TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/27 L529 2231572-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.11.2020
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Entscheidungsdatum

27.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


L529 2231572-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.04.2020, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrenshergang

I.1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet und nach erfolgter Zurückschiebung durch die deutschen Behörden am 25.03.2019 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung am selbigen Tag brachte der BF vor, dass er die Türkei verlassen habe, weil er die Schule abgebrochen habe. In der Schule sei er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe benachteiligt worden. Danach habe er in einem Textilladen gearbeitet, dort aber zu wenig verdient, um davon leben zu können. Sollte der BF in die Türkei zurückkehren, befürchte er, von der Polizei verhaftet zu werden, da er vor 5 – 6 Monaten einen Streit mit anderen Türken gehabt habe; bei diesem sei allerdings nichts Schlimmes geschehen. Zudem lebe ein Onkel des BF in Deutschland.

Zur Fluchtroute führte der BF aus, dass er seine Heimat vor 10 Tagen verlassen habe. Er sei in Istanbul in einen LKW eingestiegen und anschließend mit 4 weiteren Personen 6 Tage auf dessen Ladefläche gewesen. Danach sei er in Italien ausgestiegen und von Padova mit dem Zug nach Mailand und anschließend weiter nach Verona gefahren. Von Verona sei er mit dem Taxi nach Meran und von dort mit einem anderen Taxi Richtung Deutschland weitergefahren. In Deutschland seien sie von der Polizei aufgegriffen und nach Österreich zurückgeschoben worden.

I.2. Am 24.04.2019 wurde das Asylverfahren des Beschwerdeführers gemäß § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG eingestellt und ein Festnahmeauftrag erlassen, da der Aufenthaltsort des BF unbekannt war und eine Fortführung des Verfahrens ohne die weitere Einvernahme des BF nicht möglich war.

I.3. Am 13.06.2019 stellte der BF in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz; der BF wurde allerdings gem. der Dublin Verordnung am 08.01.2020 nach Österreich rücküberstellt und das Verfahren des Beschwerdeführers am selben Tag in Österreich zugelassen.

I.4. Bei der Einvernahme am 08.01.2020 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass in der Türkei über ihn eine Haftstrafe verhängt worden sei, da er wegen einer Strafsache verurteilt worden sei, an der er nicht beteiligt gewesen sei. Konkret sei es so gewesen, dass es einen Streit mit Messern auf einem Basar in Istanbul gegeben habe, an dem der BF vorbeigegangen sei. Nachdem die Polizei die Videokameras ausgewertet habe, habe sie ihn mitgenommen. Im Zuge der Verhandlung habe der BF dann erfahren, dass es um einen Streit ginge, er selbst sei jedoch nur vorbeigegangen. Der Beschwerdeführer sei dann unschuldig zu 12 Jahren Haft verurteilt worden, eine Berufung sei abgelehnt worden. Den Grund seiner Verurteilung wisse der Beschwerdeführer selbst nicht genau, das Urteil habe ihm sein Rechtsanwalt, ein Verwandter von ihm mitgeteilt. Nach dem Urteil sei der BF geflüchtet, aufgrund des Stresses habe er allerdings seinen Anwalt nicht nach den genauen Gründen der Verurteilung gefragt; der BF vermute aber, dass der Richter überzeugt gewesen sei, dass er, der BF, an der Tat beteiligt gewesen sei. Von den Beteiligten der Gerichtsverhandlung kannte der BF einen namens XXXX , welcher in den Messerstreit verwickelt gewesen sei. Zudem hätten auch zwei Zeugen, welche Verkäufer auf dem Basar gewesen sein sollen, zugunsten des BF ausgesagt und auch zwei der Beteiligten hätten bestätigt, dass der BF nicht an der Tat beteiligt gewesen sei. Sollte der BF zurück in die Türkei müssen, würde er direkt in Haft kommen.

Er habe sich dann in Österreich dem Asylverfahren entzogen, da er hier niemanden habe und Angst bekommen habe und daher nach Deutschland, wo eine Tante von ihm wohne, gehen wollen.

Der Beschwerdeführer sei gesund. Er gehöre der Volksgruppe der Kurden an.

