TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/15 W189 2235700-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.12.2020
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Entscheidungsdatum

15.12.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §53 Abs3 Z5

Spruch


W189 2235700-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. Nadja LORENZ, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass das Einreiseverbot mit sieben Jahren befristet wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste zusammen mit seiner Familie am XXXX in das Bundesgebiet ein (Akt I, AS 1).

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem Asylerstreckungsantrag vom XXXX stattgegeben und dem BF gem. § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass dem BF kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (Akt I, AS 29).

3. Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach den § 83 Abs. 1 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt (Akt II, AS 85 ff).

4. Mit Urteil des deutschen Amtsgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen Diebstahls nach § 242 Abs. 1 deutsches StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagsätzen zu je EUR 10,- verurteilt.

5. Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1 FPG zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Weiters wurde die vom LG XXXX ausgesprochene Probezeit auf fünf Jahre verlängert (Akt II, AS 81 ff).

6. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagsätzen zu je EUR 4,- verurteilt (Akt II, AS 97 ff).

7. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Weiters wurde die vom LG XXXX ausgesprochene Probezeit auf fünf Jahre verlängert (Akt II, AS 71 ff).

8. Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 dritter Fall sowie wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Weiters wurden die bedingten Strafnachsichten des LG XXXX , des LG XXXX und des BG XXXX widerrufen (Akt II, AS 107 ff).

9. Am XXXX wurde der BF unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren und Anordnung der Bewährungshilfe bedingt aus der Strafhaft entlassen.

10. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Weiters wurde die Probezeit der bedingten Entlassung durch das LG für Strafsachen XXXX auf fünf Jahre verlängert (Akt II, AS 65 ff).

11. Mit Schreiben vom XXXX informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) den BF über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens (Akt II, AS 139).

12. Am XXXX wurde der Vater des BF als Zeuge durch das BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab dieser im Wesentlichen an, dass er vier Brüder in Russland habe, mit denen er in Kontakt stehe. Befragt, wie es ihnen ginge, antwortete er mit „Sie leben.“. Der BF könne in der Heimat nicht leben, da er dort niemanden kenne und keine Unterkunft habe, zudem „vielleicht wegen Kriminalität oder so“ beschuldigt werde. Der BF könne nicht bei seinen Onkeln leben, da diese eigene Familien hätten. Der BF dürfe nicht nach Russland, da er dort verhaftet werden und verschwinden könnte (Akt II, AS 225 ff).

13. Am selben Tag wurde der BF durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

Dabei gab er zu seiner Person im Wesentlichen an, dass er Tschetschenisch, Russisch, Türkisch und Deutsch spreche. Er sei gesund, habe aber Hepatitis C, nehme jedoch keine Medikamente. Er habe keine Arbeit, sei aber arbeitsfähig. Er sei in XXXX geboren und habe dort, unterbrochen durch die Kriege, die Schule besucht. Der BF sei geschieden und habe zwei Kinder. Sein Sohn lebe in XXXX , seine Tochter in XXXX . Es bestehe mit der Tochter kein gemeinsamer Haushalt, aber sie sei am Wochenende bei ihm. Der BF habe keine Angehörigen in Russland. Er habe weder Onkeln noch Tanten. Mit der Aussage seines Vaters konfrontiert, erklärte der BF, keinen Kontakt zu diesen zu haben.

Im Falle einer Rückkehr befürchte der BF, „für nichts“ verurteilt zu werden. Dies sei das Minimum, was passieren könne. Wenn „sie“ erfahren würden, dass er in einem Therapieprogramm sei und Medikamente bekomme, würde er verschwinden. Er würde für einen Drogensüchtigen gehalten werden. Außerdem befürchte der BF, wegen seines Vaters entführt und erpresst zu werden, damit dieser zurückkehre. Der Vater des BF habe gegen das Regime gekämpft, Genaueres wisse er nicht. Auf Vorhalt, dass Unterstützer der Widerstandeskämpfer amnestiert worden seien, gab der BF an, dass dies nur Gerede sei. Das wisse er aus dem Internet und dem Radio. Der BF kenne zwei Personen, die von Österreich nach Russland gekommen seien und lange eingesperrt worden seien, obwohl sie nichts gemacht hätten. Es gebe Videos von Folterungen.

