TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/27 W214 2163448-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.11.2020
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Entscheidungsdatum

27.11.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W214 2163448-1/41E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. SOUHRADA-KIRCHMAYER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Iran, vertreten durch: Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH ARGE Rechtberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.05.2017, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine iranische Staatsangehörige und Zugehörige der Volksgruppe der Kurden, stellte am XXXX .01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am XXXX .01.2015 gab die Beschwerdeführerin an, am XXXX .10.2014 in Besitz eines österreichischen Visums legal mit dem Flugzeug in die Türkei und weiter nach Österreich geflogen zu sein. Das Visum sei von der Botschaft in Teheran ausgestellt worden und bis XXXX .01.2015 gültig. Befragt nach ihren Fluchtgründen gab die Beschwerdeführerin an, dass sie als Frau im Iran keine Freiheit habe, sie könne sich dort nicht frei bewegen und habe auch keine Arbeit gehabt. Sie wolle hier in Österreich frei leben und für ihre Zukunft selbst entscheiden. Dies sei ihr einziger Fluchtgrund. Bei einer Rückkehr in den Iran befürchte sie, keine Sicherheit zu haben, sie könne nicht für sich sorgen und arbeiten und dort nicht frei leben. Behördliche Probleme habe sie keine, es sei unmenschlich, nicht frei über sein Leben entscheiden zu dürfen.

Bei der Erstbefragung legte die Beschwerdeführerin ihren iranischen Reisepass im Original vor.

Am 12.10.2015 gab die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme ab, in welcher sie ausführte, dass Hintergrund ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre Erlebnisse im Iran bzw. die Drohungen in diesem Zusammenhang seien. Über die von ihr in der Erstbefragung geschilderten Probleme als Frau hinaus sei es zu zumindest drei Vorfällen gekommen, aufgrund derer sie Angst davor habe, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Am Weg zu einer Prüfung sei sie das erste Mal – offenbar vom Geheimdienst – angesprochen worden, dass sie für diesen arbeiten solle. Ein weiteres Mal sei ihr nahegelegt worden, jemanden zu heiraten, beim dritten Mal sei sie von einem Moped verfolgt worden. Näher werde sie dazu im Rahmen ihrer Einvernahme Stellung nehmen. Diese Vorkommnisse hätten sie letzten Endes am Ende ihres Aufenthaltes in Österreich dazu bewogen, hier Asyl zu beantragen, weil sie sich dem Regime widersetzt habe bzw. ihr dies angelastet werden würde. Die Angabe, keine behördlichen Probleme zu haben, sei dahingehend zu verstehen, dass sie strafrechtlich unbescholten sei, sie habe aber sehr wohl Probleme mit den Behörden bzw. den Machthabern, da sie sich deren Ansinnen widersetzt habe. Sie sei sunnitische Kurdin, die einen Teil ihres Lebens im Irak gelebt habe. Aus allen drei Gründen sei sie für das iranische Regime per se eine Zielscheibe bzw. von Interesse.

Der Stellungnahme beigelegt wurde eine Deutschkursbesuchsbestätigung der Caritas vom 14.09.2015, eine Bescheinigung des Roten Kreuzes über die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Grundkurs vom 20.08.2015 sowie diverse Arztbriefe und medizinische Befunde.

Am XXXX .04.2017 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch-Sorani niederschriftlich einvernommen.

Im Zuge der Einvernahme legte die Beschwerdeführerin zwei psychiatrische Befunde vom 02.03.2016 und 05.04.2017, auf denen die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ angeführt ist, eine Bestätigung des Roten Kreuzes über die freiwillige Dolmetschertätigkeit vom 15.06.2016, eine Teilnahmebescheinigung Deutsch A2 des bfi OÖ vom 12.07.2016, Deutschkursbesuchsbestätigungen A2 und B1 Teil 1 und 2 des WIFI vom 17.10.2016, 23.11.2016 und 18.01.2017, ein ÖSD Zertifikat über die bestandene Prüfung A2 vom 18.01.2017 sowie Kopien iranischer Schulzeugnisse vor.

Befragt nach ihren Fluchtgründen gab die Beschwerdeführerin an, dass ein Security-Angestellter der Universität, der ein Schiit und bei den Spy Basiji gewesen sei, sie zu Ehe nehmen haben wollen, sie sei damit jedoch nicht einverstanden gewesen. Er sei bereits verheiratet gewesen und seine Frau habe ihn verlassen wollen, weil er schlecht gewesen sei. Eines Tages, ca. fünf oder sechs Monate vor ihrer Ausreise aus dem Iran, habe er „sie ansprechen“ wollen, und weil sie dieses Problem hinter sich habe bringen wollen, sei sie mit ihm in die Wohnung mitgegangen, wo auch dessen 16-jähriger Sohn anwesend gewesen sei. Nach ca. 20 Minuten habe der Sohn die Wohnung verlassen und auch sie habe weggehen wollen und gesagt, dass sie nicht heiraten wolle und er sie in Ruhe lassen solle. Sie habe dann aufstehen wollen, wobei er sie an den Haaren gezogen und sie bedroht habe, dass er alles machen könne und sie nicht nein sagen könne, weil er so mächtig und wichtig sei. Er könnte heiraten, wen er wolle. Er habe sie dann festgehalten und sie vergewaltigen wollen. Sie habe dann vorgespielt, dass sie mit der Ehe doch einverstanden sei, damit er sie in Ruhe lasse. Sie sei nicht vergewaltigt worden, er habe ihren Kopf aber zweimal gegen die Mauer geschlagen, damit sie das ja nicht vergesse. Er habe eine Garantie haben wollen, dass sie bei ihrem Eheversprechen bleibe, weswegen er sie ausgezogen und sie dann nackt gefilmt und fotografiert habe. Dann habe sie gehen dürfen. Die Monate danach, als sie noch im Iran aufhältig gewesen sei, habe er sie immer wieder gefragt, wann sie ihn heiraten würde. Sie habe dann immer Gründe, wie etwa Prüfungen gesucht, um ihn nicht zu heiraten. Sie habe dann Angst bekommen, dass er diesen Film veröffentliche und sie habe auch psychische Probleme gehabt und sich dann für die Ausreise entschlossen.

Die Einladung ihrer in Österreich lebenden Schwester an ihren Vater, sie in Österreich zu besuchen, sei für sie eine gute Gelegenheit gewesen, den Iran zu verlassen. Sie sei dann mit ihrem Vater am XXXX .10.2014 nach Österreich gekommen, 15 Tage vor der Rückreise ihres Vaters habe sie eine Bekannte aus dem Iran angerufen und erzählt, dass die Studenten und Kollegen die Filme von ihr gesehen hätten. Dies habe sie ihrem Vater nicht erzählt, weil es um die Ehre gehe, Frauen würden in solchen Fällen getötet. Bei einer Rückkehr würde sie ihr Verfolger überall finden können, sie müsse ihn heiraten oder sich umbringen, ihr Leben sei in Gefahr.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowie auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt III.), und setzte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Entscheidung (Spruchpunkt IV.).