I.5. Der Beschwerdeführer legte das in seinem Strafverfahren gefällte Urteil vor, welches die belangte Behörde übersetzen ließ.

I.5.1. Nach diesem Urteil war der Beschwerdeführer aufgrund eines mit mehreren Personen durchgeführten bewaffneten Überfalls verurteilt worden. Der BF hatte laut den Feststellungen des Urteils (als Gerichtsbeschluss bezeichnet) am 23.12.2017 in Istanbul eines der insgesamt drei Opfer (im Urteil „Beschwerdeführer“ genannt) nach Zigaretten gefragt. Als die drei Opfer es ablehnten, dem BF und seinen Mittätern Zigaretten zu geben, kam es zum Streit zwischen den Opfern und dem BF und den drei anderen Tätern. Im Zuge dieses Streites hatte einer der vier Täter auch ein Messer und hatten die Täter die Opfer in eine Seitengasse gezerrt und sie geschlagen. Zudem hatten sie den Opfern Geld bzw. auch zwei Mobiltelefone weggenommen.

I.5.2. Der Richter des türkischen Gerichts nahm an, dass die vier Täter, wobei drei – unter ihnen auch der BF – als „in die Straftat getriebene Jugendliche“ bezeichnet wurden, gemeinsam gehandelt hatten und daher alle vier die Straftat des „bewaffneten Raubes in den Nachtstunden“ verwirklicht hätten. Aufgrund dieser Straftat wurde der BF daher zu 12 Jahren Haft verurteilt. Das Strafausmaß wurde jedoch aufgrund des „effektiven Bedauerns“ um die Hälfte auf 6 Jahre reduziert und wurde nochmals aufgrund des jugendlichen Alters des BF um ein Drittel auf effektiv 4 Jahre reduziert. Aufgrund sonstiger Milderungsgründe wurde das Strafausmaß abermals um ein Sechstel auf insgesamt 3 Jahre und 4 Monate Haft herabgesenkt, zu dieser Haftstrafe wurde der BF nach dem von ihm vorgelegten Urteil effektiv verurteilt, eine Bewährung wurde nicht gewährt. Zudem wurde der Beschluss gefällt, dass der BF nicht ins Ausland verreisen dürfe. Hinsichtlich eines weiteren Anklagepunktes, nämlich der Freiheitsberaubung, wurde der BF freigesprochen, da das diesbezügliche Verhalten der Täter in dem Straftatbestand des bewaffneten Raubes aufgegangen sei.

I.5.3. Der BF bzw. sein Rechtsbeistand führten im Verfahren vor dem türkischen Gericht zur Verteidigung des BF aus, dass er am Tag des Geschehens mit den drei anderen Tätern zusammen gewesen sei, die drei Opfer habe er zuvor nicht gekannt. Einer der Täter, XXXX , habe ihm gesagt, dass er die Opfer um Zigaretten bitten solle. Der BF habe gedacht, dass XXXX die Opfer kenne und da dieser nervös gewirkt habe, habe er geglaubt, dass XXXX zur Beruhigung eine Zigarette brauche. Als der BF die Opfer um Zigaretten gefragt habe, hätten diese eine Herausgabe verweigert und dem BF auf Arabisch geantwortet. Da die Täter angenommen hätten, dass die Opfer sie beschimpft hätten, sollen sie die Opfer zu sich gerufen haben, um die Sache zu besprechen. In diesem Moment sei der Onkel des BF gekommen und habe der BF die Gruppe verlassen müssen, um nach Hause zu gehen. Der BF gab an, nicht zu wissen, was danach geschehen sei, ein Messer habe er nicht gesehen und auch nicht, dass den Opfern Geld bzw. Mobiltelefone abgenommen worden wären. Um eine Zigarette zu bitten, sei in der Gemeinschaftskultur des BF normal und habe der BF mit den Anschuldigungen nichts zu tun, außer, dass er um eine Zigarette gebeten habe.

I.5.4. Die vom BF im Rahmen seiner Einvernahme vor der belangten Behörde erwähnten Zeugen, führten laut der übersetzten türkischen Strafentscheidung aus, dass sie einen Streit zwischen zwei Gruppen, einer syrischen und einer türkischen, bemerkt hätten und interveniert hätten. Die Gruppen wären daraufhin weitergezogen. Ein Messer oder, dass jemandem Geld bzw. ein Mobiltelefon abgenommen worden wäre, hätten die beiden Zeugen nicht bemerkt, sie könnten nur bezeugen, dass es einen Streit gegeben habe.