Zu seinen Lebensverhältnissen im Bundesgebiet befragt, gab der BF im Wesentlichen an, sein Kind und seinen Vater hier zu haben. Seinen Vater sehe er einmal pro Monat, da dieser in einer anderen Stadt wohne. Der BF lebe vom Arbeitslosengeld. Er sei nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Er habe wegen seiner Straftaten einen Fehler begangen. Er habe Leute kennen gelernt, die mit Drogen zu tun gehabt hätten. Nach seiner Haft habe der BF ein normales Leben begonnen und angefangen zu arbeiten (Akt II, AS 233 ff).

14. Am selben Tag übermittelte der BF eine Bestätigung der XXXX , dass er sich in regelmäßiger Substitutionsbehandlung befinde (Akt II, AS 211).

15. Am XXXX übermittelte der BF eine schriftliche Stellungnahme, wonach er in seiner Jugendzeit einen falschen Freundeskreis gehabt habe und dadurch in diese schwierige Situation gelangt sei. Er bereue dies und sei nun bei der Suchthilfe angemeldet und nehme täglich Medikamente. In Russland würden Menschen, die Suchthilfe benötigen, verfolgt und getötet werden. 90% der Abgeschobenen würden getötet oder lebenslang eingesperrt werden. Der BF habe den Ruf, ein Gegner von XXXX zu sein, bloß, weil er ein Meeting in XXXX besucht habe und die Flagge in der Hand gehalten habe. Weiters übermittelte der BF eine weitere Bestätigung der XXXX mit der Ergänzung, dass er im Zuge dessen täglich Medikamente einnehme, sowie einen ambulanten Abschlussbericht des XXXX vom XXXX , wonach der BF die vom LG für Strafsachen XXXX angeordnete Therapie positiv abgeschlossen habe (Akt II, AS 213 ff).

16. Am XXXX übermittelte der BF ein weiteres Schreiben der Suchthilfe Wien, wonach der BF aufgrund der derzeitigen Situation an einer akuten Belastungsreaktion leide. Weiters leide der BF an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Folgezuständen der Virushepatitis, generalisierter Angststörung, chronischer Virushepatitis C und Abhängigkeit von Opioiden bei derzeitiger Substitutionsbehandlung (Akt II, AS 223).

17. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem BF der Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.) und gem. § 53 Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den BF erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sich die Lage im Herkunftsstaat des BF seit Zuerkennung des Status maßgeblich und nachhaltig geändert habe, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen sei. Eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei nicht gegeben. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens nicht entgegen. Angesichts der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Russland. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien. Da der BF vorbestraft sei, sei zudem die Verhängung eines Einreiseverbotes geboten gewesen (Akt II, AS 251 ff).

18. Am XXXX legte der BF eine Stellungnahme seines Bewährungshelfers vor, wonach dieser nur Gutes über den BF berichten könne (Akt II, AS 381).

19. Mit Schriftsatz vom XXXX brachte der BF durch seine Rechtsvertreterin fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein und monierte nach Wiederholung des Sachverhaltes und Verfahrensgangs im Wesentlichen, dass die belangte Behörde sich nicht mit dem Vorbringen des BF und der Frage einer Veränderung der Lage im Herkunftsstaat auseinandergesetzt habe. Dem BF drohe aufgrund der Assoziation mit seinem Vater Verfolgung. Der BF habe in der Vergangenheit mehrmals an Demonstrationen gegen das XXXX teilgenommen. Zum Gesundheitszustand des BF habe die belangte Behörde lediglich erhoben, dass es ein Drogenersatzprogramm gebe und Hepatitis C in Russland behandelbar sei. Hinsichtlich des erlassenen Einreiseverbotes habe die belangte Behörde keine ordnungsgemäße Gefährdungsprognose vorgenommen, da sich der BF seit seiner letzten Verurteilung wohlverhalten habe. Schließlich würden die privaten und familiären Interessen des BF die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen, da dieser bereits langjährig in Österreich aufhältig sei, Freundschaften pflege, sporadisch erwerbstätig gewesen sei, er eine sehr enge Beziehung zu seiner Tochter habe und er von seiner Familie, auch finanziell, unterstützt werde. Mitsamt der Beschwerde vorgelegt wurden – neben den bereits eingebrachten Unterlagen – ein Lebenslauf des BF, ein Diplom über eine bestandene Deutschprüfung auf dem Niveau A2 vom XXXX eine weitere schriftliche Stellungnahme, sowie ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und Fotos des BF. Beantragt wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (Akt II, AS 393 ff).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1 Zur Person des BF

1.1.1. Der BF ist russischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen sowie der Religionsgemeinschaft der Muslime an. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Tschetschenisch, Russisch und Türkisch.