Die belangte Behörde stellte neben allgemeinen herkunftsbezogenen Länderfeststellungen und der Identität der Beschwerdeführerin fest, dass die Beschwerdeführerin iranische Staatsangehörige und Zugehörige der Volksgruppe der Kurden sei. Sie leide laut Arztbrief vom 05.04.2017 an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Eine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung habe nicht festgestellt werden können. Auch habe nicht festgestellt habe werden können, dass die Beschwerdeführerin im Falle der Rückkehr in den Iran einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bestehen würde. Im Iran sei laut Staatendokumentation eine psychiatrische Therapie zugänglich und auch die von der Beschwerdeführerin eingenommenen Medikamente seien im Iran erhältlich.

Die Rückkehrentscheidung sei angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer von nicht einmal drei Jahren und mangels Hinweisen auf eine berücksichtigungswürdige besondere Integration in Österreich aufgrund des Überwiegens des Schutzes der öffentlichen Ordnung zulässig.

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde aus, dass die Angaben der Beschwerdeführerin bezüglich ihres Fluchtvorbringens widersprüchlich und nicht glaubhaft gewesen seien. Die Beschwerdeführerin habe den geschilderten Vorfall in der Wohnung zeitlich nicht einordnen können, obwohl sie andere Daten wie Universitätsabschluss oder Ausreise genau benennen habe können. Konfrontiert mit der schriftlichen Stellungnahme vom 12.10.2015 seien die Antworten der Beschwerdeführerin zögerlich, wiederholend und nicht nachvollziehbar gewesen. Nicht nachvollziehbar sei zudem, weshalb die Beschwerdeführerin nicht Schutz bei ihren männlichen Verwandten gesucht habe, gehe doch aus den Länderfeststellungen zum Iran hervor, dass eine alleinstehende Frau ohne Einverständnis ihres Vaters nicht heiraten dürfe und unter dem Schutz ihrer männlichen Verwandten stehe. Die Beschwerdeführerin habe auch die gesetzlichen Möglichkeiten im Iran diesbezüglich von sich aus nicht in Anspruch genommen. Der belangten Behörde erscheine es zudem unplausibel, dass die Beschwerdeführerin ohne Probleme ihren Universitätsabschluss habe machen können, würde dieser Mann wirklich der Basij angehören und bei der Universität angestellt sein. Es sei aus Sicht der belangten Behörde auch nahezu ausgeschlossen, dass jemand, der von den iranischen Sicherheitsbehörden gesucht werde, mit eigenen Papieren per Flugzeug den Iran verlassen könne. Aus dem Erörterten gehe hervor, dass die Beschwerdeführerin als ledige Frau im Iran zu nichts gezwungen oder genötigt worden sei, sie habe frei über ihr Leben bestimmen können. Selbst wenn es zu den geschilderten Problemen gekommen wäre, seien diese eher von strafrechtlicher Natur und könnten zu keiner Asylgewährung führen.

3. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und führte (nach Wiederholung des Sachverhaltes und des Vorbringens bei der belangten Behörde) unter anderem aus, dass die fluchtauslösenden Ereignisse bereits mehr als zwei Jahre zurückliegen würden, sodass angesichts dieses Umstandes sowie der Stresssituation bei der Einvernahme nachvollziehbar sei, dass sie einige kleine Details verwechsle. Sie sei emotional auch sehr aufgewühlt gewesen. Die von der Behörde vorgehaltenen Widersprüche seien nicht derart massiv, als dass man ihr alleine deshalb jegliche Glaubwürdigkeit absprechen könnte. Sie habe die Verfolgung durch den genannten Basij Angehörigen ausführlich, schlüssig und glaubhaft dargelegt, die Schilderungen in der Einvernahme und der schriftlichen Stellungnahme seien in sich konsistent. Auch was ihre geschlechtsspezifische Situation als Frau im Iran betreffe würden schwere Verfahrensfehler vorliegen. Die Gefahr einer Zwangsverheiratung bestehe jederzeit, da ihre männlichen Verwandten ihre Meinung ändern könnten bzw. diese nicht vorherzusehen sei und wäre sie als alleinstehende Frau im Iran von Gewalt in jeglicher Hinsicht alleine aufgrund ihres Geschlechtes bis zur Hinrichtung ausgesetzt. Umso mehr bestehe dieses Risiko durch die bereits veröffentlichten Nacktfotos. Der Umstand, dass sie sunnitische Kurdin sei und mehrere Jahre im Irak gelebt habe, erhöhe die Gefahr weiter, da sie noch massiver von Diskriminierungen als Frau betroffen sei und beispielsweise bei der Arbeitssuche von ihr immer wieder sexuelle Dienste verlangt worden seien. Zudem seien die Basij davon ausgegangen, dass sie als sunnitische Kurdin sowie durch ihren Aufenthalt im Irak Kontakt zu Regimegegnerin gehabt habe. Es sei von ihr verlangt worden, verschiedene Leute, vor allem im Umfeld der Universität auszuhorchen, Informationen zu deren Ideologie und Einstellung zu sammeln und an den Geheimdienst auszuliefern. Vor diesem Hintergrund sei von Verfolgung in asylrelevanter Intensität im Sinne der GFK aus (unterstellter – gegen den iranischen Staat gerichteter) politischer Gesinnung sowie aufgrund ihrer Angehörigkeit zur sozialen Gruppe der iranischen Frauen, die von Zwangsverheiratung bzw. von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Ehrenmorden durch Männer bedroht seien bzw. von alleinstehenden iranischen Frauen, auszugehen. Jedenfalls hätte ihr aber subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen bzw. die Rückkehrentscheidung aufgrund der weitreichenden Integrationsschritte sowie ihres Gesundheitszustandes als dauerhaft unzulässig erklärt werden können.

Der Beschwerde angeschlossen wurde ein Aufenthaltszeugnis für die Beschwerdeführerin vom 14.04.2017 unterzeichnet durch eine Flüchtlingsbetreuerin des ÖRK sowie einen freiwilligen Helfer, ein Empfehlungsschreiben der Caritas vom 17.03.2017, eine Bestätigung des LKH XXXX über die Dolmetschertätigkeit vom 08.11.2016 sowie eine Zeitliste Team Österreich-Mitarbeiter.

4. Die belangte Behörde legte die Beschwerde – ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen – dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

5. Am 16.09.2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein der Beschwerdeführerin, deren Rechtsvertretung, eines Vertreters der belangten Behörde und eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch-Sorani/Farsi statt.