Die Staatsanwaltschaft erhob laut der Urteilsschrift keine Einwände gegen die Zeugenaussagen und verwies auf die Beweislage.

I.5.5. Unter dem Punkt „Beweislage“ werden im Urteil unter anderem die Anklage sowie die davon abweichenden Verteidigungen der Täter angeführt. Zudem werden Festnahme-, Gewahrsam- und Leibesvisitationsprotokolle, Protokolle des Geschehens und der Feststellungen, sowie medizinische Befunde angeführt.

I.5.6. Unter dem Punkt „Beweiswürdigung und Schlussfolgerung“ führte das türkische Gericht aus, dass laut dem medizinischen Befund vom 17.01.2018 bei zwei der Opfer Verletzungen, wie Schwellungen, Hautblutungen, Blutungen und Hautabschürfungen festgestellt wurden. Im Erkennungsprotokoll vom 12.01.2018 wird festgehalten, dass ein Opfer zwei der Täter (nicht den BF) in Bezug auf die Schlägerei und die Drohung durch ein Messer, sowie die Beraubung des Geldes und der Mobiltelefone eindeutig erkannte. Im Videoprotokoll vom 12.01.2018 wird erkannt, dass ein Täter (nicht der BF) ein Opfer geschlagen hat. Bei einer Gegenüberstellung sollen zwei der Opfer den BF als denjenigen erkannt haben, welcher sie nach Zigaretten gefragt haben soll und konnten zwei der Opfer auch einen der Täter identifizieren, welcher das Geld in eine Tasche gesteckt haben soll. Zudem wird im Urteil ausgeführt, dass das Gericht die Aussagen der Täter, sie hätten die Tat nicht begangen als unglaubwürdig einstufte. Auch hätten die jugendlichen Täter nicht als Beteiligte gehandelt, sondern traten sie alle zusammen als Tätergemeinschaft auf, da sie sich am Ort des Geschehens befanden und gemeinsam handelten. Die Aussagen der Opfer seien schlüssig gewesen.

I.6. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom BFA mit Bescheid vom 29.04.2020 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde nicht aberkannt.

Begründend führte das BFA aus, dass der BF die Türkei verlassen habe, da er sich einem rechtmäßigen Strafvollzug entziehen wolle. Eine asylrelevante Verfolgung oder Gefährdung habe der BF nicht glaubhaft machen können, da der BF aufgrund einer Straftat rechtmäßig in der Türkei verurteilt worden sei und eine diesbezügliche strafrechtliche Verfolgung im konkreten Fall des BF keine asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK darstellen würde. Die vom BF befürchtete Inhaftierung würde daher nicht aus einem der Konventionsgründe, sondern aufgrund von staatlichen Motiven im Rahmen eines legitimen hoheitlichen Strafanspruches erfolgen.

Eine Rückkehr sei dem BF trotz der bevorstehenden Haftstrafe zumutbar, da der BF eine Straftat begangen habe und er daher die dafür verhängte Haftstrafe zu verbüßen habe. Auch wenn die Haftbedingungen in der Türkei nicht mit dem Standard in Österreich gleichzusetzen seien, sei im Fall des BF kein Umstand hervorgekommen, welcher eine Verletzung des Art. 2 und Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention bedeuten würden. Der BF sei ein gesunder und junger Erwachsener, welcher für die Konsequenzen seines Handelns selbst verantwortlich sei und sich trotz seiner Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung seines unrechten Handelns und der daraus resultierenden Konsequenzen bewusst sein musste. Zudem habe der BF selbst im Falle einer Rückkehr in die Türkei keine besonderen Befürchtungen außer der sofortigen Verhaftung geltend gemacht.

I.7. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der BF die Türkei verlassen musste, da er zu Unrecht verurteilt worden sei. Das Rechtssystem der Türkei sei von Willkür geprägt und sei der BF lediglich Zeuge an einer Auseinandersetzung gewesen und niemals straffällig geworden. Außerdem gehöre der BF der Volksgruppe der Kurden an und sei daher immer diskriminiert worden. Vermutlich sei auch der BF aufgrund dieser Diskriminierung zu Unrecht verurteilt worden.

