen Geschlecht (Ehefrau, Mutter, Tochter, Schwester, usw.) eine herzliche und liebenswürde Beziehung pflegen. Die Moor (Mutter) steht in der Familienhierarchie nur an zweiter Stelle. Die Beschwerde einer Mutter über ihren Sohn bei einem Mashar (Ältesten) wird ohne weitere Nachforschungen als Wahrheit anerkannt. Sie werden so hoch geschätzt, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung aufhört, wenn eine Frau ihren Schleier vor die Kämpfenden wirft. Frauen spielen auch für die Bewertung der Ehre eines Mannes eine große Rolle. Oft ist es die Meinung der Frauen, die die Stellung eines Mannes erhöht oder erniedrigt. Das Lob oder die üble Nachrede der Frauen kann sehr große Auswirkungen auf das Ansehen eines Mannes in der Gemeinschaft haben. Von den Männern erwartet man, dass sie die Namoos (Keuschheit der Frauen) schützen. Nach dem Verständnis der Paschtunen gehört auch ein neugeborenes Mädchen zur Namoos. Die Bedeutung der Namoos zeigt sich in dem paschtunischen Sprichwort: “mal tar sar jar, sar ta Namoos”, was heißt, “Opfere Materielles, um den Kopf zu retten, opfere den Kopf um Namoos zu schützen”. Die Männer müssen ihr positives Ansehen um jeden Preis wahren oder stärken. Sie sollten gute Redner sein und politische Allianzen schmieden können, sie sollten den Mut haben, die Familie und die Gemeinschaft zu verteidigen und für jede Beleidigung und jeden Angriff auf diese Rache nehmen. Außerdem sollen sie ihr Vermögen gegen fremde Begierden schützen und zeigen, dass sie bereit sind, Vermögen und Leben zu riskieren, um die Ehre der Familie zu bewahren.

Tabus im Pashtunwali

Jede menschliche Gesellschaft hat ihre Tabus, obwohl diese in den einzelnen Kulturen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können; hier ist die paschtunische Gesellschaft keine Ausnahme. In dieser Gesellschaft gelten die Frauen als Symbole der Nang (Ehre). Die Erwähnung des Namens einer Frau in der Öffentlichkeit oder vor Fremden durch einen Stammesangehörigen gilt als Tabu und kann Blutvergießen verursachen. Shakanza bedeutet Beschimpfen und Beleidigung, das ist eine schwerwiegende Tat und der Täter muss Tawan (Zahlung eines Schuldigen an das Opfer) bezahlen, deren Höhe sich nach dem Alter und der sozialen Stellung des Beleidigten richtet. So gilt beispielsweise Shakanza einer nicht zu den eigenen Verwandten gehörenden Frau als die schlimmste Tat. Wer dessen beschuldigt wird, muss dem Geschädigten Nanawatai (Abbitte leisten) zukommen lassen.

Das Pashtunwali verurteilt auch eine Heirat gegen den Willen der Familienmitglieder (Liebesheirat); um die Ehre der Familie zu bewahren, müssen beide (der Mann und die Frau) getötet werden. Eine Frau, die das Haus des Vaters verlässt, um einen Ehemann zu suchen ist eine Mateeza. Insbesondere eine Frau, die mit ihrem Verlobten vor der Hochzeit wegläuft, ist eine Mateeza. Eine Mateeza gilt als eine schlechte Frau, als Landstreicherin. In Paschto sagt man von einer solchen Frau: “Flankai Sail Di Kawa, Mateeza Larhe”, was bedeutet “Oh, Fräulein so und so, du hast dich mit allen abgegeben und bist dann als Mateeza weggelaufen”.

(Quelle: Dossier der Staatendokumentation AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, 34, 36 f, 41 f, 50 f)

Blutfehden, Ehrverbrechen, erzwungene und unakzeptierte Heirat und andere schädliche traditionelle Praktiken

Blutrache ist vor allem im ländlichen Bereich Pakistans noch immer ein verbreitetes Phänomen. Auslöser für Blutfehden zwischen Familien sind Ehrverletzungen, die aus einem Mord eines Angehörigen, der Respektlosigkeit gegenüber einem weiblichen Familienmitglied, einer Beleidigung, Verletzung von Eigentumsrechten (Bewässerungskanäle, Land) etc. bestehen können. Das Konzept der Ehre (ghairat), das vor allem in der paschtunischen Bevölkerung Khyber Pakhtunkhwas besonders stark ausgeprägt ist, verlangt es, eine Ehrverletzung zu rächen. Blutfehden führen oft dazu, dass Familien über Generationen miteinander verfeindet sind und in ständiger Angst davor leben, dass eines ihrer Familienmitglieder aus Rache getötet wird (ÖB 10.2018).

Das Gesetz zur Bekämpfung von frauenfeindlichen Praktiken („Prevention of Anti-Women Practices (Criminal Law Amendment) Act“) aus 2011 verbietet frauenfeindliche Taten, die im Namen traditioneller Praktiken begangen werden. In einigen Fällen werden Frauen Opfer unterschiedlicher Arten gesellschaftlich bedingter Gewalt, darunter sogenannte Ehrenmorde, Zwangsehen, Zwangskonvertierung, oder erzwungene Isolation. Frauen werden als Pfand benutzt, um Stammeskonflikte beizulegen (USDOS 13.3.2019). Opfer von Ehrverbrechen sind hauptsächlich Frauen, allerdings sind auch Männer betroffen. Verbrechen in Namen der Ehre – nachdem Frauen beschuldigt wurden, Schande über die Familie gebracht zu haben – sind z.B. Mord, Säureangriffe oder Verstümmelungen (UKHO 2.2016).