Der BF wurde in XXXX , Republik Tschetschenien, geboren und ist dort aufgewachsen, bis er am XXXX mit seinen Eltern und Geschwistern in das österreichische Bundesgebiet einreiste. Seither ist der BF in Österreich aufhältig. Er hat in seiner Heimat XXXX Jahre die Grundschule besucht.

Vier Onkel des BF leben in der Russischen Föderation und unterliegen keiner staatlichen Bedrohung. Der Vater des BF hat zu diesen Kontakt.

Der BF ist geschieden und hat zwei Kinder. Sein Sohn lebt in XXXX , seine XXXX -jährige, asylberechtigte Tochter mit XXXX Staatsangehörigkeit lebt bei deren Mutter in XXXX . Der BF hat zuletzt im XXXX , kurz nach ihrer Geburt, mit seiner Tochter im gemeinsamen Haushalt gelebt. Der BF hat keinen persönlichen Kontakt zu seinem Sohn. Der BF hat wöchentlichen Kontakt zu seiner Tochter. Der BF wohnt alleine und hat monatlichen Kontakt zu seinen Eltern. Darüber hinaus steht der BF in Kontakt zu seinen volljährigen Geschwistern. Der BF war in Haft von XXXX bis XXXX als XXXX tätig und ist abgesehen davon in Österreich nie einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgegangen und bezieht aktuell Notstandshilfe. Er ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Er hat wenige Freunde. Er spricht auf elementarem Niveau Deutsch.

Der BF leidet an einer akuten Belastungsreaktion, einer posttraumatischen Belastungsstörung, Folgezuständen der Virushepatitis, generalisierter Angststörung und chronischer Virushepatitis C. Er ist von Opioiden abhängig und befindet sich in einer Substitutionstherapie.

1.1.2.1. Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach den § 83 Abs. 1 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.

1.1.2.2. Mit Urteil des deutschen Amtsgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen Diebstahls nach § 242 Abs. 1 deutsches StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagsätzen zu je EUR 10,- verurteilt.

1.1.2.3. Mit Urteil des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1 FPG zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Weiters wurde die vom LG XXXX ausgesprochene Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

1.1.2.4. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagsätzen zu je EUR 4,- verurteilt.

1.1.2.5. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Weiters wurde die vom LG XXXX ausgesprochene Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

1.1.2.6. Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 dritter Fall sowie wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Weiters wurden die bedingten Strafnachsichten des LG XXXX , des LG XXXX und des BG XXXX widerrufen.

Als Sachverhalt wurde im Wesentlichen festgestellt, dass der BF sich mit dem späteren Mittäter am Bahnhof in XXXX traf und diese beschlossen, nach XXXX zu fahren, wo sie infolge am Hauptbahnhof ankamen. Aufgrund ihrer angespannten Einkommens- und Vermögenssituation beschlossen sie, sich Geld oder Suchtgift durch einen Raub zu beschaffen. Ihnen kam zufällig das spätere Opfer entgegen. In Umsetzung des Tatplans näherte sich der Mittäter dem Opfer und forderte es auf, herzukommen. Das Opfer dachte nichts Böses und begab sich zum BF und dem Mittäter. Der Mittäter forderte sodann das Opfer lautstark zur Herausgabe von Bargeld auf. Das Opfer erwiderte – wahrheitswidrig – über kein Geld zu verfügen. Der BF begab sich dann zum Opfer und versuchte, diesem dessen Geldbörse zu entwenden. Das Opfer konnte diesen Angriff verhindern, indem er die Hand des BF mit seiner rechten Hand abblocken konnte. Daraufhin begann der Mittäter dem Opfer massive Faustschläge gegen dessen Gesicht zu versetzen. Dadurch benommen stürzte das Opfer zu Boden und blieb kniend am Boden. Das Opfer konnte ein Bein des Mittäters mit seinen Händen erfassen und sich daran festhalten. In der Folge versetzte der BF dem Opfer Fußtritte und ebenso Faustschläge gegen Oberkörper und Gesicht. Im Anschluss daran und aufgrund keiner weiteren Gegenwehr des durch die Schläge massiv beeinträchtigten Opfers zog der BF in der Folge die Geldtasche des Opfers aus dessen Hosentasche. Dem Opfer gelang es sodann, eine neben ihm liegende Holzlatte zu erfassen und diese gegen den BF und den Mittäter zu richten, woraufhin diese die Flucht ergriffen. Beide konnten kurz darauf von der Polizei festgenommen werden.