Die Behörde habe wichtige Ermittlungsschritte unterlassen, indem sie den Sachverhalt zu ungenau ermittelt habe. So habe es die Behörde auch unterlassen, den BF detaillierter zu befragen und habe die Behörde keine umfangreichen Ermittlungen zur Situation der Kurden in der Türkei allgemein und bezüglich des BF im Speziellen angestellt. So seien auch keine Ermittlungen im Dorf angestellt worden, um den BF zu entlasten.

I.8. Der Verwaltungsakt langte am 04.06.2020 bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde Beweis erhoben.


II.1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Der Beschwerdeführer

Der BF ist türkischer Staatsangehöriger, ist muslimischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Die Identität des BF steht nicht fest.

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Unionsgebiet ein und reiste in weiterer Folge von Italien bis nach Deutschland, von wo er nach Österreich zurückgeschoben wurde und folglich in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Nachdem das Verfahren nach der Erstbefragung aufgrund des unbekannten Aufenthaltes des BF, welcher nach Deutschland gereist war, eingestellt wurde, wurde der BF am 08.01.2020 von Deutschland rücküberstellt und das Verfahren des BF in Österreich fortgesetzt.

Familienangehörige sind nach wie vor im Heimatland des BF aufhältig und der BF steht in regelmäßigem Kontakt zu ihnen. Bis zu seiner Ausreise lebte der BF gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in Istanbul. Der BF besuchte in der Türkei die Schule und war zuletzt Schüler eines Gymnasiums; in den Ferien arbeitete der BF in einem Textilgeschäft.

Der BF hat in Österreich keine Verwandten und lebt auch sonst mit keiner nahestehenden Person zusammen, in Deutschland würden nach Angaben des BF Verwandte leben.

Der BF bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Er ist kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation und er hat bislang keine Deutschprüfung absolviert.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

In Österreich hält sich der BF seit dem 08.01.2020 durchgehend auf, zuvor war der BF laut eigenen Angaben bis zu seinem Untertauchen und der Abreise nach Deutschland nur ca. 2 Tage lang in Österreich.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei

II.1.2.1. Das Bundesamt räumte dem BF die Möglichkeit ein, eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderfeststellungen betreffend der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei abzugeben. Der BF verzichtete auf die Ausfolgung der Länderinformationen und auf die Abgabe einer Stellungnahme.

II.1.2.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei schließt sich das ho. Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen des BFA an; es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:

Rechtsschutz/Justizwesen

Letzte Änderung am 6.4.2020

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).

Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter und Maßnahmen, die sich direkt auf diese Unabhängigkeit ausgewirkt haben, wie z.B. fristlose Entlassungen und Einstellungen, gibt es Hinweise auf eine zunehmende Parteilichkeit der Justiz gegenüber politischen Interessen, was durch die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde (CoE-CommDH 19.2.2020). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019). Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020).

Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen im Jahr 2019 manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen, betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.4.2020). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018; vgl. ÖB 10.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw %C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_ %28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.11.2019

?        AI – Amnesty International (25.10.2018): Purged beyond return? No remedy for Turkey's dismissed public sector workers [EUR 44/9210/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1448005/1226_1540802893_eur4492102018english .PDF, Zugriff 4.11.2019

?        AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkish court defies higher ruling to uphold verdict in Cumhuriyet retrial, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-courtuphold-convictions-newspaper-cumhuriyet.html, Zugriff 22.11.2019

?        bianet (24.2.2020): Bar Associatons: Turkey Experiencing Most Severe Judicial Crisis in History, https://bianet.org/english/law/220510-bar-associatons-turkey-experiencingmost-severe-judicial-crisis-in-history, Zugriff 27.2.2020

?        CCBE - Council of Bars and Law Societies of Europe (1.9.2019) Situation in Turkey While 2019 Judicial Year Begins, https://arrestedlawyers.org/2019/09/01/situation-inturkey-while-2019-judicial-year-begins/, Zugriff 6.11.2019

?        CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatovi? (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https:// www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-+ +Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 27.2.2020