Die Beschwerdeführerin legte in der mündlichen Verhandlung weitere Unterlagen vor, nämlich einen medizinischen Befund vom 03.09.2019 mit der Diagnose posttraumatische Belastungsstörung, ein Universitätsabschlusszeugnis – vorläufiges Abschlussdiplom samt Übersetzung, ein Diplom – Bachelor „Englisch-Dolmetscherin“ samt Übersetzung, einen Lebenslauf aus dem auch ehrenamtliche Tätigkeiten vorgehen, eine Anmeldebestätigung für den Lehrgang Basisbildung OÖ vom 01.02.2019, eine Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF vom 22.12.2017, eine Bestätigung über einen freiwilligen Arbeitseinsatz beim Sozialhilfeverband XXXX vom 28.08.2019, eine private Dienstleistungsbestätigung über Tätigkeiten im Haushalt, eine Bestätigung der Marktgemeinde XXXX über die Verrichtung gemeinnützige Tätigkeiten vom 22.08.2019 sowie mehrere private Empfehlungsschreiben.

Befragt nach dem unmittelbaren Anlass zur Flucht aus dem Iran wiederholte die Beschwerdeführerin ihre Ausführungen aus der Einvernahme vor der belangten Behörde, gab jedoch an, dass sie von dem Mann, der sie heiraten habe wollen und bedroht habe, auch vergewaltigt worden sei.

In der mündlichen Verhandlung wurde auch die Schwester der Beschwerdeführerin, XXXX , als Zeugin einvernommen. Sie gab an, dass die Beschwerdeführerin ihr während ihres Aufenthaltes in Österreich erzählt habe, dass von ihr Videoaufnahmen und Fotos gemacht worden seien, die Beschwerdeführerin habe Angst gehabt alles zu erzählen, weil auch der Geheimdienst bei der Familie nachgefragt habe, wo die Beschwerdeführerin sei. Die Beschwerdeführerin habe ihr auch erzählt, dass ihr Freund getötet worden sei und dass sie von der Universität unterdrückt werde, dass sie mit dem Geheimdienst mitarbeiten soll und den Mann, der sie unterdrückt habe, heiraten müsse.

Die Verhandlung wurde zur weiteren Einvernahme der Beschwerdeführerin vertagt.

6. Am 18.10.2019 erstattete die Beschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertretung eine Stellungnahme, in welcher sie ihre bisherigen Ausführungen wiederholte und vorbrachte, dass sie im Fall einer Rückkehr in den Iran Verfolgung durch die Basij bzw. die iranischen Behörden aufgrund der ihr wegen der Vergewaltigung vorgeworfenen Delikte fürchte. Als Opfer einer Vergewaltigung würden der Beschwerdeführerin Anklagen wegen Unsittlichkeit, unmoralischem Verhalten oder Ehebruch, was mit der Todesstrafe bedroht sei, drohen. Darüber hinaus fürchte sie im Zusammenhang mit der Vergewaltigung und den verbreiteten Bildaufnahmen soziale (familiäre und gesellschaftliche) Repressalien und Ächtung und dadurch sowie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung in eine ausweglose Lage zu geraten. Der Verfolger der Beschwerdeführerin sei der Basij-Miliz zuzurechnen, die quasi im rechtsfreien Raum agiere, und könne die Beschwerdeführerin mangels Zeugen auch nicht gegen den Vergewaltiger vorgehen. Die Beschwerdeführerin könnte im Falle ihrer Rückkehr mit keiner familiären Unterstützung mehr rechnen. Sie würde bei einer Rückkehr in den Iran keine Lebensgrundlage vorfinden. Zum Aussageverhalten werde ausgeführt, dass der Maßstab, der an die Glaubhaftigkeit von Aussagen im Asylverfahren angelegt werde, bei der Beschwerdeführerin nicht zum Tragen kommen könne, da sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide.

7. Am 20.11.2019 fand die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein der Beschwerdeführerin, ihrer Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch/Farsi statt.

Die Beschwerdeführerin legte in der fortgesetzten Verhandlung weitere Unterlagen vor, nämlich einen Befund bezüglich der posttraumatischen Belastungsstörung vom 18.11.2019, ein Befürwortungsschreiben der „miteinander GmbH“ vom 08.10.2019, Fotos vom Grab ihres verstorbenen Freundes im Iran, sowie Fotos, die die Beschwerdeführerin bei pro-kurdischen Demonstrationen in Österreich in XXXX bzw. bei einem Treffen der kurdischen-demokratischen Partei zeigen würden.

Die Beschwerdeführerin wurde zu ihrer Beziehung mit ihrem verstorbenen Freund sowie zu der von ihr vorgebrachten Fluchtgeschichte weiter einvernommen. Im Zuge der Einvernahme führte die Beschwerdeführerin schließlich aus, dass es ihr nicht gut gehe, sie sei nicht in der Lage, der Verhandlung weiter zu folgen. Das, was sie im Irak und im Iran erlebt habe, habe ihr ganzes Leben zerstört, vor allem das, was sie in der Zeit des Studiums erlebt habe. Sie sei psychisch kaputt, es gehe ihr heute auch gesundheitlich schlecht.

Die Verhandlung wurde daraufhin abermals auf unbestimmte Zeit vertagt.

8. Am 29.11.2019 stellte die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer posttraumatischen Belastungsstörung mit einhergehenden depressiven und dissoziativen Symptomen, welche sich ua. in dissoziativen Amnesien, Konzentrationsstörungen und Verbalisierungsschwierigkeiten äußern würden, einen Antrag auf Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Erörterung des psychiatrischen Befundes vom 18.11.2019 sowie zur Beurteilung des Aussageverhaltens der Beschwerdeführerin bzw. zur Beurteilung der Frage, ob die Beschwerdeführerin aus medizinischer Sicht in der Lage sei, belastende Episoden ihres Lebens chronologisch, nachvollziehbar und detailliert zu schildern.

9. Mit Beschluss vom 27.01.2020, hg. Zl. W214 2163448-1/20Z wurde XXXX zur Sachverständigen aus dem Fachgebiet Psychiatrie bestellt.

10. Die Sachverständige erstattete am 29.04.2020 ihr psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten (eingelangt beim Bundesverwaltungsgericht am 02.05.2020) und legte Gebührennote. Zusammengefasst führte die Sachverständige in ihrem Gutachten aus, dass sich bei der Beschwerdeführerin aktuell keine posttraumatische Belastungsstörung (mehr) feststellen lasse, das nunmehr vorliegende psychische Leiden könne aber, folge man den Schilderungen der Beschwerdeführerin über die Erlebnisse in ihrer Heimat, als Traumafolgestörung interpretiert werden. Die Beschwerdeführerin sei aus medizinischer Sicht in der Lage, ihre Angelegenheiten ohne Gefahr der Herbeiführung eines Nachteils für sich selbst zu regeln. Die Beschwerdeführerin sei verhandlungsfähig und in der Lage zu beurteilen, Angaben zu ihrer Situation im Iran zu machen und auf Fragen zu belastenden Episoden ihres Lebens wahrheitsgemäß, nachvollziehbar und detailliert zu antworten, wenngleich die Beantwortung dieser Fragen für sie zweifelsohne eine emotionale Belastung darstelle.

11. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte das Gutachten der Sachverständigen am 29.05.2020 den Parteien und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme, woraufhin die Beschwerdeführerin am 07.07.2020 durch ihre Rechtvertretung eine Stellungnahme erstattete und beantragte, die Sachverständige zur Gutachtenserörterung einzuvernehmen.