Das 2011 erlassene Gesetz „Prevention of Antiwomen Practices (Criminal Law Amendment) Act“ stellt weitere schädliche Praktiken gegen Frauen unter Strafe: Die Gabe einer Frau zur Streitbeilegung, Vorenthalten eines Anspruchs auf Erbe oder Eigentum, erzwungene Eheschließung, sowie der Zwang oder die Erleichterung der „Verheiratung mit dem Koran“, i.e. ein Schwur auf den Koran, dass die Frau unverheiratet bleibt und ihr Erbe nicht beansprucht. Obwohl verboten, sind diese Praktiken in manchen Gegenden weiterhin verbreitet (USDOS 13.3.2019).

In den ehemaligen Stammesgebieten FATA hat sich ein auf dem Stammesrecht (z.B. Paschtunwali) basierendes paralleles Rechtssystem mit den im übrigen Staatsgebiet verbotenen „Jirga“-Gerichten der Stammesältesten erhalten. Es greift zur Lösung von Streitfällen auf eine zum Teil archaische, zum Teil an der Scharia orientierte Rechtspraxis zurück. Während sich männliche Angeklagte mit Geldleistungen der Verhängung schwerer Strafen entziehen können, werden Frauen bei Verstößen gegen den Sittenkodex hart bestraft. Auch sind Fälle bekannt, in denen stellvertretend für die Delinquenten weibliche Familienangehörige getötet oder in anderer Weise bestraft wurden. (AA 21.8.2018).

Wiewohl Männer und Frauen theoretisch von Ehrenmorden betroffen sein können, dürfte der Großteil der Fälle auf Frauen entfallen (ÖB 10.2018). Es wird geschätzt, dass jährlich bis zu 1.000 Frauen in Pakistan Ehrenmorden zum Opfer fallen (HRW 17.1.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) und viele Fälle werden nicht gemeldet und geahndet. Den des „Ehrverbrechens“ beschuldigten Männern wird in vielen Fällen die Flucht erlaubt (USDOS 13.3.2019). Die hauptsächlichen Gründe für die Ehrenmorde waren 2015 familiäre Streitigkeiten, Vorwürfe einer unrechtmäßigen Beziehung und die eigene Wahl eines Ehepartners (HRCP 3.2016). Ehrenmorde kommen hauptsächlich in ländlichen Gebieten, allerdings auch in Städten, vor (UKHO 2.2016). Der Mord wird als Weg zur Wiederherstellung der Reputation und Ehre der Familie gesehen (AF 1.2015). Etwa drei Viertel der Morde werden dabei von der Familie der Frau verübt (ÖB 10.2018).

Der 2004 verabschiedete Honour Killing Act stellt „Ehrentötungen“ („Karo Kari“) als Mord unter Strafe. Mit dem erklärten Ziel der Reduzierung von Ehrenmorden verabschiedete das pakistanische Parlament am 6.10.2016 ein Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung (AA 21.8.2018). Eine wesentliche Neuerung ist die Abschaffung des Konzepts der Vergebung (diyat). Bis zur Einführung des Gesetzes konnte die Familie der Ermordeten dem Täter vergeben, was zur automatischen Straffreiheit des Täters führte und damit einer strafrechtlichen Verfolgung entgegenstand (ÖB 10.2018). Damit alleine ist jedoch keine grundlegende Verbesserung der Situation eingetreten. In etwa zwei Drittel der Fälle von Ehrenmorden, in denen es zu einer Strafverfolgung kommt, werden die Angeklagten freigesprochen (AA 21.8.2018). Es obliegt dem Gericht, zu entscheiden, ob es sich um ein Ehrverbrechen handelt. In einigen Fällen im Jahr 2017 konnten Angeklagte vor Gericht andere Motive glaubwürdig machen und wurden aufgrund der Qisas- und Diyat-Regelungen begnadigt (AI 21.2.2018). Der Implementierung der Anti-Honour Killings Bill steht die große Bedeutung des informellen Justizwesens [vgl. Abschnitt 4.2] in vielen ländlichen und von Stammesstrukturen geprägten Teilen Pakistans entgegen (ÖB 10.2018).

Besonders in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa ist es verbreitet, zur Beendigung von Blutfehden eine junge Frau (oft Mädchen unter 18 Jahren) als Blutzoll an eine verfeindete Familie zu übergeben. Die Zwangsverheiratung des Mädchens kann dabei nicht nur als Sühne für einen erfolgten Mord, sondern auch für andere Ehrverletzungen, die von dessen Vater, Bruder oder Onkel begangen wurden, erfolgen. Der Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 stellt die Praxis des badla-e-sulh, wanni oder swara (Gabe eines Mädchens/einer Frau zur Beilegung von Streitigkeiten) unter Strafe (von bis zu sieben Jahren); auch Zwangsverheiratung ist darin mit bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Trotz des Verbots ist die Praxis noch immer weit verbreitet: Es fehlen offizielle Statistiken, laut der NGO CAMP dürften aber 20% aller Fälle von Gewalt gegen Frauen auf swara/wanni zurückzuführen sein (ÖB 10.2018).
[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

1.6.2. Allgemeine Lage in Pakistan

Politische Lage

Pakistan ist ein Bundesstaat mit den vier Provinzen Punjab, Sindh, Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa. Die FATA (Federally Administered Tribal Areas / Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) sind nach einer Verfassungsänderung im Mai 2018 offiziell in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert worden. Daneben kontrolliert Pakistan die Gebiete von GilgitBaltistan und Azad Jammu & Kashmir, dem auf der pakistanischen Seite der Demarkationslinie (“Line of Control”) zwischen Indien und Pakistan liegenden Teil Kaschmirs. Beide Gebiete werden offiziell nicht zum pakistanischen Staatsgebiet gerechnet und sind in Teilen autonom. Das Hauptstadtterritorium Islamabad (“Islamabad Capital Territory”) bildet eine eigene Verwaltungseinheit (AA 1.2.2019a).