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 31.10.2019

?        EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 4.11.2019

?        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025957.html, Zugriff 6.4.2020

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?        PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-N.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 7.11.2019

?        ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 6.11.2019

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html, Zugriff 6.4.2020

Haftbedingungen

Letzte Änderung am 6.4.2020

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Kritik an den Haftbedingungen gibt es vor allem hinsichtlich der Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem „Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter“ besucht. Zu den unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten zählen, insbesondere bedingt durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, die Überbelegung und die damit zusammenhängenden Probleme: unzulängliche Umsetzung der Bestimmungen über Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkungen des Briefverkehrs, nicht durchwegs ausreichende Gesundheitsversorgung etc. Die 353 Gefängnisse in der Türkei verfügen über eine Gesamtkapazität von 218.950 Plätzen. Die Zahl der Insassen betrug im Dezember 2018 260.000, dürfte aber seither noch mehr angestiegen sein (ÖB 10.2019). Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (Nov. 2018: 118%; Nov. 2016: 104%). Diese landesweiten Durchschnittszahlen täuschen darüber hinweg, dass einzelne Gefängnisse deutlich stärker, bis zu 200%, überbelegt sind (AA 14.6.2019). Beispielsweise befanden sich in der Haftanstalt in Izmir laut Justizministerium durchschnittlich 18 Personen in einer Zelle, wobei einige auf dem Boden schlafen mussten, und sich 23 Häftlinge eine Toilette teilen mussten (Duvar 25.10.2019). Die Regierung bemüht sich jedoch mit ersten Erfolgen um Entlastung, indem die Kapazität der Haftanstalten gesteigert und Häftlinge in weniger belegte Gefängnisse verlegt werden (AA 14.6.2019).

Mit Stand Dezember 2018 befanden sich 57.000 Personen ohne Anklageerhebung in Haft bzw. in Untersuchungshaft, d.h. über 20% der Gesamtzahl der Gefängnisbevölkerung. Ebenfalls mehr als ein Fünftel aller Gefängnisinsassen, das sind rund 45.000 von mehr als einer viertel Million, befindet sich wegen terroristischer Anschuldigungen in Haft (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Bestimmungen über die Einzelhaft für Personen, die zu einer lebenslänglichen Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden, sind nach wie vor in Kraft. Derartige Haftbedingungen dürfen nur über einen möglichst kurzen Zeitraum hinweg angeordnet werden, wobei eine individuelle Risikobewertung in Bezug auf den jeweiligen Häftling vorzunehmen ist (ÖB 10.2019).

Gegenwärtig befinden sich über 740 Kinder im Alter von sechs oder weniger Jahren mit ihren Müttern in Haft (DW 23.6.2019; vgl. EC 29.5.2019). Das türkische Strafgesetzbuch sieht unterdessen vor, dass Haftstrafen für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden. Diese Regel gilt jedoch nicht, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).

In den Gefängnissen gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen (EC 29.5.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Laut der Statistik des Justizministeriums aus dem Jahr 2018 leitete die Regierung 2.196 Untersuchungen im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen ein. Davon führten 1.035 zu keiner Verfolgung, 766 zu Strafverfahren und 395 zu anderen Entscheidungen. Die Regierung gab keine Daten über ihre Untersuchungen zu angeblichen Folterungen heraus (USDOS 11.3.2020). In Gesuchen, die 2018 aus Gefängnissen an die türkische Menschenrechtsvereinigung ?HD geschickt wurden, gaben 1.149 Personen an, dass sie in verschiedenen Gefängnissen Folter und Misshandlung ausgesetzt waren (?HD 19.4.2019).

Laut Berichten wird kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt. Im Jahr 2018 gingen bei der Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten 877 Beschwerden über Folter und Misshandlung ein. Bis Dezember 2018 wurden rechtliche und administrative Maßnahmen gegen 543 Mitarbeiter ergriffen. Die Gefängnisaufsichtsbehörden bleiben jedoch weitgehend ineffizient. Besorgniserregend ist auch der mangelnde Zugang zivil-gesellschaftlicher Organisationen zu den Gefängnissen. Da der nationale Präventionsmechanismus nicht voll funktionsfähig ist, gibt es keine Kontrollaufsicht hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen (EC 29.5.2019).


Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw %C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_ %28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 28.10.2019

?        Duvar (25.10.2019): Justice Ministry: 23 people can share the same toilet in prison cell, https://www.duvarenglish.com/human-rights/2019/10/25/justice-ministry-23people-can-share-the-same-toilet-in-prison-cell/, Zugriff 28.10.2019

?        DW – Deutsche Welle (23.6.2019): Turkey: Babies behind bars, https://www.dw.com/ en/turkey-babies-behind-bars/a-49320769, Zugriff 28.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 28.10.2019

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html, Zugriff 14.2.2020

?        IHD- ?nsan Haklari Derne??/ Human Rights Association (19.4.2019): ?HD 2018 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-IHD-Violations-Report.pdf, Zugriff 28.10.2019

?        ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 28.10.2019

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html, Zugriff 6.4.2020

Kurden

Letzte Änderung am 6.4.2020

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die Westtürkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südosttürkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst eine kurdische Mittelschicht in städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 9.10.2018).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 11.3.2020). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte 2018 ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 29.5.2019).

[für weiterführende Informationen siehe Kapitel 3 „Sicherheitslage“]

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 11.3.2020).

Der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen hält durch Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten an (EC 29.5.2019). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über die Entlassung kurdischer Wissenschaftler und Dozenten, die teilweise unter Terrorismus-Verdacht stehen, und gegen die entsprechende Untersuchungen laufen. Weiters kam es zur Schließung kurdischsprachiger NGOs und Institutionen. Der Druck auf kurdische Medien besteht weiterhin und kurdische Bücher wurden verboten. Im Südosten wurden mehrere Gedenk- und Literaturdenkmäler kurdischer Persönlichkeiten sowie Veranstaltungen und zweisprachige Straßenschilder von durch die Regierung ernannte Treuhändern und Behörden entfernt. Andere Vereine, kurdischsprachige Medien und Kulturinstitutionen blieben geschlossen (EC 29.5.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 14.6.2019).

Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der WestTürkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert, identifizieren sich mit der türkischen Nation und leben ihr Leben auf normale Weise.

Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen (DFAT 9.10.2018).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 14.6.2019). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten (USDOS 11.3.2020).

Die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP drangsaliert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen Erdo?an den HDP-Kandidaten Demirta? bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018).

[siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw %C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_ %28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 13.11.2019

?        AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey's climate of fear [EUR 44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1226_1524726749_eur4482002018english .PDF, Zugriff 15.11.2019

?        DFAT – Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (9.10.2018): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019375/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 13.11.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 13.11.2019

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html, Zugriff 13.2.2020

?        MEE - Middle East Eye ( 25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes – but don’t write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkeyelection-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051, Zugriff 13.11.2019

?        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey – Early Presidential and Parliamentary Elections – 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671? download=true, Zugriff 13.11.2019 ?

?        USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html, Zugriff 6.4.2020

II.1.3. Behauptete Ausreisegründe aus dem bzw. Rückkehrhindernisse in den Herkunftsstaat

Der BF wurde in der Türkei wegen des Delikts des bewaffneten Raubes in den Nachtstunden durch mehr als eine Person zu einer unbedingten Haftstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten rechtskräftig verurteilt. Es konnten keine Hinweise gefunden werden, dass das Verfahren nicht den Voraussetzungen eines „fair trials“ im Sinne des Art. 8 EMRK entsprochen hätte.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF im Heimatland eine begründete Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wäre.

Festgestellt wird, dass der BF die Türkei verlassen hat, um sich einer in einem rechtmäßigen Strafverfahren über ihn verhängten Haftstrafe zu entziehen.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in die Türkei zum Entscheidungszeitpunkt trotz der voraussichtlich zu verbüßenden Haftstrafe zumutbar.