12. Am 13.10.2020 fand die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein der Beschwerdeführerin, ihrer Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Kurdisch-Sorani/Farsi statt.

Im Zuge der Einvernahme legte die Beschwerdeführerin eine Bestätigung der „Democratic Party of Iranian Kurdistan – PDKI“ vom 01.12.2019 sowie eine schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin zur exilpolitischen Tätigkeit der Beschwerdeführerin in Österreich vor.

Zunächst befragt nach ihrem Gesundheitszustand gab die Beschwerdeführerin an, dass sie an Kopfschmerzen und Angstzuständen leide, sie sei aber in der Lage, der Verhandlung zu folgen.

Nach erfolgter mündlicher Erörterung des Gutachtens durch die Sachverständige wurde die Befragung der Beschwerdeführerin fortgesetzt. Die Beschwerdeführerin wiederholte ihre Ausführungen, dass ihre Probleme ca. fünf oder sechs Monate vor ihrer Ausreise begonnen hätten, sie sei öfter von einer Person auf dem Moped verfolgt worden und habe die bereits geschilderten Probleme mit dem Mann, der sie habe heiraten wollen, gehabt. Der Mann habe die von ihr gedrehten Filme unter den Studenten verbreitet, dies habe ihr eine Bekannte erzählt, welche die Filme in ihren E-Mails gefunden habe. Wenn ihr Vater und ihr Bruder erfahren würden, dass sie bei diesem Mann zu Hause gewesen sei und dass er Aufnahmen von ihr gemacht habe, hätten sie ihr Vater oder Brüder getötet oder zwangsverheiratet, weil es eine Schande für die Familie wäre. Nach ihrer Ausreise seien öfter verschiedene Personen bei ihrer Familie im Iran zu Hause gewesen und hätten nach ihr gefragt, das letzte Mal vor etwa drei bis vier Monaten.

Befragt zu ihren politischen Aktivitäten in Österreich gab die Beschwerdeführerin an, bisher zweimal bei Demonstrationen gewesen zu sein, einmal in XXXX und einmal in XXXX , jeweils im Jahr 2017. In XXXX hätten sie weiters XXXX gefeiert. Die Demonstration am XXXX in XXXX habe für die Menschenrechte im Iran stattgefunden, es hätten in Shiraz, Tabris und Teheran Demonstrationen begonnen und es sei darum gegangen, dass die Bevölkerung die Regierung nicht mehr wolle und es sei dazu aufgerufen worden, dass die Iraner außerhalb des Landes auch ihre Stimme erheben sollen. Es seien viele Leute bei der Demonstration gewesen, sie selbst habe keine besondere Rolle gehabt, sie habe auch gerufen, dass sie gegen das Regime und die Mullahs im Iran sei. Die vorgelegten Fotos seien von den Demonstranten selbst angefertigt worden, mit einigen Leuten, die dort gewesen seien, sei sie befreundet, diese hätten ihr die Fotos gegeben. Es gebe die politische Partei, die hier in XXXX ihren Sitz habe und diese Fotos in den Medien verbreite. Eine Demonstration in XXXX habe XXXX stattgefunden, es sei um die Unterdrückung der Bevölkerung durch das iranische Regime gegangen. Sie hätten gesagt, dass Kurdistan frei werden und das iranische Regime weggehen solle. Es seien viele Leute, etwa 300 bis 500, bei der Demonstration anwesend gewesen. Sie könne sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal bei einer Demonstration teilgenommen habe. Sie sei immer wieder eingeladen worden, habe aber aus psychischen Gründen nicht teilnehmen können.

Bei einer Rückkehr in den Iran sei ihr Leben in Gefahr, sie würde zu 100% eingesperrt oder gehängt werden. Dies aufgrund der Probleme mit dem Mann, der sie habe heiraten wollen, sowie weil sie die Ehre ihrer Familie zerstört habe. Wenn die iranische Regierung noch dazu sehe, dass sie an Demonstrationen teilgenommen habe und als Kurdin aktiv gewesen sei, würde sie gehängt. Sie hätten sicher Informationen über alle Iraner bzw. Kurden aus dem Iran, die sich XXXX aufhalten und demonstrieren würden. Sie hätte sich nur drei Monate in Österreich aufhalten dürfen, wenn sie jetzt zurückkehre, würden sie die iranischen Behörden fragen, weshalb sie so lange weg gewesen sei und ihr Sachen unterstellen, damit sie sie lebenslänglich einsperren könnten. Sie habe überhaupt keine Sicherheit im Iran und würde im Gefängnis gefoltert werden.

13. Am 02.11.2020 erstattete die Beschwerdeführerin zu den in das Verfahren eingebrachten Länderberichten eine Stellungnahme und wiederholte ihr Fluchtvorbringen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I. ausgeführte Verfahrensgang wird als maßgeblich festgestellt.

1.1 Zur Person der Beschwerdeführerin und zum Fluchtvorbringen

Die Beschwerdeführerin ist iranische Staatsangehörige, Zugehörige der Volksgruppe der Kurden und muslimisch-sunnitischen Glaubens. Sie trägt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruchkopf genannte Geburtsdatum. Die Beschwerdeführerin ist ledig und hat keine Kinder. Sie wurde im Iran in der Stadt XXXX geboren und war zuletzt in der Stadt XXXX wohnhaft. Sie hat im Iran die Schule mit Matura abgeschlossen und anschließend an der Universität XXXX das Bachelorstudium „Englisch-Dolmetscherin“ abgeschlossen.

Die Beschwerdeführerin ist am XXXX .10.2014 gemeinsam mit ihrem Vater mit dem Flugzeug legal aus dem Iran ausgereist und in Besitz eines Visums legal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Vor Ablauf ihres Visums am XXXX .01.2015 stellte die Beschwerdeführerin am XXXX .01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Vater der Beschwerdeführerin kehrte in den Iran zurück.

Im Herkunftsstaat leben noch der Vater, zwei Brüder, drei Schwestern sowie Cousinen der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin hat Kontakt zu ihrer Familie.

In Österreich lebt eine weitere Schwester der Beschwerdeführerin, welche zwei Töchter und drei Söhne hat.

Die Beschwerdeführerin geht keiner legalen Arbeit nach und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Seit Ablauf ihres Visums befand sich die Beschwerdeführerin lediglich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz durchgängig rechtmäßig im Bundesgebiet. Sie bezieht Leistungen aus der Grundversorgung des Bundes. Die Beschwerdeführerin hat in der Vergangenheit ehrenamtlich im Altersheim XXXX , bei der Gemeinde XXXX , beim Roten Kreuz, im Sozialmarkt und im Krankenhaus XXXX , vor allem als Dolmetscherin, gearbeitet bzw. mitgeholfen.

Die Beschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten.

Die Beschwerdeführerin leidet an Migräne und einer Traumafolgestörung, sie ist aber verhandlungsfähig und in der Lage, ihre Angelegenheiten ohne Gefahr der Herbeiführung eines Nachteils für sich selbst zu regeln. Sie nimmt die Medikamente Trittico, Ibuprofen, Enterobene und Escitalopram.