Die gesetzgebende Gewalt in Pakistan liegt beim Parlament (Nationalversammlung und Senat). Daneben werden in den Provinzen Pakistans Provinzversammlungen gewählt. Die Nationalversammlung umfasst 342 Abgeordnete, von denen 272 vom Volk direkt für fünf Jahre gewählt werden. Es gilt das Mehrheitswahlrecht. 60 Sitze sind für Frauen, 10 weitere für Vertreter religiöser Minderheiten reserviert (AA 1.2.2019a). Die reservierten Sitze werden von den Parteien gemäß ihrem Stimmenanteil nach Provinzen besetzt, wobei die Parteien eigene Kandidatenlisten für diese Sitze erstellen. (Dawn 2.7.2018).

Bei der Wahl zur Nationalversammlung (Unterhaus) am 25. Juli 2018 gewann erstmals die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI: Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unter Führung Imran Khans die Mehrheit (AA 1.2.2019a). Es war dies der zweite verfassungsmäßig erfolgte Machtwechsel des Landes in Folge (HRW 17.1.2019). Die PTI konnte durch eine Koalition mit fünf kleineren Parteien sowie der Unterstützung von neun unabhängigen Abgeordneten eine Mehrheit in der Nationalversammlung herstellen (ET 3.8.2018). Imran Khan ist seit Mitte August 2018 Premierminister Pakistans (AA 1.2.2019).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von Parlament und Provinzversammlungen gewählt. Am 9. September 2018 löste Arif Alvi von der Regierungspartei PTI den seit 2013 amtierenden Präsidenten Mamnoon Hussain (PML-N) Staatspräsident regulär ab (AA 1.2.2019a).

[Beweisquelle: BFA Länderinformationsblatt Pakistan (LIB) Mai 2019 mwN]

Sicherheitslage allgemein

Die Bedrohung durch Terrorismus und Extremismus bleibt zentrales Problem für die innere Sicherheit des Landes (AA 1.2.2019a; vgl. USDOS 19.9.2018). Landesweit ist die Zahl der terroristischen Angriffe seit 2009, zurückgegangen (PIPS 7.1.2019; vgl. AA 21.8.2018, USDOS 19.9.2018). Konflikte mit dem Nachbarland Indien werden gelegentlich gewaltsam ausgetragen (EASO 10.2018 S 16).

Die Taliban und andere militante Gruppen verüben Anschläge insbesondere in Belutschistan und in Khyber-Pakhtunkhwa (AA 21.8.2018), aber auch in Großstädten wie Karatschi (AA 1.2.2019a). Über 90 % der terroristischen Anschläge sowie Todesopfer entfielen 2018 auf die zwei Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 7.1.2019). Die Anschläge zielen vor allem auf Einrichtungen des Militärs und der Polizei. Opfer sind aber auch politische Gegner der Taliban, Medienvertreter, religiöse Minderheiten, Schiiten, sowie Muslime, die nicht der strikt konservativen Islam-Auslegung der Taliban folgen, wie die Sufis (AA 1.2.2019a).

Die Operationen der Rangers [siehe dazu Abschnitt 5] in Karatschi (ab 2013), Militäroperationen in Nord-Wasiristan und der Khyber Agency [Stammesbezirke der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, Anm.], sowie landesweite Anti-Terror-Operationen als Teil des National Action Plan (NAP) trugen dazu bei, den rückläufigen Trend bei der Zahl der Vorfälle und der Opfer auch 2018 aufrecht zu halten (PIPS 7.1.2019 S 20; vgl. EASO 10.2018 S 18). In den ehemaligen Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas – FATA) konnte das staatliche Gewaltmonopol überwiegend wiederhergestellt werden (AA 21.8.2018), die Militäraktionen gelten als abgeschlossen (Dawn 29.5.2018). Viele militante Gruppen, insbesondere die pakistanischen Taliban, zogen sich auf die afghanische Seite der Grenze zurück und agitieren von dort gegen den pakistanischen Staat (AA 21.8.2018).

Die verschiedenen militanten, nationalistisch-aufständischen und gewalttätigen religiöskonfessionellen Gruppierungen führten 2018 landesweit 262 terroristische Angriffe durch. Dabei kamen 595 Menschen ums Leben und weitere 1.030 wurden verletzt. Unter den Todesopfern waren 371 Zivilisten, 173 Angehörige der Sicherheitskräfte und 51 Aufständische. 136 (52 %) Angriffe zielten auf staatliche Sicherheitskräfte, jedoch die höchste Zahl an Opfern (218 Tote und 394 Verletzte) gab es bei insgesamt 24 Terrorangriffen auf politische Persönlichkeiten. Zivilisten waren das Ziel von 47 (18 %) Angriffen, acht waren Angriffe auf regierungsfreundliche Stammesälteste bzw. Mitglieder der Friedenskommittees und sieben hatten Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft zum Ziel (PIPS 7.1.2019 S 17f). Im Vergleich zu 2017 gab es im Jahr 2018 29 Prozent weniger terroristische Angriffe, bei denen um 27 Prozent weniger Todesopfer und um 40 Prozent weniger Verletzte zu beklagen waren (PIPS 7.1.2019).