Der BF wurde insbesondere schuldig gesprochen, er hat zusammen mit einem Mittäter im bewussten und gewollten Zusammenwirken als unmittelbarer Täter mit Gewalt gegen eine Person einem anderen eine fremde, bewegliche Sache mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er dem Opfer zahlreiche Faustschläge und Fußtritte gegen das Gesicht und den Körper versetzte und die Geldtasche des Opfers im unbekannten Wert samt darin befindlichen EUR 45,- Bargeld, zwei Wettscheinen sowie zwei Kondomen aus dessen Hosentasche an sich nahm, wobei das Opfer durch diese Gewaltanwendung schwer am Körper verletzt wurde (Orbitabogenfraktur links, mehrfragmentäre Nasenbeinfraktur mit angrenzender Weichteilschwellung, Gehirnerschütterung, Prellung im Schulter- und Ellbogenbereich sowie Schürfwunden an beiden Knien).

Bei der Strafbemessung mildernd gewertet wurde die Sicherstellung der Geldtasche samt Inhalt. Als erschwerend gewertet wurden die Tatbegehung in Gesellschaft, das durch vier einschlägige Vorstrafen bereits schwer belastete Vorleben des BF, das Zusammentreffen eines Verbrechens mit Vergehen sowie der äußerst rasche Rückfall nach der wenige Tage zuvor erfolgten Verurteilung.

Der Widerruf sämtlicher noch offener bedingter Strafnachsichten war in spezialpräventiver Hinsicht erforderlich, da der BF weder bedingte Strafnachsichten noch die Verlängerung der Probezeiten für sich nutzen konnte. Zudem delinquierte der BF nicht nur weiterhin einschlägig, sondern zeigte eine erhöhte kriminelle Energie. Aus Sicht des Strafgerichts sei eindeutig ersichtlich, dass es beim BF, der jedweden Respekt vor dem Rechtsgut des fremden Vermögens und der körperlichen Integrität missen lasse, auch des Vollzugs der ursprünglich bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen bedürfe, um ihn hinkünftig ansatzweise zu normentreuem und sozial adäquatem Verhalten zu bewegen.

1.1.2.7. Am XXXX wurde der BF unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren und Anordnung der Bewährungshilfe bedingt aus der Strafhaft entlassen.

1.1.2.8. Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Weiters wurde die Probezeit der bedingten Entlassung durch das LG für Strafsachen XXXX auf fünf Jahre verlängert.

1.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

Dem BF wurde mit Bescheid XXXX , Zl. XXXX , durch Asylerstreckung gem. § 11 Abs. 1 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der BF leitet den Status des Asylberechtigten von seinem Vater ab, der im zweiten Tschetschenienkrieg Widerstandskämpfer mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidung und Munition unterstützt habe.

1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten

Die Lage im Herkunftsstaat des BF hat sich seit Zuerkennung des Status maßgeblich und nachhaltig geändert. Der BF unterliegt in der Russischen Föderation daher keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

1.4.1. Politische Lage in Tschetschenien

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale

1.4.2. Sicherheitslage in Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus

1.4.3. Rechtsschutz und Justizwesen in Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser)

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.4.4. Sicherheitsbehörden in Tschetschenien

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Quellen:

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.4.5. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).

Quellen:

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien

1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage in Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AFP – Agence France Presse (27.2.2020): Bewaffneter Angreifer attackiert tschetschenischen Exil-Blogger

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtinge (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien

-        Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.4.7. Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Ein anderes Beispiel ist der wohl populärste Kritiker von Kadyrow. Der Blogger lebt in Polen im Exil und wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 tot in einem Hotel gefunden (SZ 4.2.2020). Trotzdem dürften sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung vor allem auch auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen. Zahlreichen Personen, nach denen seitens russischer Behörden gefahndet wird (z.B. Fahndungen via Interpol), werden Delikte gemäß § 208 Z 2 1. (Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Formation) oder gemäß § 208 Z 2 2 (Teilnahme an einer bewaffneten Formation auf dem Gebiet eines anderen Staates, der diese Formation nicht anerkennt, zu Zwecken, die den Interessen der RF widersprechen) des russischen Strafgesetzbuches zur Last gelegt. In der Praxis zielen diese Gesetzesbestimmungen auf Personen ab, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen bzw. auf Personen, die ins Ausland gehen, um aktiv für den sog. Islamischen Staat zu kämpfen (ÖB Moskau 12.7.2017).