Die Beschwerdeführerin verfügt über Deutschkenntnisse, sie hat die Prüfung ÖSD Zertifikat A2 bestanden. Die Beschwerdeführerin hat am 22.12.2017 am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teilgenommen.

Im Iran wurde die Beschwerdeführerin etwa fünf bis sechs Monate vor ihrer Ausreise von einem Sicherheitsmitarbeiter der Universität, an welcher sie studiert hat, bedrängt, ihn zu heiraten. Es kam zu mehreren Treffen zwischen der Beschwerdeführerin und dem Sicherheitsmitarbeiter XXXX , welcher der Basij-Miliz zugehörig ist. Die Beschwerdeführerin wollte diesen Mann nicht heiraten und hat ihm dies auch kommuniziert. Unter dem Vorwand, dass auch sein 16- oder 17-jähriger Sohn zugegen sein werde, überredete XXXX die Beschwerdeführerin zu einem Gespräch in seiner Wohnung. Der Sohn von XXXX verließ nach etwa 20 Minuten die Wohnung. Im Zuge des Gesprächs machte die Beschwerdeführerin XXXX abermals klar, dass sie ihn nicht heiraten wolle. XXXX schlug daraufhin den Kopf der Beschwerdeführerin zweimal gegen die Wand und sagte zu ihr, dass sie nicht „nein“ zu ihm sagen könne. XXXX zog die Beschwerdeführerin in der Folge aus und fertigte Fotos und Filme ihres nackten Körpers an, um sie damit zu erpressen, ihn zu heiraten. Weitere Übergriffe des XXXX auf die Beschwerdeführerin fanden vor ihrer Ausreise nicht mehr statt. Nach der Ausreise der Beschwerdeführerin wurde deren Familie mehrere Male von verschiedenen Personen aufgesucht und befragt, wo sich die Beschwerdeführerin aufhalte. Etwa zwei Wochen vor Ablauf ihres Visums in Österreich erfuhr die Beschwerdeführerin von einer ehemaligen Studienkollegin und Freundin, dass die von ihr gedrehten Filme unter den Studenten verbreitet worden seien.

In Österreich hat die Beschwerdeführerin im Jahr 2017 an einer Demonstration am XXXX in XXXX sowie an zwei weiteren Demonstrationen in XXXX , vor der Oper und XXXX , teilgenommen. Weiters hat die Beschwerdeführerin am kurdischen Neujahrsfest sowie einem Treffen der kurdischen Partei in Österreich teilgenommen. Die Beschwerdeführerin war bei diesen Aktivitäten nicht als auffällig regimekritisch identifizierbar, sie hat bei der Abhaltung der Demonstrationen keine wie auch immer geartete prominentere Stellung innegehabt. Bei diesen Demonstrationen war jeweils eine größere Anzahl von Menschen zugegen. Die iranischen Behörden haben die regimekritischen Demonstrationsteilnahmen der Beschwerdeführerin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht wahrgenommen.

Insgesamt ist die Beschwerdeführerin jedoch gefährdet, wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „Frauen“ im Iran asylrelevant verfolgt zu werden und läuft sie Gefahr, abermals Opfer von Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung zu werden, wobei der iranische Staat im vorliegenden Fall diesbezüglich als nicht schutzwillig anzusehen ist.

1.2 Zur hier relevanten Situation im Iran

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran, Stand 19.06.2020

1. Politische Lage

Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (AA 4.3.2020b). Das Staatssystem beruht auf dem Konzept der „velayat-e faqih“, der Stellvertreterschaft des Rechtsgelehrten. Dieses besagt, dass nur ein herausragender Religionsgelehrter in der Lage sei, eine legitime Regierung zu führen, bis der 12. Imam, die eschatologische Heilsfigur des schiitischen Islam, am Ende der Zeit zurückkehren und ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit einleiten werde. Dieser Rechtsgelehrte ist das Staatsoberhaupt Irans mit dem Titel „Revolutionsführer“ (GIZ 2.2020a; vgl. BTI 2020). Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei. Er steht noch über dem Präsidenten (ÖB Teheran 10.2019; vgl. US DOS 11.3.2020). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte (AA 4.3.2020a; vgl. FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020) und wesentlich mächtiger als der Präsident. Des weiteren unterstehen ihm unmittelbar die Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC), die mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen und die gesamte Judikative. Für die entscheidenden Fragen ist letztlich der Oberste Führer verantwortlich (ÖB Teheran 10.2019; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz und Schiedsrichter ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Politische Gruppierungen bilden sich um Personen oder Verwandtschaftsbeziehungen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen (z.B. Klerus). Diese Zugehörigkeiten und Allianzen unterliegen dabei einem ständigen Wandel. Reformorientierte Regimekritiker sind weiterhin starken Repressionen ausgesetzt (AA 26.2.2020).

Das iranische Regierungssystem ist ein semipräsidiales: an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident. Amtsinhaber ist seit 2013 Hassan Rohani, er wurde im Mai 2017 wieder gewählt (ÖB Teheran 10.2019). Der Präsident ist, nach dem Revolutionsführer, der zweithöchste Beamte im Staat (FH 4.3.2020). Er steht der Regierung vor, deren Kabinett er ernennt. Die Kabinettsmitglieder müssen allerdings vom Parlament bestätigt werden. Der Präsident ist der Leiter der Exekutive. Zudem repräsentiert er den Staat nach außen und unterzeichnet internationale Verträge. Dennoch ist seine faktische Macht beschränkt, da der Revolutionsführer in allen Fragen das letzte Wort hat bzw. haben kann (GIZ 2.2020a). Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 10.2019). Hauptaufgabe des Parlaments ist die Ausarbeitung neuer Gesetze, die von der Regierung auf den Weg gebracht werden. Es hat aber auch die Möglichkeit, selbst neue Gesetze zu initiieren. Die letzten Parlamentswahlen fanden im Februar 2020 statt (GIZ 2.2020a). Während bei der Parlamentswahl 2016 die Reformer und Moderaten starke Zugewinne erreichen konnten (ÖB Teheran 10.2019), drehte sich dies bei den letzten Parlamentswahlen vom Februar 2020 und die Konservativen gewannen diese Wahlen. Erstmals seit der Islamischen Revolution von 1979 lag die Wahlbeteiligung unter 50%. Zahlreiche Anhänger des moderaten Lagers um Präsident Hassan Rohani hatten angekündigt, der Wahl aus Enttäuschung über die politische Führung fernzubleiben. Tausende moderate Kandidaten waren zudem von der Wahl ausgeschlossen worden (DW 23.2.2020).