Insgesamt gab es im Jahr 2018 in Pakistan, inklusive der oben genannten terroristischen Anschläge, 497 Vorfälle von für die Sicherheitslage relevanter Gewalt (2017: 713; -30 %), darunter 31 operative Schläge der Sicherheitskräfte (2017: 75), 22 Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen (2017: 68), 131 Auseinandersetzungen an den Grenzen mit Indien, Afghanistan und Iran (2017: 171) und 22 Vorfälle von ethnischer oder politischer Gewalt (2017: vier) (PIPS 7.1.2019 S 19f; Zahlen für 2017: PIPS 7.1.2018 S 20). Die Zahl der bei diesen Vorfällen getöteten Personen sank um 46 % auf 869 von 1.611 im Jahr 2017, die Zahl der verletzten Personen sank im selben Zeitraum um 31 % von 2.212 auf 1.516 (PIPS 7.1.2019 S 20).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Sicherheitslage Punjab und Islamabad

Die Bevölkerung der Provinz Punjab beträgt laut Zensus 2017 110 Millionen. In der Provinzhauptstadt Lahore leben 11,1 Millionen Einwohner (PBS 2017d). Islamabad, die Hauptstadt Pakistans, ist verwaltungstechnisch nicht Teil der Provinz Punjab, sondern ein Territorium unter Bundesverwaltung (ICTA o.D.). Die Bevölkerung des Hauptstadtterritoriums beträgt laut Zensus 2017 ca. zwei Millionen Menschen (PBS 2017d).

Die Sicherheitslage in Islamabad ist besser als in anderen Regionen (EASO 10.2018 S 93). Die Sicherheitslage im Punjab gilt als gut (SAV 29.6.2018). Mehrere militante Gruppierungen, die in der Lage sind, Anschläge auszuüben, sind im Punjab aktiv (EASO 10.2018 S 63-64; vgl. SAV 29.6.2018). In großen Städten wie Lahore und Islamabad-Rawalpindi gibt es gelegentlich Anschläge mit einer hohen Zahl von Opfern, durchgeführt von Gruppen wie den Tehreek-i-Taliban Pakistan (TTP), Al Qaeda oder deren Verbündeten (ACLED 7.2.2017); beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag durch die TTP-Splittergruppe Hizbul-Ahrar auf Polizeieinheiten vor einem Sufi-Schrein in Lahore am 8.5.2019 zehn Personen getötet. (Guardian 8.5.2019; vgl. Reuters 8.5.2019). Der Südpunjab gilt als die Region, in der die militanten Netzwerke und Extremisten am stärksten präsent sind (EASO 10.2018 S 63-64).

Für das erste Quartal 2019 (1.1. bis 31.3.) registrierte PIPS für das Hauptstadtterritorium Islamabad keinen und für den Punjab zwei terroristische Angriffe mit zwei Toten (Aggregat aus: PIPS 6.2.2019. PIPS 7.3.2019, PIPS 10.4.2019). Im Jahr 2018 wurde von PIPS im Hauptstadtterritorium kein terroristischer Angriff gemeldet. Im Punjab gab es vier terroristische Anschläge mit 20 Todesopfern. Zwei davon waren Selbstmordsprengangriffe durch die pakistanischen Taliban (PIPS 7.1.2019 S 49). Im Jahr 2017 kamen im Punjab bei 14 Anschlägen 61 Personen ums Leben, davon fanden sechs Vorfälle mit 54 Toten in Lahore statt. Das Hauptstadtterritorium verzeichnete drei Anschläge mit zwei Todesopfern (PIPS 7.1.2018).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Sicherheitslage Khyber-Pakhtunkhwa

Die Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) ist in 25 Distrikte (PBS 2017d) und sieben Tribal Districts unterteilt (Dawn 31.5.2018). Die FATA (Federally Administered Tribal Areas / Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) wurden Ende Mai 2018 offiziell in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert (AA 1.2.2019a). Die sieben Tribal Districts Bajaur, Khyber, Kurram, Mohmand, Orakzai, Nord- und Süd-Wasiristan waren bis 31. Mai 2018 Agencies der FATA (FRC 15.1.2019; vgl. PBS 2017d, Dawn 31.5.2018). Die bis 31.5.2018 bestehenden Frontier Regions der FATA wurden als Subdivisions in die bestehenden Distrikte Bannu, Dera Ismail Khan, Kohat, Lakki Marwat, Peschawar und Tank eingegliedert (Dawn 31.5.2018; vgl. PBS 2017d).

Laut Zensus 2017 hat die Provinz [im Gebietsstand ab 1.6.2018] ca. 35,5 Millionen Einwohner, wovon ca. fünf Millionen auf dem Gebiet der ehemaligen FATA leben. Die Hauptstadt Peschawar hat 4,3 Millionen Einwohner (PBS 2017d).

2009 begann die pakistanische Armee mit einer Reihe militärischer Einsätze gegen Tehreek-eTaliban Pakistan (TTP) in Khyber Pakhtunkhwa. Diese Offensive war gekennzeichnet durch Menschenrechtsverletzungen und willkürliche Verhaftungen. Die militärischen Einsätze gegen Aufständische trugen auf lange Sicht zu mehr Sicherheit in der Provinz bei (EASO 10.2018 S 67); auch auf dem Gebiet der ehem. FATA hat sich die Lage verbessert und viele Gebiete sind von Aufständischen geräumt worden (EASO 10.2018 S 82; vgl. FRC 15.1.2019). In den ehemaligen FATA konnte das staatliche Gewaltmonopol überwiegend wiederhergestellt werden (AA 21.8.2018; vgl. FRC 15.1.2019), die Militäraktionen gelten als abgeschlossen (Dawn 29.5.2018).