Quellen:

-        CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad

-        Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung

-        SZ – Süddeutsche Zeitung (4.2.2020): Angst säen

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        ÖB Moskau (12.7.2017): Information an die Staatendokumentation, Moskau-KA/ENTW/0014/2017, per Email

1.4.8. Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2020).

Quellen:

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.4.9. Grundversorgung im Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei RUB 27.443 [ca. EUR 388] (Chechenstat 2019), landesweit bei RUB 48.453 [ca. EUR 686] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei RUB 12.440 [ca. EUR 176] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei RUB 14.135 [ca. EUR 200] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 10.967 [ca. EUR 155], für Pensionisten bei RUB 8.553 [ca. EUR 121] und für Kinder bei RUB 10.552 [ca. EUR 150] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 11.553 [ca. EUR 163], für Pensionisten bei RUB 8.894 [ca. EUR 126] und für Kinder bei RUB 10.585 [ca. EUR 150] (RIA Nowosti 23.7.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        Chechenstat (2019): ??????????? ?????????? (Amtliche Statistiken)

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat

-        GKS.ru (16.8.2019): ?????????????? ??????????? ??????????? ?????????? ????? (durchschnittliches monatliches Gehalt)

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        RIA Nowosti (23.7.2019): ??????? ????????? ???????? ???????????? ???????? ?? I ??????? 2019 ???? (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet)

1.4.10. Sozialbeihilfen

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds (GIZ 2.2020c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 2.2020c).

Arbeitslosenunterstützung: Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt RUB 850 (EUR 12) und die Maximalhöhe RUB 4.900 (EUR 70). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zweimal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).

Quellen:

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation

1.4.11. Medizinische Versorgung

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 7.2020c; vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu notfallmäßiger medizinischer Versorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Fälle von Diskriminierung auf Grund von Religion oder ethnischer Herkunft bezüglich der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind nicht bekannt (ÖB Moskau 12.2019). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der „Nationalen Projekte“, die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert (GIZ 7.2020c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. StaatsbürgerInnen haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Jede/r russische Staatsbürger/in, egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, ist von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 12.2019). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Diese müssen bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden. An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2018). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 12.2019).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018).

Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 7.2020c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 7.2020c; vgl. AA 13.2.2019). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 12.2019).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Anstalt und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem „zuständigen“ Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem „zuständigen“ Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 12.2019).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 12.2019). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgerinnen mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2018). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann (ÖB Moskau 12.2019). Im Zuge der Lokalisierungspolitik der Russischen Föderation sinkt der Anteil an hochwertigen ausländischen Medikamenten. Es wurde über Fälle von Medikamenten ohne oder mit schädlichen Wirkstoffen berichtet. Als Gegenmaßnahme wurde 2018 ein neues System der Etikettierung eingeführt, sodass nun nachvollzogen werden kann, wo und wie die Arzneimittel hergestellt und bearbeitet wurden. Die Medikamentenversorgung ist zumindest in den Großstädten gewährleistet und teilweise kostenfrei (AA 13.2.2019).

Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Das Hauptproblem ist jedoch weniger die fehlende technische Ausstattung, sondern ein Ärztemangel, obwohl die Zahl der Ärzte 2018 leicht gestiegen ist. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf die klinische Behandlung ausgerichtet ist. Da in den letzten Jahren die Zahl der Krankenhäuser und Ärztezentren abgenommen hat, hat die Regierung darauf reagiert und 2018 beschlossen, dass bis 2024 360 neue medizinische Einrichtungen, darunter 30 onkologische Zentren, gebaut und weitere 1.200 saniert werden sollen. Zusätzlich sollen 800 mobile Einrichtungen eröffnet werden. Parallel zu diesen Beschlüssen wurden jedoch 2018 300 staatliche Krankenhäuser geschlossen. Den größten Fortschritt in der medizinischen Versorgung brachten 2018 die Einführung der Telemedizin und die digitale Erbringung der medizinischen Leistung. Patienten können seit dem 1.4.2018 einen Termin über ihr e-Konto vereinbaren oder einen digitalen Arzt in Anspruch nehmen. Diagnose und Behandlung erfolgen online. Mit der Einführung der Telemedizin haben sich die langen Wartezeiten auf eine Behandlung verkürzt (AA 13.2.2019).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (DIS 1.2015; vgl. AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft

-        GTAI – German Trade and Invest (27.11.20186): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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