Entscheidende Gremien sind des Weiteren der vom Volk direkt gewählte Expertenrat mit 86 Mitgliedern, sowie der Wächterrat mit zwölf Mitgliedern (davon sind sechs vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte Juristen). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen. Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (Gesetzeskontrolle), ist jedoch wesentlich mächtiger. Ihm obliegt u.a. auch die Genehmigung von Kandidaten bei allen nationalen Wahlen (ÖB Teheran 10.2019; vgl. GIZ 2.2020a, FH 4.3.2020, BTI 2020). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2.2020). Des weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der „Gesamtinteressen des Systems“ zu achten (AA 4.3.2020a; vgl. GIZ 2.2020a). Er besteht aus 35 Mitgliedern, die vom Revolutionsführer unter Mitgliedern der Regierung, des Wächterrats, des Militärs und seinen persönlichen Vertrauten ernannt werden. Die Interessen des Systems sind unter allen Umständen zu wahren und der Systemstabilität wird in der Islamischen Republik alles untergeordnet. Falls nötig, können so in der Islamischen Republik etwa auch Gesetze verabschiedet werden, die der Scharia widersprechen, solange sie den Interessen des Systems dienen (GIZ 2.2020a).

Die Basis des Wahlsystems der Islamischen Republik sind die Wahlberechtigten, also jeder iranische Bürger ab 16 Jahren. Das Volk wählt das Parlament, den Präsidenten sowie den Expertenrat (GIZ 2.2020a) in geheimen und direkten Wahlen (AA 26.2.2020). Das System der Islamischen Republik kennt keine politischen Parteien. Theoretisch tritt jeder Kandidat für sich alleine an. In der Praxis gibt es jedoch Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die westlichen Vorstellungen von Parteien recht nahe kommen (GIZ 2.2020a; vgl. AA 4.3.2020a). Das iranische Wahlsystem entspricht nicht internationalen demokratischen Standards. Der Wächterrat, der von konservativen Hardlinern und schlussendlich auch vom Obersten Rechtsgelehrten Khamenei kontrolliert wird, durchleuchtet alle Kandidaten für das Parlament, die Präsidentschaft und den Expertenrat. Üblicherweise werden Kandidaten, die nicht als Insider oder nicht vollkommen loyal zum religiösen System gelten, nicht zu Wahlen zugelassen. Bei Präsidentschaftswahlen werden auch Frauen aussortiert. Das Resultat ist, dass die iranischen Wähler nur aus einem begrenzten und vorsortierten Pool an Kandidaten wählen können (FH 4.3.2020). Von den 1.499 Männern und 137 Frauen, die sich im Rahmen der Präsidentschaftswahl 2017 für die Kandidatur zum Präsidentenamt registrierten, wurden sechs männliche Kandidaten vom Wächterrat zugelassen. Frauen werden bei Präsidentschaftswahlen grundsätzlich als ungeeignet abgelehnt. Die Wahlbeteiligung 2017 betrug 73%. Unabhängige Wahlbeobachter werden nicht zugelassen. Ablauf, Durchführung sowie Kontroll- und Überprüfungsmechanismen der Wahlen sind in technischer Hinsicht grundsätzlich gut konzipiert (AA 26.2.2020).

Auf Reformbestrebungen bzw. die wirtschaftliche Öffnung des Landes durch die Regierung Rohanis wird von Hardlinern in Justiz und politischen Institutionen mit verstärktem Vorgehen gegen „unislamisches“ oder konterrevolutionäres Verhalten reagiert. Es kann daher auch nicht von einer wirklichen Verbesserung der Menschenrechtslage gesprochen werden. Ein positiver Schritt Ende 2017 war die Aufhebung der Todesstrafe für die meisten Drogendelikte, was zu einer Halbierung der vollstreckten Todesurteile führte (ÖB Teheran 10.2019).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (4.3.2020a): Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/politisches-portrait/202450, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (4.3.2020b): Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/steckbrief/202394, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (26.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027998/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_Februar_2020%29%2C_26.02.2020.pdf, Zugriff 20.4.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 Country Report — Iran, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_IRN.pdf, Zugriff 6.5.2020

- DW – Deutsche Welle (23.2.2020): Konservative siegen bei Parlamentswahl im Iran, https://www.dw.com/de/konservative-siegen-bei-parlamentswahl-im-iran/a-52489961, Zugriff 7.4.2020

- FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025928.html, Zugriff 7.4.2020

- GIZ – Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (2.2020a): Geschichte und Staat Iran, https://www.liportal.de/iran/geschichte-staat/, Zugriff 7.4.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 7.4.2020

- US DOS – US Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026339.html, Zugriff 7.4.2020

2. Sicherheitslage

Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im Iran auswirken. Die schwierige Wirtschaftslage und latenten Spannungen im Land führen periodisch zu Kundgebungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder mit (religiösen) Lokalfeiertagen und Gedenktagen. Dabei muss mit schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstranten gerechnet werden sowie mit Straßenblockaden. Zum Beispiel haben im November 2019 Proteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise Todesopfer und Verletzte gefordert (EDA 4.5.2020).

Das Risiko von Anschlägen besteht im ganzen Land. Im Juni 2017 wurden in Teheran Attentate auf das Parlament und auf das Mausoleum von Ayatollah Khomeini verübt. Sie haben über zehn Todesopfer und zahlreiche Verletzte gefordert. Im September 2018 forderte ein Attentat auf eine Militärparade in Ahvaz (Provinz Khuzestan) zahlreiche Todesopfer und Verletzte (EDA 4.5.2020; vgl. AA 4.5.2020b). 2019 gab es einen Anschlag auf einen Bus der Revolutionsgarden in der Nähe der Stadt Zahedan (AA 4.5.2020b).

In den Grenzprovinzen im Osten und Westen werden die Sicherheitskräfte immer wieder Ziel von bewaffneten Überfällen und Anschlägen (EDA 4.5.2020). In diesen Minderheitenregionen kommt es unregelmäßig zu Zwischenfällen mit terroristischem Hintergrund. Die iranischen Behörden haben seit einiger Zeit die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen im Grenzbereich zu Irak und zu Pakistan, aber auch in der Hauptstadt Teheran erhöht (AA 4.5.2020b).

In der Provinz Sistan-Belutschistan (Südosten, Grenze zu Pakistan/Afghanistan) kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen iranischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und es gibt vermehrte Sicherheits- und Personenkontrollen. Wiederholt wurden Ausländer in der Region festgehalten und längeren Verhören unterzogen. Eine Weiterreise war in manchen Fällen nur noch mit iranischer Polizeieskorte möglich. Dies geschah vor dem Hintergrund von seit Jahren häufig auftretenden Fällen bewaffneter Angriffe auf iranische Sicherheitskräfte in der Region (AA 4.5.2020b). Die Grenzzone Afghanistan, östliches Kerman und Sistan-Belutschistan, stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändlerorganisationen sowie von extremistischen Organisationen. Sie haben wiederholt Anschläge verübt und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein. Es kann hier jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommen (EDA 4.5.2020).