Dennoch bleibt die Bedrohung durch Gewalttaten der TTP weiter aufrecht. Zahlreiche TalibanFraktionen konnten ihre Netzwerke auf afghanischer Seite der Grenze wieder herstellen und sind in der Lage, terroristische Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten in den Tribal Districts Nord- und Süd-Wasiristan durchzuführen (FRC 15.1.2019; vgl. AA 21.8.2018). Andere Gruppen, die zur Instabilität in den Stammesdistrikten beitragen und ebenfalls grenzüberschreitend von Afghanistan aus operieren, sind der Islamische Staat, die Wazir- und Mahsud-Taliban, Lashkar-e-Islam und Tauheed-ul-Islam (FRC 15.1.2019). In Süd-Wasiristan wurde eine bewaffnete Gruppe, die als „gute Taliban“ bezeichnet wird, zu einer staatlich gestützten Miliz (EASO 10.2018 S 82). Eine lokale Talibangruppe um Mullah Nazir aus Nord-Wasiristan, die ebenfalls als „gute Taliban“ bezeichnet wurde, ist jetzt unter dem Deckmantel eines Friedenskommittees tätig und bedroht Mitglieder des Pakhtun Tahaffuz Movement (PTM, siehe auch Abschnitt 17.3) (PIPS 7.1.2019 S 75).

Als Folge der Mitte 2014 begonnenen Militäroperation Zarb-e-Azb, die sich im Wesentlichen auf das Gebiet der ehem. FATA konzentrierte, mussten rund 1,4-1,8 Mio. Menschen ihre Wohngebiete verlassen und galten seither als IDPs (ÖB 10.2018; vgl. AA 21.8.2018). Die geordnete Rückführung der Binnenvertriebenen in die betroffenen Regionen der Stammesgebiete, die Beseitigung der Schäden an Infrastruktur und privatem Eigentum, ebenso wie der Wiederaufbau in den Bereichen zivile Sicherheitsorgane, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz stellen Regierung, Behörden und Militär vor große Herausforderungen (AA 21.8.2018; vgl. Abschnitt 20.1).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Stammesbezirk Khyber

Khyber grenzt im Westen an Afghanistan, im Stammesbezirk Orakzai im Süden, im Stammesbezirk Kurram im Südwesten und im Osten an Peshawar. Dieser Bezirk ist in drei untergeordnete Verwaltungseinheiten unterteilt: Der Stammesbezirk Bara, XXXX und Landi Kotal. Khyber hat 986 973 Einwohner.

In den letzten Jahren führte die pakistanische Armee vier Militäroperationen in Khyber durch. Die letzte Militäroperation fand im Juli 2017 statt. Die pakistanische Armee kündigte im Juli 2017 an, dass sie im Rajgal Valley der Khyber Agency eine neue Militäroperation, die Operation Khyber-IV, eingeleitet habe. Bei dieser Offensive wurden Verstecke und Trainingslager von Militanten zerstört.

Im Jahr 2018 gab das FRC (Fata Research Centre) an, dass es 17 gewaltsame Zwischenfälle im Stammesbezirk Khyber gegeben habe. Dies ist ein erheblicher Rückgang um 85 % gegenüber 2017, als die FRC 115 gewaltsame Zwischenfälle meldete. Laut FRC wurden im Jahr 2018 24 Todesopfer gezählt (11 getötet und 13 verletzt). PIPS zählte 11 „Terroranschläge“ in Khyber, bei denen 7 getötet und 20 im Jahr 2018 verletzt wurden. Im Dezember 2018 beklagten sich die Stammesführer der Stammesbezirke Khyber über Razzien, die von den Sicherheitskräften auf der Suche nach Waffen durchgeführt wurden.

Vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2019 zählte die PIPS zwei „Terroranschläge“ im Stammesbezirk Khyber. Es wurden zwei Todesopfer gezählt (ein Todesopfer und ein Verletzter).

[Beweisquelle: EASO, Country of Origin Information Report: Pakistan Security Situation, Oktober 2019]

Paschtunen

Die von Großbritannien definierte Durand-Linie, heute Staatsgrenze zwischen Pakistan und Afghanistan, trennt das Siedlungsgebiet der Paschtunen (Monde 8.1.2015). Gemäß Volkszählung 2017 stellen paschtunische Muttersprachler mit 15,4 % der Bevölkerung Pakistans (ca. 32 Millionen Menschen) die zweitgrößte Sprachgruppe des Landes. Von ihnen leben ca. 22,6 Millionen in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa [inkl. ehem. FATA], wo sie ca. 77,7 % der Bevölkerung ausmachen; sowie ca. 3,7 Millionen in der Provinz Belutschistan, wo sie ca. 29,6 % der Bevölkerung ausmachen. Etwa zwei Millionen Paschtunen leben im Sindh, 1,3 Millionen im Punjab und 0,2 Millionen im Hauptstadtterritorium Islamabad (aggregiert aus PBS 2017a und PBS 2017c). Hinzu kommen noch 1,4 Millionen registrierte und ca. eine Million nicht registrierte afghanische Flüchtlinge in Pakistan (EASO 10.2018; vgl. Abschnitt 20.2), von denen ca. 80-85 % ethnische Paschtunen sind (ICMC 7.2013; vgl. UNHCR 24.8.2005).

Viele Pakistanis assoziieren die Aufständischenaktivitäten im Land mit Paschtunen, die auf beiden Seiten der pakistanisch-afghanischen Grenze leben (DW 20.3.2017). Weil die pakistanische Taliban-Bewegung vornehmlich eine paschtunische Bewegung ist, sind viele Paschtunen durch eine Art Sippenhaft als „Islamisten oder militante Kämpfer“ gebrandmarkt worden (EASO 10.2018). Weiters gibt es Ressentiments der pakistanischen Elite gegen Paschtunen aufgrund separatistischer Bestrebungen in der Anfangszeit des Staates Pakistan. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Afghanistan hat die Idee der Vereinigung der paschtunisch besiedelten Gebiete zu einem „Groß-Paschtunistan“ unter den pakistanischen Paschtunen kaum noch Anhänger (DW 20.3.2017).