II. 2. Beweiswürdigung

II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch Einsicht in den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt (§ 37 AVG) ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

II.2.2. Die Feststellungen zur Herkunftsregion des BF, seiner Volksgruppe, zu den familiären und privaten Verhältnissen im Herkunftsland und in Österreich sowie zum Gesundheitszustand des BF gründen sich auf die in diesen Punkten widerspruchsfreien und glaubhaften Angaben. Auch gab der BF an, versucht zu haben, über sein Handy die deutsche Sprache zu lernen, dass er eine Deutschprüfung abgelegt hatte, führte der BF jedoch nicht aus. Bezüglich der Feststellung, dass die Identität des BF nicht feststeht, ist auszuführen, dass aufgrund der Angaben des BF und des von ihm vorgelegten Gerichtsurteils seine Angaben bezüglich seiner Identität zwar glaubhaft sind, es der BF jedoch unterließ ein Identitätsdokument vorzulegen, welches die Identität zweifelsfrei feststellen könnte. Die Feststellung, dass der BF in Österreich strafrechtlich unbescholten ist, ergibt sich aus der Einsicht in die Strafregisterauskunft.

Die Feststellung, dass nach den Angaben des BF Verwandte von ihm in Deutschland leben würden, ergibt sich aus den Angaben des BF. Es ist glaubhaft, dass der BF einen Verwandten in Deutschland hat, da er offensichtlich nach Deutschland reisen wollte und diesen Wunsch auch weiterverfolgte, obwohl er bereits in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.

Die Feststellungen zu den Reisebewegungen des BF ergeben sich aus dessen Angaben (insbesondere im Rahmen der Erstbefragung [AS 55]) und den korrespondierenden Dokumenten im Akt (vgl. insbes. AS 3, 117, 119, 169 ff).

II.2.3. Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen – sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges – handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Die getroffenen Feststellungen ergeben sich daher im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu.

In Bezug auf die existierende Quellenlage wurden zusammenfassende Feststellungen von der Staatendokumentation, welche ex lege zur Objektivität verpflichtet ist und deren Tätigkeit der Beobachtung eines unabhängigen Beirates unterliegt, getroffen, welchen sich das ho. Gericht im beschriebenen Rahmen anschließt.

Auch ist auszuführen, dass die dem BF zur Kenntnis gebrachten länderspezifischen Feststellungen zum Herkunftsstaat zwar nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben (können), jedoch als so umfassend qualifiziert werden, dass der Sachverhalt bezüglich der individuellen Situation des Beschwerdeführers in Verbindung mit der Beleuchtung der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat als geklärt angesehen werden kann, weshalb gemäß hg. Ansicht nicht von einer weiteren Ermittlungspflicht, die das Verfahren und damit gleichzeitig auch die ungewisse Situation des Beschwerdeführers unverhältnismäßig und grundlos prolongieren würde, ausgegangen werden kann. (dazu auch Hengstschläger-Leeb, Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, RZ 65 zu § 52 AVG). Zudem widersprach der BF nicht substantiiert den Länderberichten. Dem Vorbringen in der Beschwerde, dass die von der belangten Behörde vorgelegten Länderinformationen veraltet und unvollständig seien, muss entgegengetreten werden, zumal der gegenständliche Bescheid am 29.04.2020 erlassen wurde und die von der Behörde herangezogenen Länderinformationen zum Teil im April 2020 zuletzt geändert wurden und somit eindeutig aktuell sind.

II.2.4. In Bezug auf den weiteren festgestellten Sachverhalt ist anzuführen, dass der objektive Aussagekern der von der belangten Behörde vorgenommenen freien Beweiswürdigung (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, § 45 AVG, E 50, Seite 305) im hier dargestellten Rahmen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze im Wesentlichen in sich schlüssig und stimmig ist und stellen die nachfolgenden Erwägungen des ho. Gerichts lediglich Konkretisierungen und Abrundungen hierzu dar.

Das Vorbringen des BF zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates und zu seiner Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat beruht auf seinen Angaben in der Erstbefragung, in der Einvernahme vor dem BFA sowie auf den Ausführungen in der Beschwerde.

Die Feststellung, dass der BF in der Türkei rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist, ergibt sich aus seinen diesbezüglichen Angaben und dem von ihm vorgelegten Gerichtsurteil. Im Gegensatz zu den Angaben des BF, wonach er zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei, ist allerdings auszuführen, dass der BF zwar grundsätzlich zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde, dieses Strafausmaß jedoch aufgrund mehrerer Umstände wie des Alters des BF und diverser „Milderungsgründe“ auf insgesamt 3 Jahre u

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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