In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, lokale Repräsentanten der Justiz und des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen und Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt. Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 4.5.2020b). Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen). Die unsichere Lage und die Konflikte in Irak verursachen Spannungen im Grenzgebiet. Gelegentlich kommt es zu Schusswechseln zwischen aufständischen Gruppierungen und den Sicherheitskräften. Bisweilen kommt es auch im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften (EDA 4.5.2020). Schmuggler, die zwischen dem iranischen und irakischen Kurdistan verkehren, werden mitunter erschossen, auch wenn sie unbewaffnet sind (ÖB Teheran 10.2019).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (4.5.2020b): Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/iransicherheit/202396, Zugriff 4.5.2020

- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.5.2020): Reisehinweise Iran, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/iran/reisehinweise-fuerdeniran.html, Zugriff 4.5.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 4.5.2020

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Seit 1979 ist Iran eine Islamische Republik, in welcher versucht wird, demokratische und islamische Elemente miteinander zu verbinden. Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen. Mit einer demokratischen Verfassung im europäischen Sinne kann sie daher nicht verglichen werden (ÖB Teheran 10.2019). Das in der iranischen Verfassung enthaltene Gebot der Gewaltentrennung ist praktisch stark eingeschränkt. Der Revolutionsführer ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative. Dieser ist laut Artikel 157 der Verfassung die höchste Autorität in allen Fragen der Justiz. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in der Verfassung festgeschrieben, unterliegt jedoch Begrenzungen. Immer wieder wird deutlich, dass Exekutivorgane, v.a. der Sicherheitsapparat, trotz des formalen Verbots, in Einzelfällen massiven Einfluss auf die Urteilsfindung und die Strafzumessung nehmen. Zudem ist zu beobachten, dass fast alle Entscheidungen der verschiedenen Staatsgewalten bei Bedarf informell durch den Revolutionsführer und seine Mitarbeiter beeinflusst und gesteuert werden können. Auch ist das Justizwesen nicht frei von Korruption (AA 26.2.2020; vgl. BTI 2020). In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer („Iranian Bar Association“; IBA). Allerdings sind die Anwälte der IBA staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen, insbesondere in politischen Verfahren, ausgesetzt (AA 26.2.2020). Das Justizsystem wird als Instrument benutzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 4.3.2020).

Richter werden nach religiösen Kriterien ernannt. Internationale Beobachter kritisieren weiterhin den Mangel an Unabhängigkeit des Justizsystems und der Richter und, dass die Verfahren internationale Standards der Fairness nicht erfüllen (US DOS 11.3.2020). Iranische Gerichte, insbesondere die Revolutionsgerichte, verletzen immer wieder die Regeln für faire Gerichtsverfahren. Geständnisse, die wahrscheinlich unter Anwendung von Folter erlangt wurden, werden als Beweis vor Gericht verwendet (HRW 14.1.2020; vgl. AA 26.2.2020, HRC 28.1.2020). Die Behörden setzen sich ständig über die Bestimmungen hinweg, welche die Strafprozessordnung von 2015 für ein ordnungsgemäßes Verfahren vorsieht, wie z.B. das Recht auf einen Rechtsbeistand (AI 18.2.2020; vgl. HRW 14.1.2020).

Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) wird jeder Iraner oder Ausländer, der bestimmte Straftaten im Ausland begangen hat und in Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Bei der Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 26.2.2020).

Wenn sich Gesetze nicht mit einer Situation befassen, dürfen Richter ihrem Wissen und ihrer Auslegung der Scharia Vorrang einräumen. Nach dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen „göttlichen Wissens“ für schuldig erklären (US DOS 11.3.2020).

In der Strafjustiz existieren mehrere voneinander getrennte Gerichtszweige. Die beiden wichtigsten sind die ordentlichen Strafgerichte und die Revolutionsgerichte. Daneben sind die Pressegerichte für Taten von Journalisten, Herausgebern und Verlegern zuständig. Die “Sondergerichte für die Geistlichkeit“ sollen abweichende Meinungen unter schiitischen Geistlichen untersuchen und ihre Urheber bestrafen. Sie unterstehen direkt dem Revolutionsführer und sind organisatorisch außerhalb der Judikative angesiedelt (AA 9.12.2015; vgl. BTI 2018).

Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte beschränkt sich auf folgende Delikte:

- Straftaten betreffend die innere und äußere Sicherheit des Landes, bewaffneter Kampf gegen das Regime, Verbrechen unter Einsatz von Waffen, insbesondere "Feindschaft zu Gott" und "Korruption auf Erden";

- Anschläge auf politische Personen oder Einrichtungen;

- Beleidigung des Gründers der Islamischen Republik Iran und des jeweiligen Revolutionsführers;

- Spionage für fremde Mächte;

- Rauschgiftdelikte, Alkoholdelikte und Schmuggel;

- Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (AA 9.12.2015).

Gerichtsverfahren, vor allem Verhandlungen vor Revolutionsgerichten, finden nach wie vor unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und sind extrem kurz. Manchmal dauert ein Verfahren nur wenige Minuten (AI 22.2.2018).

Die iranische Strafrechtspraxis unterscheidet sich stark von jener der europäischen Staaten: Körperstrafen sowie die Todesstrafe werden verhängt (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020). Im iranischen Strafrecht sind körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 26.2.2020). Amputation eines beispielsweise Fingers bei Diebstahl fällt unter Vergeltungsstrafen („Qisas“), ebenso wie die Blendung, die auch noch immer angewendet werden kann. Durch Erhalt eines Abstandsgeldes („Diya“) kann der ursprünglich Verletzte jedoch auf die Anwendung einer Blendung verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom „Geschädigten“ gegen eine Abstandsgeldzahlung verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 10.2019). Zudem sieht das iranische Strafrecht bei bestimmten Vergehen wie zum Beispiel Alkoholgenuss, Missachten des Fastengebots oder außerehelichem Geschlechtsverkehr auch Auspeitschung vor. Regelmäßig besteht aber auch hier die Möglichkeit, diese durch Geldzahlung abzuwenden (AA 26.2.2020).

Aussagen hinsichtlich einer einheitlichen Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da sich diese durch Willkür auszeichnet. Rechtlich möglich wird dies vorrangig durch unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine uneinheitliche Aufsicht der Justiz über die Gerichte. Auch willkürliche Verhaftungen kommen vor und führen dazu, dass Personen ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht eines Verbrechens unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Bei bestimmten Anklagepunkten – wie z.B. Gefährdung der nationalen Sicherheit – dürfen Angeklagte zudem nur aus einer Liste von zwanzig vom Staat zugelassenen Anwälten auswählen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erheben Gerichte oft Anklage aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat zum Teil unverhältnismäßig hoch, besonders deutlich wird dies bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab-Pflicht (AA 26.2.2020).

Darüber hinaus ist die Strafverfolgungspraxis auch stark von aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen bestimmt. Im August 2018 wurde angesichts der kritischen Wirtschaftslage ein Sondergericht für Wirtschaftsstraftaten eingerichtet, das bislang schon einige Menschen wegen Korruption zum Tode verurteilt hat (AA 12.1.2019).

Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen. Bei Vergeltungsstrafen können die Angehörigen der Opfer gegen Zahlung eines Blutgeldes auf den Vollzug der Strafe verzichten. Unter der Präsidentschaft Rohanis hat die Zahl der Aussetzung der hohen Strafen bis hin zur Todesstrafe wegen des Verzichts der Angehörigen auf den Vollzug der Strafe stark zugenommen (AA 26.2.2020).

Rechtsschutz ist oft nur eingeschränkt möglich. Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert. Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird mitunter – insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren – nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen (AA 26.2.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (26.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027998/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_Februar_2020%29%2C_26.02.2020.pdf, Zugriff 20.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457257/4598_1548938794_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-iran-stand-november-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (9.12.2015): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/1115973/4598_1450445204_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-iran-stand-november-2015-09-12-2015.pdf, Zugriff 7.4.2020

- AI – Amnesty International (18.2.2020): Menschenrechte im Iran: 2019 [MDE 13/1829/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2026069.html, Zugriff 14.5.2020

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425078.html, Zugriff 7.4.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 Country Report — Iran, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_IRN.pdf, Zugriff 6.5.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 Country Report — Iran, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Iran.pdf, Zugriff 7.4.2020

- FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025928.html, Zugriff 7.4.2020

- HRC – UN Human Rights Council (28.1.2020): Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Islamic Republic of Iran [A/HRC/43/61], https://undocs.org/en/A/HRC/43/61, Zugriff 8.4.2020

- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022677.html, Zugriff 7.4.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 7.4.2020

- US DOS – US Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026339.html, Zugriff 7.4.2020

4. Sicherheitsbehörden

Diverse Behörden teilen sich die Verantwortung für die innere Sicherheit; etwa das Informationsministerium, die Ordnungskräfte des Innenministeriums, die dem Präsidenten berichten, und die Revolutionsgarden (Sepah-e Pasdaran-e Enghelab-e Islami - IRGC), welche direkt dem Obersten Führer Khamenei berichten. Die Basij-Kräfte, eine freiwillige paramilitärische Gruppierung mit lokalen Niederlassungen im ganzen Land, sind zum Teil als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug innerhalb der Revolutionsgarden tätig. Basij-Einheiten sind oft bei der Unterdrückung von politischen Oppositionellen oder bei der Einschüchterung von Zivilisten involviert (US DOS 11.3.2020). Organisatorisch sind die Basij den Pasdaran (Revolutionsgarden) unterstellt und ihnen gehören auch Frauen an (AA 26.2.2020). Basijis sind ausschließlich gegenüber dem Obersten Führer loyal und haben oft keinerlei reguläre polizeiliche Ausbildung, die sie mit rechtlichen Grundprinzipien polizeilichen Handelns vertraut gemacht hätten. Basijis haben Stützpunkte u.a. in Schulen und Universitäten, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist. Schätzungen über die Zahl der Basijis gehen weit auseinander und reichen bis zu mehreren Millionen (ÖB Teheran 10.2019).

Die Polizei unterteilt sich in Kriminalpolizei, Polizei für Sicherheit und öffentliche Ordnung (Sittenpolizei), Internetpolizei, Drogenpolizei, Grenzschutzpolizei, Küstenwache, Militärpolizei, Luftfahrtpolizei, eine Polizeispezialtruppe zur Terrorbekämpfung und Verkehrspolizei. Die Polizei hat auch einen eigenen Geheimdienst. Eine Sonderrolle nehmen die Revolutionsgarden ein, deren Auftrag formell der Schutz der Islamischen Revolution ist. Als Parallelarmee zu den regulären Streitkräften durch den Staatsgründer Khomeini aufgebaut, haben sie neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchsetzt und sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Militärisch kommt ihnen eine höhere Bedeutung als dem regulären Militär zu. Sie verfügen über fortschrittlichere Ausrüstung als die reguläre Armee, eigene Gefängnisse und eigene Geheimdienste, die auch mit Inlandsaufgaben betraut sind, sowie engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 26.2.2020). Die Revolutionsgarden sind eng mit der iranischen Wirtschaft verbunden (FH 4.3.2020). Sie betreiben den Imam Khomeini International Airport in der iranischen Hauptstadt und verfügen damit allein durch Start- und Landegebühren über ein äußerst lukratives Geschäft. Auch an den anderen Flug- und Seehäfen im Land kontrollieren die Truppen der IRGC Irans Grenzen. Sie entscheiden, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht. Sie zahlen weder Zoll noch Steuern. Sie verfügen über Land-, See- und Luftstreitkräfte, kontrollieren Irans strategisches Waffenarsenal und werden auf eine Truppenstärke von mehr als 120.000 geschätzt. Außerdem sind die Revolutionswächter ein gigantisches Wirtschaftsunternehmen, das Augenkliniken betreibt, Kraftfahrzeuge, Autobahnen, Eisenbahnstrecken und sogar U-Bahnen baut. Sie sind eng mit der Öl- und Gaswirtschaft des Landes verflochten, bauen Staudämme und sind im Bergbau aktiv (DW 18.2.2016). Khamenei und den Revolutionsgarden gehören rund 80% der iranischen Wirtschaft. Sie besitzen außer den größten Baufirmen auch Fluggesellschaften, Minen, Versicherungen, Banken, Elektrizitätswerke, Telekommunikationsfirmen, Fußballklubs und Hotels. Für die Auslandsaktivitäten gibt das Regime Milliarden aus (Menawatch 10.1.2018). Längst ist aus den Revolutionsgarden ein bedeutender Machtfaktor geworden – gesellschaftlich, wirtschaftlich, militärisch und politisch. Sehr zum Leidwesen von Hassan Rohani. Der Präsident versucht zwar, die Garden und ihre Chefebene in die Schranken zu weisen. Das gelingt ihm jedoch kaum (Tagesspiegel 8.6.2017; vgl. BTI 2020). Die paramilitärischen Einheiten schalten und walten nach wie vor nach Belieben – nicht nur in Iran, sondern in der Region. Es gibt nur wenige Konflikte, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit und versuchen, die islamische Revolution zu exportieren. Ihre Al-Quds-Brigaden sind als Kommandoeinheit speziell für Einsätze im Ausland trainiert (Tagesspiegel 8.6.2017).

Das Ministerium für Information ist als Geheimdienst (Vezarat-e Etela’at) mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst, Technischen Aufklärungsdienst und eine eigene Universität (Imam Ali Universität). Dabei kommt dem Inlandsgeheimdienst die bedeutendste Rolle bei der Bekämpfung der politischen Opposition zu. Der Geheimdienst tritt bei seinen Maßnahmen zur Bekämpfung der politischen Opposition nicht als solcher auf, sondern bedient sich überwiegend der Sicherheitskräfte und der Justiz (AA 26.2.2020).

Das reguläre Militär (Artesh) erfüllt im Wesentlichen Aufgaben der Landesverteidigung und Gebäudesicherung. Neben dem „Hohen Rat für den Cyberspace“ beschäftigt sich die iranische Cyberpolizei mit Internetkriminalität mit Fokus auf Wirtschaftskriminalität, Betrugsfällen und Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonst

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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