Im Zuge des Kampfes gegen islamistische Aufständische kam es seitens der Sicherheitskräfte zu einem ethnischen Profiling von Paschtunen, insbesondere Angehörigen einkommensschwacher Gruppen (DW 20.3.2017). Menschenrechtsgruppen wiesen darauf hin, dass Paschtunen im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ zum Ziel für Übergriffe, Verschleppungen und außergerichtliche Tötungen wurden (EASO 10.2018).

Im Jahr 2018 erlebte Pakistan den Aufstieg des Pashtun Tahafuz Movement, (Pashtun Protection Movement / paschtunische Schutzbewegung; PTM), einer Bürgerrechtsbewegung, die Schutz und Rechte für die paschtunische Minderheit im Land fordert (EASO 10.2018), beispielsweise Aufklärung der aussergerichtlichen Tötungen, ein Ende der willkürlichen Angriffe und Misshandlungen, die Rückkehr verschwundener Personen und das Räumen der Landminen in den ehem. Stammesgebieten (SAV 9.3.2018; vgl. HRCP 3.2019). Die PTM führt einen „offenen verbalen Krieg mit der Armee“ (EASO 10.2018). Ihre Anführer und Anhänger werden als Verräter, unloyal und staatsfeindlich bezeichnet (Diplomat 5.2.2019).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Geschätzt 15,4 % der Bevölkerung Pakistans sind Paschtunen, womit sie nach den Punjabis die zweitgrößte ethnische Gruppe des Landes bilden. Paschtunen leben traditionell unter sich in ihren eigenen Stämmen und Unterstämmen in Khyber Pakhtunkhwa und der ehemaligen FATA, auch wenn viele Paschtunen in städtische Gebiete migriert sind. Die größten Paschtunen-Gemeinschaften leben in Karatschi, wo sich die größte Paschtunenpopulation in der Welt befindet, gefolgt von Peschawar. Paschtunen leben auch in Belutschistan, Islamabad, Lahore und anderen städtischen Gebieten.

Paschtunen sind in allen Gesellschaftsschichten in Pakistan vertreten. Historisch gesehen haben Paschtunen die Beschäftigung im Verkehrssektor in Pakistan und Afghanistan bestimmt. Paschtunen sind gut in den pakistanischen Sicherheitskräften vertreten. Die PTI hat eine starke Unterstützungsbasis in der von den Paschtunen bestimmten Provinz Khyber Pakhtunkhwa.

Die Sicherheitslage hat sich in ganz Pakistan, für alle Pakistani, die Pashtunen eingeschlossen, verbessert. Paschtunen, die innerhalb Pakistans umziehen, vor allem nach Karachi und Lahore, berichten über „ethnic profiling“ und Belästigungen durch Sicherheitsbeamte, auch Bestechung sei ein Thema. Paschtunen wird auch oft ihre National Identity Card (CNIC) gesperrt, wenn sie umziehen, was den Zugriff auf Vermögenswerte und Eigentum behindert. Als Ergebnis der Schwierigkeiten bevorzugen es Paschtunen sich dort wiederanzusiedeln, wo sie familiäre Verbindungen habe, also in Khyber Pakhtunkhwa oder im Sindh (ausgenommen Karachi), und vermeiden, sich im Punjab niederzulassen.

Nach der Bewertung von DFAT sind Paschtunen einem mittleren Risiko ausgesetzt, Diskriminierungen durch offizielle Stellen in Form von terror-bezogenem und „racial profiling“ durch Sicherheitskräfte in Gebieten, in denen sie die Minderheit darstellen, insbesondere im Punjab, zu erleiden. Paschtunen in Gebieten, in denen die Paschtunen die Mehrheit bilden oder wo familiäre oder andere soziale Verbindungen bestehen, sind einem niedrigen Risiko ausgesetzt, durch offizielle Stellen diskriminiert zu werden.

[Beweisquelle: Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Pakistan 20.02.2019].

Rechtsschutz / Justizwesen

Die Justiz steht weiterhin unter dem Einfluss der mächtigen pakistanischen Armee. Erhebliche Unzulänglichkeiten im Justizapparat und Schwächen bei der Durchsetzung des geltenden Rechts bestehen fort. Die Gerichte und das pakistanische Rechtssystem sind hochgradig ineffizient (AA 21.8.2018). Gerichte sind überlastet, die Judikative ist nicht in der Lage, Menschenrechte besser zu schützen (AA 1.2.2019). Laut NGOs und Rechtsexperten ist die Justiz in der Praxis oft von externen Einflüssen, wie der Angst vor Repressionen durch extremistische Elemente bei Fällen von Terrorismus, Blasphemie oder öffentlichkeitswirksamen politischen Fällen beeinträchtigt (USDOS 13.3.2019). Die im Rahmen des nationalen Anti-Terror-Aktionsplans vom 24.12.2014 vorgesehene grundlegende Reform des Systems der Strafjustiz kommt bislang nicht voran (AA 21.8.2018).

Viele Gerichte unterer Instanzen bleiben korrupt, ineffizient und anfällig für den Druck von wohlhabenden Personen und einflussreichen religiösen und politischen Akteuren. Es gibt Beispiele, wo Zeugen, Staatsanwälte oder ermittelnde Polizisten in High Profile Fällen von unbekannten Personen bedroht oder getötet wurden. Die oberen Gerichte und der Supreme Court werden allerdings von den Medien und der Öffentlichkeit als glaubwürdig eingestuft (USDOS 13.3.2019). Verzögerungen in zivilen und Kriminalfällen sind auf ein veraltetes Prozessrecht, unbesetzte Richterstellen, ein schlechtes Fallmanagement und eine schwache rechtliche Ausbildung zurückzuführen. Der Rückstand sowohl in den unteren als auch in den höheren Gerichten beeinträchtigt, zusammen mit anderen Problemen, den Zugang zu Rechtsmitteln oder eine faire und effektive Anhörung (USDOS 13.3.2019).

Gerichte versagen oft dabei, die Rechte religiöser Minderheiten zu schützen. Gesetze gegen Blasphemie werden diskriminierend gegen Schiiten, Christen, Ahmadis und andere religiöse Minderheiten eingesetzt. Untere Gerichte verlangen oft keine ausreichenden Beweise in Blasphemie-Fällen und einige Angeklagte oder Verurteilte verbringen Jahre im Gefängnis, bevor ein höheres Gericht ihre Freilassung anordnet oder ihren Schuldspruch aufhebt (USDOS 13.3.2019).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Grundversorgung und Wirtschaft

Pakistans Wirtschaft hat wegen einer günstigen geographischen Lage, Ressourcenreichtum, niedrigen Lohnkosten, einer jungen Bevölkerung und einer wachsenden Mittelschicht Wachstumspotenzial. Dieses Potenzial ist jedoch aufgrund jahrzehntelanger Vernachlässigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, periodisch wiederkehrender makroökonomischer sowie politischer Instabilität und schwacher institutioneller Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Als größte Wachstumshemmnisse gelten Korruption, ineffiziente Bürokratie, ein unsicheres regulatorisches Umfeld, eine trotz Verbesserungen in den letzten Jahren relativ teure bzw. unzureichende Energieversorgung und eine – trotz erheblicher Verbesserung seit 2014 – teils fragile Sicherheitslage (AA 5.3.2019). Die pakistanische Wirtschaft wächst bereits seit Jahren mit mehr als vier Prozent. Für 2018 gibt der Internationale Währungsfonds (IWF) sogar ein Plus von 5,6 Prozent an. Das Staatsbudget hat sich stabilisiert und die Börse in Karatschi hat in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt. Erreicht wurde dies durch einschneidende Reformen, teilweise unterstützt durch den IWF. In der Vergangenheit konnte Pakistan über die Jahrzehnte hinweg jedoch weder ein solides Wachstum halten noch die Wirtschaft entsprechend diversifizieren. Dies kombiniert mit anderen sozioökonomischen und politischen Faktoren führte dazu, dass immer noch etwa ein Drittel der pakistanischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt (GIZ 2.2019a). Die Arbeitslosigkeit in Pakistan liegt Stand 2017 offiziell etwa bei 6 % (CIA 5.2.2019). CIA hält fest, dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen die Situation nicht vollständig beschreiben können, da ein großer Teil der Wirtschaft informell und die Unterbeschäftigung hoch ist (CIA 5.2.2019a; vgl. GIZ 2.2019). Kritisch ist vor allem die Situation von jungen erwerbslosen/arbeitslosen Männern zwischen 15 und 30 Jahren. Als Folge dieser hohen Arbeitslosigkeit gepaart mit einer Verknappung natürlicher Ressourcen, vor allem auf dem Land, kommt es zu einer verstärkten Arbeitsmigration nicht nur in die großen Städte, sondern traditionell auch in die Golfstaaten.

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Wohlfahrts - Sozialwesen

Die Edhi Foundation ist die größte Wohlfahrtstiftung Pakistans. Sie gewährt u.a. Unterkunft für Waisen und Behinderte, eine kostenlose Versorgung in Krankenhäusern und Apotheken, sowie Rehabilitation von Drogenabhängigen, kostenlose Heilbehelfe, Dienstleistungen für Behinderte sowie Hilfsmaßnahmen für die Opfer von Naturkatastrophen (Edih o.D.). Die pakistanische Entwicklungshilfeorganisation National Rural Support Programme (NRSP) bietet Mikrofinanzierungen und andere soziale Leistungen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete an. Sie ist in 70 Distrikten der vier Provinzen – inklusive Azad Jammu und Kaschmir – aktiv. NRSP arbeitet mit mehr als 3,4 Millionen armen Haushalten zusammen, welche ein Netzwerk von ca. 217.000 kommunalen Gemeinschaften bilden (NRSP o.D).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung ist in weiten Landesteilen unzureichend und entspricht medizinisch, hygienisch, technisch und organisatorisch meist nicht europäischem Standard. Die Versorgung mit zuverlässigen Medikamenten und eine ununterbrochene Kühlkette sind nicht überall gesichert (AA 13.3.2019).

In modernen Krankenhäusern in den Großstädten konnte – unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit – eine Behandlungsmöglichkeit für die am weitesten verbreiteten Krankheiten festgestellt werden. Auch die meisten Medikamente, wie z. B. Insulin, können in den Apotheken in ausreichender Menge und Qualität erworben werden und sind für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich (AA 21.8.2018). In staatlichen Krankenhäusern, die i.d.R. europäische Standards nicht erreichen, kann man sich bei Bedürftigkeit kostenlos behandeln lassen. Da Bedürftigkeit offiziell nicht definiert ist, reicht die Erklärung aus, dass die Behandlung nicht bezahlt werden kann. Allerdings trifft dies auf schwierige Operationen, z.B. Organtransplantationen, nicht zu. Hier können zum Teil gemeinnützige Stiftungen die Kosten übernehmen (AA 21.8.2018).

Trotz Verbesserungen in den letzten Jahren (HRCP 3.2019) führt der Großteil der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen keine zufriedenstellende Behandlung durch. Die Menschen tendieren dazu, private Einrichtungen aufzusuchen (Kurji et al 2016; vgl. HRCP 3.2019). Diese sind jedoch für die ärmere Bevölkerung unleistbar (Kurji et al 2016). Das staatliche Wohlfahrts-Programm Bait-ul-Mal vergibt Unterstützungsleistungen und fördert die Beschaffung von Heilbehelfen (PBM o.D.).

Im Jahr 2018 kam es landesweit zu zwei terroristischen Angriffen auf Polio-Impfteams mit insgesamt vier Toten (PIPS 1.2019), im Jahr davor gab es drei Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Polio-Impfpersonal mit zwei Todesopfern (PIPS 7.1.2018). Im April 2019 wurden mindestens drei Mitarbeiter von Impfteams getötet und tausende Eltern verweigerten die Impfungen ihrer Kinder. Die Impfkampagne wurde auf unbestimmte Zeit ausgesetzt und landesweit wurden 270.000 Außendienstmitarbeiter abgezogen (DW 27.4.2019). Zuvor verbreiteten Impfgegner in sozialen Medien, dass die Impfungen verschiedene Krankheiten auslösen und die Kinder impotent machen würden (Dawn 11.5.2019).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Bewegungsfreiheit

Das Gesetz gewährleistet die Bewegungsfreiheit im Land sowie uneingeschränkte internationale Reisen, Emigration und Repatriierung (USDOS 13.3.2019). Die Regierung schränkt den Zugang zu bestimmten Gebieten der ehemaligen FATA und Belutschistan aufgrund von Sicherheitsbedenken ein (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 1.2019, HRCP 3.2019). Es gibt einzelne rechtliche Einschränkungen, Wohnort, Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu wechseln (FH 1.2019)

Reisebewegungen von bestimmten religiösen und Gender-Minderheiten bleiben gefährlich (HRCP 3.2019). Seit 2009 haben pakistanische Bürger das Recht, sich in Gilgit Baltistan anzusiedeln, jedoch gibt es weiterhin Einschränkungen für eine Ansiedlung in Azad-Jammu und Kaschmir (FH 1.2018). Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gibt es für Bewohner der ehemaligen FATA durch Ausgangssperren, Umzäunungen und eine starke Zunahme an Kontrollpunkten (ICG 20.8.2018).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]

Rückkehr

Unter gewissen Voraussetzungen verstoßen Pakistani mit ihrer Ausreise gegen die Emigration Ordinance (1979) oder gegen den Passport Act, 1974. Laut Auskunft der International Organization for Migration (IOM) werden Rückkehrende aber selbst bei Verstößen gegen die genannten Rechtsvorschriften im Regelfall nicht strafrechtlich verfolgt. Es sind vereinzelte Fälle an den Flughäfen Islamabad, Karatschi und Lahore bekannt, bei denen von den Betroffenen bei der Wiedereinreise Schmiergelder in geringer Höhe verlangt wurden. Rückkehrende, die nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen um Schmiergelder zu zahlen, werden oft inhaftiert (ÖB 10.2018).

Zurückgeführte Personen haben bei ihrer Rückkehr nach Pakistan allein wegen der Stellung eines Asylantrags nicht mit staatlichen Repressalien zu rechnen. Eine über eine Befragung hinausgehende besondere Behandlung Zurückgeführter ist nicht festzustellen. Die Rückführung von pakistanischen Staatsangehörigen ist nur mit gültigem pakistanischem Reisepass oder mit einem von einer pakistanischen Auslandsvertretung ausgestellten nationalen Ersatzdokument möglich, nicht aber mit europäischen Passersatzdokumenten (AA 21.8.2018).

[Ungeachtet anderer Bedrohungslagen; vgl. andere relevante Abschnitte des LIB; Anm.] hält die Österreichische Botschaft Islamabad fest, dass es bei oppositioneller Betätigung im Ausland bislang zu keinen ha. bekannten Problemen bei der Rückkehr gekommen ist. Dasselbe gilt für im Ausland tätige Journalist/innen und Menschenrechtsaktivist/innen. Auch der im Rückkehrbereich langjährig tätigen International Organization for Migration (IOM) liegen keine diesbezüglichen Fälle vor (ÖB 10.2018).

Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen, auch für zurückkehrende, alleinstehende Frauen und unbegleitete Minderjährige, sind in Pakistan nicht vorhanden. Rückkehrer erhalten keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen. EU-Projekte, wie z. B. das European Reintegraton Network (ERIN), sollen hier Unterstützung leisten (AA 21.8.2018).

Das Rückkehrprogramm ERIN wird von der pakistanischen NGO WELDO mit Finanzierung von AMIF und zahlreichen EU-Staaten durchgeführt (WELDO o.D.b). In 113 Bezirken werden Leistungen zur Reintegration und Unterstützung bereitgestellt. Die Programme sollen Rückkehrer wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Das Ausbildungsprogramm wird dem Bedarf am Arbeitsmarkt und der jeweiligen Person angepasst. Gegenwärtig liegt der Fokus der Organisation in der nachhaltigen Integration von pakistanischen Staatsangehörigen nach ihrer Rückkehr (freiwillig oder unfreiwillig) aus den Partnerländern. Beratung und Unterstützung in der Zielregion wird in verschiedenen Sprachen geboten. Es gibt verschiedene Programme für verschiedene vulnerable Personengruppen (WELDO o.D.a).

Die der Österreichischen Botschaft in der Vergangenheit seitens der im Rückkehrbereich tätigen NGO WELDO mitgeteilten Probleme – wie etwa angespannte Familiensituation aufgrund finanzieller Notlagen, schleppende Berufsreintegration und unzureichendes Einkommen oder Fehlen psychosozialer Betreuung – wurden in einem rezenten Gespräch mit Vertretern der International Organization for Migration (IOM) nicht bestätigt. Auch das von WELDO kritisierte Fehlen psychosozialer Betreuung der Rückkehrenden bestehe laut IOM nicht (ÖB 10.2018).

IOM bietet im Rahmen ihres Programmes Assisted Voluntary Return & Reintegration (AVRR) die folgenden Leistungen an (Laufzeit von

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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